Cover

Tatjana Kruse

Bei Zugabe Mord!

Ein rabenschwarzer Pauline-Miller-Krimi

Tatjana Kruse

Bei Zugabe Mord!

»Oh, wie will ich triumphieren,

wenn sie euch zum Richtplatz führen,

und die Hälse schnüren zu, schnüren zu,

und die Hälse schnüren zu!«

Die Entführung aus dem Serail

Die Salzburger Sommerfestspiele präsentieren:

Die Entführung aus dem Serail

(Köchelverzeichnis 384)

Ein Singspiel in drei Aufzügen

von Wolfgang Amadeus Mozart (Komponist)

und Johann Gottlieb Stephanie d. J. (Libretto)

Besetzung:

Konstanze (Koloratursopran) ... Pauline Miller (US/D)

Belmonte (lyrischer Tenor) ... James O’Shay (IR)

Blondchen (Sopran) ... Branwen Lloyd (GB)

Pedrillo (Tenor) ... Mads Staun (DK)

Bassa Selim (Sprechrolle) ... Wolfgang Strasser (D)

Osmin (Buffo-Bass) ... Harry Cho (KR)

Janitscharenchor

Neuinszenierung von Luigi Pescarelli (I)

Musikalische Leitung: Marianne Loiblsberger (A)

Wiener Philharmoniker

Bühne und Kostüme: Gisbert Weiß (A)

Ouvertüre

Eine Schokoholikerin, ein Kastrat und ein Osterhase stellen sich beim Zirkelwirt am Papagenoplatz an die Bar.

Es ist kurz nach 21 Uhr an einem herrlichen Sommerabend. Draußen sind alle Tische besetzt, aber hier im Schankraum ist es – bis auf eine kleine Touristengruppe an einem der Fensterplätze – leer.

»Das Übliche?«, fragt der Barkeeper die Neuankömmlinge.

Die drei nicken. Müde.

Etwas huscht über den Holzboden.

Das Soundsystem beschallt den Wirtsraum mit leiser Musik. Mozart. In der verpoppten Version.

Der Barkeeper stellt eine heiße Schokolade, einen Virgin Sex on the Beach und ein Glas Champagner auf die Theke.

»Eine Bitte«, lispelt der Osterhase. »Ließe sich eventuell die Musik ausschalten? Wenn ich noch einen einzigen Ton Mozart höre, kriege ich einen Schreikrampf …«

In diesem Moment gellt jemand auf.

Laut. Sehr laut. Es ist eine der Touristinnen am Fenster.

»Eine Ratte, oh Gott, ich habe eine Ratte gesehen … da! Und jetzt ist sie tot zusammengebrochen. Großer Gott, da liegt eine tote RATTE!«

Der Osterhase seufzt.

Tatjana Kruse

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© Foto: Jürgen Weller Fotografie, Schwäbisch Hall

Zur Autorin

Tatjana Kruse, geboren 1960 in Schwäbisch Hall, schreibt seit 1996 Krimi-Kurzgeschichten und seit 2000 Kriminalromane. Sie gehört zu den beliebtesten Krimiautorinnen im deutschsprachigen Raum, besonders mit ihrer Serie rund um den stickenden schwäbischen Ex-Kommissar Seifferheld. Zahlreiche Veröffentlichungen, die auch in Fremdsprachen übersetzt wurden. Mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Marlowe-Preis (1996) und dem Nordfälle-Preis (2005), Nominierungen für den Agatha-Christie-Preis und den deutschen Frauenkrimipreis. Bei HAYMONtb: erschien 2014 „Grabt Opa aus!“ Ein rabenschwarzer Alpenkrimi und 2015 der Auftakt zu ihrer Krimi-Trilogie rund um die schillernde Opernsängerin Pauline Miller: „Bei Zugabe Mord. Ein rabenschwarzer Pauline-Miller-Krimi“.

Impressum

© 2015

HAYMON verlag

Innsbruck-Wien

www.haymonverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7099-3650-4

Umschlag- und Buchgestaltung nach Entwürfen von hoeretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol

Umschlag: Eisele Grafik·Design, München, unter Verwendung von: Terrier: iStock.com/JMichl; Fliege: depositphotos.com/elnur_; Hintergrund: depositphotos.com/videodoctor; Maske: depositphotos.com/Krivoruchko

Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig

Diesen Krimi erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.

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Cover: Letzter Applaus

Tollpatsch Alfie erbt eine Pension in Tirol – und wähnt sich in der schönen, aber verschlafenen Touristengegend im Glück. Schön? Ja. Verschlafen? Mitnichten! Schon bald überschlagen sich die Ereignisse im Grenzgebiet zwischen Seefeld und Mittenwald, wo sich Österreicher und Deutsche gute Nacht sagen, und Alfie muss feststellen, dass seine Hausgäste alles andere als harmlos sind … Tatjana Kruse, wie man sie kennt: schräg, schwungvoll, spannend und rabenschwarz.

„Das ist rundum Slapstick-Krimi bester Sorte … Das ist Unterhaltung pur, locker und leicht geschrieben und im Nu mit viel Vergnügen gelesen.“

krimicouch.de, Wolfgang Weninger

Tatjana Kruse

Grabt Opa aus!

Ein rabenschwarzer Alpenkrimi

ISBN 978-3-7099-3561-3

Diesen Alpenkrimi erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.

Dritter Aufzug

Wir lernen, dass des einen Freud des andren Leid ist.

Und dass einem manchmal nur die Wahl zwischen Osterhasenkostüm und Leichensack bleibt ...

Was will die Sopranistin mit dem Hackebeil?

Wie das Phantom der Oper, nur ohne Gesichtsmaske, schleiche ich durch das Große Festspielhaus. Riesig wird mein Schatten an die Wand geworfen.

Dem Portier habe ich gesagt, dass ich meine Sachen aus der Garderobe holen will. Kein Thema, hat er geantwortet.

Ja, ich weiß jetzt, wer der Täter ist, und ich werde ihn eigenhändig überführen.

Dumme Idee, sagen Sie? Woraufhin ich Ihnen antworte: Wenn niemand aus der Zukunft mit seiner Zeitmaschine anreist und plötzlich vor mir steht, um mich davon abzuhalten, es zu tun, wie falsch kann die Entscheidung dann schon sein?

Eben!

Zudem wimmelt es im Festspielhaus vor Überwachungskameras und Menschen, und es gibt keine großen Wannen oder Wassertanks, in denen ich ertränkt werden könnte. Somit bin ich völlig sicher.

Ich plane ja auch keine Jedermann-Festnahme. Was übrigens nicht der Name für eine Festnahme in Salzburg während der Festspielzeit ist, sondern tatsächlich so heißt: Festnahme durch jedermann, also durch ganz normale Bürger und Bürgerinnen, wie ich eine bin. Gut, eigentlich gilt das nur für Verbrecher, die man auf frischer Tat ertappt und bei denen Fluchtgefahr besteht. Aber, wie gesagt, ich plane keine Festnahme.

Ich will dem Mörder einfach nur vor Zeugen an den Kopf werfen, dass – und vor allem wie – ich ihm auf die Schliche gekommen bin, und sein Gesicht im Moment der Erkenntnis, dass alles aus ist, mit der Handykamera festhalten.

Wo ich das Handy schon in der Hand habe, rufe Bröcki an, damit sie Pittertatscher davon in Kenntnis setzt, dass die Auflösung des Falles dank mir kurz bevorsteht. Und dass weder die Loiblsberger noch ich die Mörderinnen sind, sondern …

»Was willst du?« Das ist die typische Begrüßung, die Bröcki offenbar nicht nur mir, sondern auch Yves zuteilwerden lässt, wenn sie am Display sieht, wer sie anruft. Es soll ja Agentinnen mit besseren Umgangsformen geben.

»Ich bin’s«, sage ich, um Missverständnissen vorzubeugen. »Bröcki, wo bist du?«

»Wo ich bin?« Sie zischelt flüsternd, als ob sie nicht will, dass jemand neben ihr mithört. »Ich hab dir doch aufgeschrieben, wo ich bin.«

»Das konnte ich nicht lesen. Du hast so eine Sauklaue.«

»Pressekonferenz wegen Premierenabsage!«

»Wie? Ohne mich?« Schlagartig bin ich wieder Operndiva anstatt Hobby-Miss-Marple. Meine Agentin hat mich zu einem großen Auftritt vor den Linsen der Weltpresse nicht mitgenommen? Meine Nüstern blähen sich.

»Komm runter, wir planen nur im kleinen Kreis, wie wir die Pressekonferenz gestalten wollen. Du kriegst deinen Auftritt schon noch.«

Ich atme wieder aus.

Bröcki kommt in Fahrt. »Ich habe vorgeschlagen, dass es sehr emotional werden soll. Eine Dia-Show mit Bildern der Verstorbenen. Als sie noch lebten. Grußworte ihrer Angehörigen per Live-Schaltung. Ein wenig Geigenmusik. David Garrett soll gerade in Österreich urlauben, den könnte man fragen. Wir werden diese Hardcore-Pressefuzzis dazu bringen, schluchzend den Saal zu verlassen, und …«

»Äh … wie auch immer …«, unterbreche ich sie. »Ich weiß jetzt, wer der Mörder ist. Du musst Pittertatscher anrufen und es ihm sagen. Jetzt! Sofort!«

»Ich? Warum ich? Kommt überhaupt nicht in die Tüte!«

»Wie bitte? Warum nicht? Du willst doch auch, dass der Mörder seiner gerechten Strafe zugeführt wird! Das kann dir doch nicht egal sein!«

»Ich mische mich nicht gern ein. So bin ich eben.«

»Du mischst dich nicht gern ein?« Wie blind für den eigenen Charakter kann man eigentlich sein? »Du bist eine Frau der Tat und keine Duckmaus, die sich nichts traut.«

»Doch, so bin ich. Ohne Traute. Nenn mich meinetwegen Duckmaus. Find dich damit ab, dass ich so bin.« Bröcki wird lauter. Offenbar hat sie den Raum verlassen und kann jetzt so richtig aus sich herausgehen. »Alle sagen immer, sei du selbst, aber dann heulen sie rum, wenn man homosexuell, depressiv, vegan oder neutral wie die Schweiz ist.«

»Bröcki, hast du mir überhaupt zugehört? Ich weiß jetzt, wer der Mörder ist! Ich bin im Festspielhaus und werde ihn gleich überführen. Ein gewissenloser Serienkiller bekommt dank mir, was er verdient, nämlich mehrmals lebenslänglich mit anschließender Sicherheitsverwahrung! Willst du etwa nicht mithelfen? Willst du Teil der Lösung oder Teil des Problems sein?«

»Du spinnst doch. Sind das die Folgen deines Wasserschadens? Geh wieder heim und leg dich hin!«

»Bröcki!«

»Nein!«, bockt sie.

Ich könnte jetzt explodieren, aber das tue ich nicht. Man muss wissen, wie man seine Subalternen motiviert. Nämlich mit kühn erfundenen Thesen, die ihrem Ego schmeicheln und sie – wie eine Möhre, die man dem Esel vors Maul hängt – zum Ausdauereinsatz antreiben. Zudem ahne ich, warum Bröcki sich so untypisch verhält.

Mit meiner einschmeichelndsten Stimme säusle ich: »Bröcki, Liebes, du kannst entweder untervögelt in einer langweiligen, öden Sitzung herumhängen – oder aufs Revier gehen, zu schnuckeligen Männern in Uniform und zu einem hochgewachsenen, dunkellockigen Kommissar mit Grübchen. Was glaubst du, warum der uns ständig auf der Pelle hockt? Sicher nicht wegen mir. Bröcki, da geht was!«

Ich beende die Verbindung.

Wenn das nicht zieht, weiß ich auch nicht.

Noten

Der Mörder ist natürlich – Tusch! – Luigi, der Regisseur.

Weil seiner Meinung nach keiner von uns das wahre Wesen von Mozart verstanden hat. Weil wir Mozart getötet haben. Er will ein Zeichen setzen gegen die Banalisierung des größten Komponisten aller Zeiten. Als Mozart-Rächer, der Superheld der Klassikliebhaber. Womöglich trägt er bei seinen Taten sogar ein Cape. Also gut, ich vergaloppiere mich. Aber Luigi ist der Mörder, so viel steht fest.

Kommen Sie mir jetzt nicht mit dem Argument, dass man deswegen niemanden umbringt. Ich bitte Sie! Wir Künstler nehmen unsere Kunst ernst. Außerdem muss er schwer gestört sein, sonst hätte er ja niemand getötet. Vielleicht wollte sein krankes Hirn keinen von uns ‚Mozartmördern‘ in seiner Inszenierung haben, aber unsere Verträge waren unkündbar, ergo griff er zu handfesteren Mitteln?

Was weiß ich, wie ein Mörder tickt. Ich weiß nur, dass er ein leidenschaftlicher Mann ist und dass er für seine Kunst lebt. Und wie sagte schon Pittertatscher: Wer als Letzter übrig bleibt, muss der Täter sein. Wenn ich es nicht war, war er es. Und ich war es definitiv nicht!

Möglicherweise arbeitet Luigi Hand in Hand mit seinem Lebenspartner Gisbert, der Sänger grundsätzlich hasst. Ihm hat es nicht mehr genügt, uns nur das Leben schwer zu machen, indem er völlig untragbare Kostüme entwirft und Bühnenbilder, die wahre Stolperfallen sind, nein, er will uns auch noch unser Leben nehmen!

Ein diabolisches Mörderpärchen, wie Bonnie und Clyde, nur gleichgeschlechtlich. Ein Killerduo, das dank mir demnächst eine Doppelzelle in der Psychiatrie bekommen wird.

Auf der Panoramabühne ist keiner. Die über zweitausend Plätze gähnen mich leer an.

Während ich da so stehe – und darauf achte, nicht unter einem Sandsack zu stehen und auch nicht auf einer der Bühnenfalltüren! –, fällt mir ein, dass sich Luigi höchstwahrscheinlich gerade in der Pressekonferenzplanungssitzung befindet und den Trauernden mimt. Wobei er natürlich schon echte Trauer empfindet, da bin ich mir sicher – sämtliche Vorstellungen waren ausverkauft. Der Hype war gewaltig, die Nachfrage nach Karten beachtlich. Bestimmt hatte Luigi gehofft, das internationale Publikum zu enthusiamieren und damit den Grundstein für seinen Weltruhm zu legen. Aber dann genügten wir Sänger den Ansprüchen seines kranken Hirnes nicht, und er schlachtete uns sukzessive ab, was ihm ebenfalls Weltruhm bescheren wird, aber in einer ganz anderen Liga.

Na schön, wenn Luigi gerade zu tun hat, überführe ich eben Gisbert zuerst.

»Wissen Sie, wo Herr Weiß ist?«, frage ich den Bühnenarbeiter, der mit seinem Werkzeugkasten die Bühne betritt, um eine der Haremssäulen zu zerlegen, wie es scheint.

»Drüben im Schüttkasten. Bereitet den Kostümabverkauf fürs Wochenende vor.« Er schaut mich neugierig an.

Die Ereignisse der letzten Tage stellen eine Zeitenwende dar – von nun an kann ich nie mehr sicher sein, ob man mich anstarrt, weil ich eine begnadete Stimme besitze oder weil ich das überlebende Opfer eines Serienmörders bin. Der Bühnenarbeiterblick ist diesbezüglich eindeutig – der fragt sich sichtlich, wie lange ich es noch mache und ob er mit seinen Kollegen eine Wette abschließen soll.

»Abverkauf?«, staune ich.

Er nickt nur. Bühnenarbeiter sind notorisch maulfaul.

Festspielhäuser verkaufen nur selten Zubehör, Kostümteile und Stoffe aus ihrem Lager und wenn, dann immer außerhalb der Saison. Ich vermute mal, da diese überaus kostspielige Produktion schon abgesagt werden musste, will man wenigstens für teures Geld einzelne Teile der Produktion an sensationslüsterne Käufer verscherbeln, um die Massen zu beruhigen. Wenn sie schon keine Vorstellung zu sehen bekommen, können sie zumindest mit einem Turban oder einem Bühnendolch nach Hause reisen.

»Schüttkasten, das ist …?«

»Das weiße Haus am Herbert-von-Karajan-Platz, im Untergeschoss vom Kartenbüro.«

»Danke.«

Draußen riecht es nach Pferdeäpfeln. Und ein Rikscha-Radler schrammt nur knapp an mir vorbei, als er einem besonders großen Apfelhaufen ausweichen will. Seine Fuhre – ein junges, afrikanisches Paar in Tracht (der eigenen, nicht der hiesigen) – schießt Fotos von mir.

Radames quengelt. Er ist leergestrullert und will nach Hause. Tja, Pech.

Alltagsszenen, die mir jedoch samt und sonders verdächtig vorkommen. Nichts wirkt mehr harmlos.

Ich gehe schneller.

Ein bisschen ähnelt es einer Kneipp-Kur, wenn man an heißen Sommertagen von einem wohltemperierten Haus ins andere eilt.

Noten

Im Schüttkasten teilt mir eine hilfreiche Seele am Eingang mit: »Wir sind schon fertig, nur Herr Weiß ist noch unten. Er kommt bestimmt jede Sekunde hoch, warten Sie doch hier draußen in der Sonne. Da haben Sie es schöner.«

Mache ich natürlich nicht.

Ich will immer alles. Und zwar gleich. Am besten noch auf einem Silbertablett serviert.

Auf dem Weg nach unten sehe ich das Toilettenschild. Ein kleiner Umweg zum Nasepudern kann nicht schaden, denke ich, setze Radames ins Waschbecken und drehe den Wasserhahn auf, damit er seinen Durst löschen kann, während ich … mich tatsächlich nur kurz nachpudere. Den Blick in den Spiegel halte ich so knapp wie möglich. Die Pusteln sind zwar weg, aber die letzten Tage sind nicht spurlos an mir vorbeigegangen. Dunkle Augenringe, vielleicht sogar die eine oder andere Angstfalte. Wenn das alles hier vorbei ist, muss ich dringend zu Carla, der Kosmetikerin meines Vertrauens in Vancouver.

Ich schnappe mir den Hund und setze meine Suche fort.

»Gisbert?«, rufe ich zwischen Ritterrüstungen, einer Pferdeattrappe, diversen Stoffbahnen und unzähligen Kleiderstangen mit Kostümen.

Ich setze Radames ab, der schnüffelnd in den Untiefen des Souterrainsaales verschwindet. »Gisbert, ich weiß, dass du hier bist! Ich muss mit dir reden.«

Er wird doch wohl nicht in dieser einen Minute, in der ich im Waschraum war, gegangen sein?

Nein, ich höre ein Rascheln. Am anderen Ende, wo ein offenes Regal mit Kopfbedeckungen aller Art steht, an dem die Lanzen lehnen, die eigentlich die Männer des Janitscharenchores auf der Bühne bei sich getragen hätten.

Eine Sekunde lang zögere ich. Es ist unter gar keinen Umständen clever, allein in einem Raum mit einem potenziellen Mörder zu sein. Das hatte ich so auch nicht geplant. Ich nehme mir fest vor, mich ihm nicht auf mehr als zehn Schritte zu nähern. Aber wenn dann auch noch Lanzen Teil der Gleichung werden?

Doch dann fällt mir wieder ein, dass es sich nur um Attrappen handelt, deren spitzes Ende in Wirklichkeit aus Gummi ist.

Dennoch greife ich beherzt zu dem Hackebeil, ebenfalls aus Hartgummi, das neben mir auf einem Tisch zwischen strassbesetzten Fake-Dolchen liegt. Auch Hartgummi kann hilfreich sein! Wer wüsste das besser als eine Single-Frau?

»Gisbert!« Jetzt klinge ich schon ungeduldiger. Das Hackebeil liegt schwer in meiner Hand.

Und plötzlich taucht er auf. Direkt vor mir. Abrupt. Als ob ihn jemand geschubst hätte. Zwischen der Kleiderstange mit den Haremskostümen aus der Entführung und einer Stange mit Tierkostümen, zu denen mir beim besten Willen keine passende Oper einfällt.

»Gisbert?«

Er schaut komisch. Als ob er sich fürchtet. Denkt er vielleicht, ich sei bewaffnet und wolle mich für die Kollegenmorde meinerseits mit einer Bluttat rächen?

Aber sein Blick scheint ständig zur Seite zu huschen, in Richtung der Stange mit den Tierkostümen, als ob er mich auf etwas aufmerksam machen wolle, was sich hinter ihm befindet.

Da fällt mir spontan ein, dass es durchaus Tiere in Opern gibt – die Vögel in der Zauberflöte, die Elefanten und Tiger in Aida, der Schwan in Parsifal, der Drache in Siegfried. Die Gedanken sind frei – und machen, was sie wollen.

Ich reiße mich zusammen. Schließlich bin ich nicht zum Spaß hier. Wie die Blues Brothers bin ich in einem Auftrag unterwegs, wenn auch nicht des Herrn, sondern meiner eigenen Neugier.

»Gisbert«, fange ich an.

Ich komme nicht weit.

Gisbert wird nämlich niedergeschlagen. Es ertönt ein hässlich knackendes Geräusch. Das ist mehr als eine Delle, das muss ein Schädelbasisbruch sein.

Vor Schreck lasse ich mein Hartgummihackebeil fallen.

Radames kommt angelaufen. Mein kleiner Held – in Gefahrensituationen weiß er, dass sein Platz an meiner Seite ist. Auch Handtaschenhunde haben Eier in der Hose! Im übertragenen Sinne, versteht sich. Er kläfft und sieht aus, als wolle er sich todesmutig in die Knöchel des Leibhaftigen verbeißen. Da entdeckt er das Blut, das aus Gisberts Schädel sickert …

... und fällt um. Gleich darauf hört man regelmäßige Schnarchgeräusche. Als unsere Vorfahren vor zehntausend Jahren anfingen, Wölfe zu zähmen, hätten sie mit dem Züchten und Verzüchten aufhören sollen, bevor narkoleptische Miniaturversionen mit Höhenangst sowie Wasser- und Blutphobie dabei herauskamen.

Hinter der Haremskostümstange tritt eine Gestalt hervor. Es ist ...

Trommelwirbel!

... keine Ahnung. Er hat sich das Kostüm von Bassa Selim mitsamt Turban angelegt, den güldenen Zepter in der Hand. Das lange Ende des Turbans trägt er wie einen Mund- und Nasenschutz quer über das Gesicht geschlungen. Man sieht nur die Augen. In denen der Irrsinn flackert.

Ich drehe mich um und will weglaufen, aber da spüre ich schon den Schmerz, der sich von meinem Kopf in rasantem Tempo über meinen ganzen Körper ausbreitet.

Zweifellos hat er mich mit dem Zepter ausgeknockt.

Besinnungslos sacke ich zu Boden.

Die Primadonna im Fleischwolf

Im Schlussstricheziehen bin ich grottenschlecht, aber das ist nicht der Punkt.

Der Punkt ist, dass jetzt Schluss ist.

Dabei hasse ich Schlussszenen. Wenn es nicht schön ist, gehe ich immer lange vor dem Ende. Wie damals im Kino, bei der Chestburster-Szene in Alien, in der besagtes Alien plötzlich aus der Brust von John Hurt katapultiert kam. So schnell konnte man gar nicht schauen, wie ich aus dem Kino war.

Und wenn es schön ist, soll es ewig weitergehen. Das gilt für Bücher, Opern und Filme. Und für mein Leben habe ich mir das – mal abgesehen von Flugzeugabsturz oder Pralinenerstickungstod – eigentlich auch so gewünscht. Das große Hollywood-Happyend: ich, 121 Jahre alt, mein sexy Ehemann, halb so alt wie ich, tränenüberströmt an meinem Sterbebett, um uns herum unsere vierzig Kinder, Enkel, Urenkel und Ururenkel sowie der Nachfahre von Radames, Radames der Zehnte. Das wäre doch ein schönes Ende gewesen.

Aber nein, ich liege gefesselt und geknebelt im Schüttkasten zu Salzburg, den trostlosen Tod vor Augen. Ich komme mir vor wie in den Fleischwolf gesteckt – und gleich wird am anderen Steak Tartare herausquellen ...

Der Knebel schmeckt nach getragenen Socken, und ich vermute stark, dass ich genau das auch im Mund habe – eine mehrfach getragene Statistensocke, ungewaschen.

Außerdem sind mir die Beine eingeschlafen. Wie ein Veitstänzer zucke ich auf dem Boden herum, um das Blut wieder zum Zirkulieren zu bringen. Und stoße dabei kehlige Laute aus. Vielleicht hört mich ja jemand.

Aber es reagiert nur Radames, der offensichtlich wach ist, allerdings weiter weg. Wenigstens lebt er noch. Der Mörder kann folglich kein ganz schlechter Mensch sein. Vor mir tanzen die Buchstaben aus einer Gedichtzeile von Georg Trakl – Ein Hund stürzt durch verfallene Gänge. Das Gedicht habe ich in Stein gemeißelt im Mirabellgarten entdeckt. Aber Radames stürzt nicht, er kläfft nur. Vermutlich irgendwo angeleint.

Wie lange war ich bewusstlos?

Wird jeden Moment der Finsterling mit dem Turban kommen und mir die Haut von den Knochen ziehen, als wäre ich ein Bratapfel?

Ich gebe zu, dass ich bezüglich der Identität des Mörders ein wenig ins Schwanken gerate. Wenn es wirklich Luigi war, der sich unter Paschakostüm und Turban verbarg, wieso hat er dann seinen Lebensgefährten Gisbert erschlagen? Um den einzigen Mitwisser auszuschalten? Außerdem ist Luigi eins von diesen altgriechischen Kugelwesen – er hätte das Paschakostüm umnähen müssen, um die Wampe nicht im Freien zu tragen. Na ja, Gisbert ist gelernter Herrenschneider. Theoretisch durchführbar war es also schon.

Ich schaue mich um.

Gisberts Beine lugen unter einer schrill gemusterten Stoffbahn hervor. Das spricht für Luigi als Täter – er erträgt den Anblick seines toten Geliebten nicht und musste ihn abdecken. Zugedeckte oder hübsch angerichtete Leichen sind immer ein Zeichen für eine emotionale Beteiligung des Täters. Das weiß ich, weil ich mit Vorliebe Elementary schaue. Wegen dem weiblichen Watson. Aber auch, weil man nebenher immer was lernt.

Oder der Mörder ist doch jemand anderes und hat Gisbert nur deshalb unter Stoffbahnen versteckt, damit er von zufällig vorbeikommenden Festspielmitarbeitern nicht gesehen wird.

Aber wer soll hier zufällig vorbeikommen? Niemand. Das wird sich wohl auch der Täter gedacht haben, sonst hätte er mich ja ebenfalls zugedeckt.

Mittlerweile bin ich ganz sicher, dass der Mörder losgezogen ist, um sich ein scharfes Messer zum Häuten zu besorgen.

Ich muss mich befreien!

Es wäre doch gelacht, wenn mir das nicht gelänge. Ein Blick auf meine Beine zeigt, dass ich mit einer groben Kordel gefesselt wurde, wie man sie von Theatervorhängen kennt. Ein Messer, ein Königreich für ein Messer!

Aus den Augenwinkeln sehe ich das Gummihackebeil. Das wird mir nicht von Nutzen sein. Ich brauche etwas Scharfes. Wie beispielsweise … eine Schere.

Wenn ich jetzt meine Umhängetasche dabeigehabt hätte, könnte ich mir das Schweizermesser herausangeln. Aber nein, ich wollte ja light unterwegs sein.

Da fällt mir siedend heiß ein, dass Gisbert Bühnenbildner ist. Der muss doch schon berufsbedingt immer etwas Scharfes in der Hose haben. Also … Sie wissen, was ich meine.

Teppichmesser. Sowas in der Art.

Ich robbe also in Richtung seiner Hosenbeine, was sich als schwieriger erweist, als es klingt. Auch ohne auf dem Rücken gefesselte Hände und zusammengebundene Beine bin ich nicht die Gelenkigste. Zudem erschwert der Knebel die Atmung. Aber wo ein Wille ist … oder so ähnlich. Jedenfalls bin ich – gefühlte Stunden später – bei Gisbert angelangt.

Sein Brustkasten scheint sich zu heben, fast unmerklich, aber immerhin. Er lebt also noch. Möge das nicht die einzige gute Nachricht des Tages sein!

Ich presse mich mit dem Rücken an ihn und taste mit den Händen an seinem Schritt herum. Gib mir Kraft!, flehe ich die höhere Macht an, zu der ich seit meinen Kindertagen ein relativ distanziertes Verhältnis habe, mit der ich aber in Notsituationen immer gern in einen Monolog trete.

Das muss doch zu schaffen sein, flüstere ich mir selbst zu. Ich schiebe mich auf Gisbert und hoffe, dass ich seinen Weichteilen durch mein Gewicht keinen irreparablen Schaden zufüge. Weil ich mich ja nicht abstützen kann, liege ich wie ein nasser Sandsack auf ihm. Mich tröstet, dass er, sollte er das hier überleben, sich ja immer noch durch Adoption fortpflanzen kann. Unter mir atmet es Gott sei Dank weiter, aber ein Messer ertaste ich nicht. Mist!

Ich rolle von Gisbert herunter.

Radames jault.

Ein genialer Gedanke keimt in mir. Radames ist ein Hund. Ein sehr kleiner, schwer gestörter Hund, aber nichtsdestotrotz ein Hund. Mit Hundezähnen. Er kann meine Fesseln aufbeißen!

»Hmpfhmpfhmpf!«, brülle ich hinter dem Knebel. Radames, der Gute, weiß, dass ich damit ihn meine, und fängt an zu bellen.

Ich folge dem Bellen und robbe mich an zwei Kleiderstangen vorbei und um eine Säule herum zu meinem kleinen Schnuffel, den die Situation eindeutig überfordert. Böse Menschen, die anderen Menschen wehtun, die das Frauchen fesseln und ihn an einen Tisch binden … es hätte mich nicht erstaunt, wenn er statt in einen narkoleptischen Anfall in ein Dauerkoma gefallen wäre. Aber er hält sich wacker. Sein Mini-Schwänzchen rotiert wie ein Ventilator, während ich auf meinem Hintern zu ihm hopse, und seine fleischige, rosa Zunge hängt fast bis auf den Boden.

»Guter Radames, braver Hund«, nuschle ich durch den Knebel hinweg lobend, als ich endlich vor ihm liege. Ich kehre ihm den Rücken zu.

»Leckerli, mjam, mjam«, ermutige ich ihn.

Er schleckt mir die Hände. Hingebungsvoll und sabberig.

Wenn ich nur wüsste, wie ich ihm zu verstehen geben soll, dass er die Fesseln aufbeißen muss. Zuhause hätte ich mir von Yves Gänseleberpastete darauf schmieren lassen können – Problem gelöst. Aber hier? Hätte ich mit Radames mehr als nur die Basis­ausbildung für Welpen in der Hundeschule besuchen sollen? Allerdings bin ich mir fast sicher, dass ‚Fesseln aufbeißen‘ auch in der Hundeschule für Fortgeschrittene nicht vorkommt.

»Grrrr«, knurre ich, um die dunkle Seite der Macht in ihm wachzurufen. Er kriegt es aber nur mit der Angst zu tun und legt sich wimmernd ab, also höre ich mit dem Knurren wieder auf.

Die Navy Seals von gestern hätten in so einer Situation einfach die gefesselten Hände über ihren Po und ihre Beine geschoben, bis die Arme nach vorn zeigen und sie die Fesseln an einer Tischkante durchrubbeln können. Die Navy Seals haben aber auch nicht meine Hüften.

Nein.

Es ist hoffnungslos.

Im Grunde bin ich schon tot.

Wieder mal.

Noten

Was würde die Callas tun?

Maria Callas hätte sich gar nicht erst niederschlagen lassen!

Während ich auf die Rückkehr des Mörders warte, der bestimmt in diesem Moment zu Hause sein Häutungs-Set an einem Wetzstein schärft, schießen mir die abwegigsten Gedanken durch den Kopf.

Ich hätte ein Testament machen sollen. Wer wird sich jetzt um Radames kümmern? Sollte mein Kleiner zu Yves kommen, der nicht mit ihm Gassi geht, wenn er emotional drauf ist, dann wird ihm die Blase platzen, und er stirbt an Nierenversagen. Bei Bröcki hätte er es besser. Ich hätte das regeln sollen. Falls ich das hier wider Erwarten überlebe, werde ich sofort beim Notar anrufen.

Und wie wird mich die Nachwelt in Erinnerung behalten? Die letzten Schlagzeilen, für die ich gesorgt habe, drehten sich nicht um einen grandiosen Auftritt mit Standing Ovations, sondern um die Schlammschlachttrennung in New York. Von nun an werde ich ausschließlich für meinen Beruf leben!

Die letzten Fotos von mir werden die Handyaufnahmen der Touristen sein, wie ich völlig aufgelöst und wasserspuckend am Ufer der Salzach liege. Aus unschmeichelhafter Perspektive geschossen. Wie ein gestrandeter Wal.

Wal.

Walknochen.

Reifrock!

Mühsam richte ich mich auf. Wo ist er? Wo ist dieser unsägliche Reifrock, in den ich mich für meine Rolle als Konstanze zwängen musste? Der – laut Gisbert – nicht aus Walknochen gefertigt ist, sondern aus Metallstäben?!

Natürlich … ganz am anderen Ende des Saales. Aber ich robbe mit frisch erwachter Hoffnung einmal quer durch den Raum. Eine Seerobbe mit Aussicht auf einen Eimer Heringe hätte nicht schneller robben können, höchstens graziler.

Und dann habe ich es geschafft. Die Metallspitze, die sich mir so schmerzhaft in die Taille gebohrt hat, liegt immer noch frei. Fragen Sie nicht, wie lange ich brauche, um mich erst hinzuknien und dann tatsächlich in so etwas wie eine Vertikale zu erheben. Dabei reiße ich mir mein Tüll-Kleid an einem anderen spitzen Ende des Reifrocks auf. Das Teil ist hochgradig gefährlich, aber genau das brauche ich jetzt.

Ich schaffe es – unter signifikantem Blutverlust, wie ich anmerken möchte, weil ich ständig abrutsche und sich das Metall in meine Unterarme bohrt –, die Kordel so weit aufzurubbeln, dass ich mir die Handfessel abstreifen kann. Die Fußfessel ist daraufhin kein Problem mehr, und auch der Knebel verschwindet.

Als ich mich aufrichte, bleibe ich noch einmal mit dem Kleid hängen. Nach einem unschönen, finalen Reißgeräusch liegt der Tüll am Boden, und ich stehe in Unterwäsche da. Das ist mir aber vollkommen egal – solange nur Karl nie erfährt, was ich mit seiner Kreation angestellt habe. Sonst hetzt er Choupette auf mich. Ich bin nämlich Katzenallergikerin.

Allerdings sollte ich mir für meine Flucht aus dem Gebäude etwas überziehen. Ich trage zwar wieder die guten Dessous, aber ich will verdammt sein, wenn ich in Unterwäsche aus dem Haus gehe! Lieber tot als entehrt.

Aber – hurra! – ich befinde mich ja in einem Saal voller Kostüme.

Jedoch voller Kostüme in Größe 34, der Einheitsgröße für weibliche Bühnenschaffende. In die kann ich allenfalls mein linkes Bein zwängen. Und auch nur, wenn ich die Luft anhalte und keinen Wert auf eine anhaltende Blutzirkulation lege.

Harry Cho hatte meine Größe, aber sein Kostüm sehe ich nirgends.

Als ich an der Kleiderstange mit den Tierkostümen vorbeikomme, stutze ich. Etwas flauschig Weißes scheint mir förmlich zuzublinzeln. Ich ziehe es heraus und sehe auf einen Blick, dass ich hineinpassen werde. Es bleibt sogar noch Luft.

Gedacht, getan.

Gleich darauf drehe ich mich kokett vor dem barocken Ganzkörperspiegel, der an einer der Säulen lehnt.

Es ist allerdings nicht, wie ich im ersten Moment vermutete, ein Bärenkostüm aus der Verkauften Braut, nein, es ist ein Osterhasenkostüm. Fragen Sie mich nicht, aus welcher Oper.

Radames kläfft wie ein Verrückter. Der langen Liste seiner Ängste muss ich ab sofort wohl auch noch eine Osterhasenphobie hinzufügen.

»Ich weiß nicht, was du hast«, sage ich zu ihm, »ich sehe doch allerliebst aus.« Ich schiebe die obere Zahnreihe über meine Unterlippe und mache möhrenknabbernde Bewegungen.

»Ja wirklich, sehr herzig«, bestätigt eine Stimme hinter mir.

Ich wirble herum.

Man könnte meinen, es sollte für mich kein Problem sein, ihn zu überwältigen – er ist viel fragiler als ich, auch einen halben Kopf kleiner. Und bestimmt hätte ich mich auch furchtlos auf ihn geworfen, wenn er keinen Revolver in der Hand gehalten hätte.

Radames bellt immer noch.

»Bring deinen Köter zum Schweigen, sonst mache ich das«, droht mir der falsche Bassa Selim, immer noch Turban-vermummt. Wieso duzt der mich?

»Ist der echt?«, frage ich mit Blick auf den Revolver. Meine Skepsis ist angesichts des Ortes, an dem wir uns befinden, nicht unbegründet.

Er richtet die Waffe auf Radames. »Willst du eine Demonstration?«

»NEIN!«, gelle ich. »AUS, Radames!«

Radames trippelt ein paar Schritte zurück und verstummt. Da er mir sonst nie gehorcht, muss es wohl daran liegen, dass er die Brisanz des Augenblicks spürt.

»Schon besser.« Die irren Augen flackern.

»Wer sind Sie?«, hauche ich.

Mit der freien Hand zieht er sich langsam, ganz langsam, den Turban vom Kopf.

Es ist …

… Wolfgang Strasser, der echte Bassa Selim. Der Mann, um dessen Leben ich vor kurzem noch gefürchtet habe. Der Schauspieler.

»Wolfgang?« Ich bin völlig perplex.

»Nein, nicht Wolfgang!« Er spuckt die Worte förmlich aus. »Nicht einmal jetzt erkennst du mich? Nicht einmal jetzt?« Man spürt deutlich, wie wütend ihn das macht. Der Finger am Abzug zuckt.

»Doch ...äh … natürlich!« Der Teil meines Gehirns, der für Gesichtserkennungsmuster zuständig ist, rotiert fieberhaft, findet aber nichts.

»Lüg nicht!«, brüllt er, und ich kann nur hoffen, dass er seinen Zeigefinger auch im Erregungszustand unter Kontrolle hat. »Keiner von euch hat mich wiedererkannt. Ihr erbärmlichen Schweine! Wegen euch habe ich alles verloren, und ihr vergesst mich einfach!«

»Wir kennen uns wirklich? Echt jetzt?« Das ist, wie sich herausstellt, nicht die richtige Reaktion.

Er schlägt mich ins Gesicht. Mit dem Lauf der Waffe. Ich beiße mir schmerzhaft auf die Zunge, die daraufhin sofort anschwillt. Aber immerhin hat er mich nicht einfach erschossen.

»Wolfgang Strasser ist ein Pseudonym. Mein Künstlername als Mime. In Wirklichkeit heiße ich Armin. Armin Fenderich. Wir waren zusammen an der Akademie! Ich war Tenor! Dämmert es dir jetzt?«

Grundgütiger.

Das will erstmal verdaut werden.

Armin. Armin. Armin.

Also … beim besten Willen … Das sage ich aber diesmal nicht laut. Ich bin ja lernfähig. Außerdem spüre ich, wie meine Zunge immer dicker wird. Meine letzten Worte sollen nicht gelispelt sein.

»Kommt die Erinnerung langsam zurück?« Wolfgang-alias-Armin verzieht verächtlich das Gesicht. »Vor fünfzehn Jahren in New York – ein fulminanter Liederabend zum Abschluss unserer Ausbildung. Die schönsten Arien aus drei Jahrhunderten, mit den Stimmen der Zukunft. So stand es auf dem Plakat. Wir haben zusammen gesungen!«

Er hält mir ein Foto vor die Nase. Viel zu nah, als dass ich etwas erkennen könnte. Aber ich nehme an, es ist dasselbe Foto, das mir Kommissar Pittertatscher gezeigt hat