Cover

Peter Wehle

Wenn einer einen Mord begeht

Ein Wien-Krimi

Peter Wehle

Wenn einer einen Mord begeht

Meinem Vater zum 30. Todestag

Seit Jahrzehnten …

Der erste Mord war nicht geplant.

Nicht gewollt, aber gekonnt.

Und was man kann, das macht man auch.

Noch dazu geht es immer leichter, je mehr man übt.

Übung macht … den Mörder.

Lust?

Schon. Doch. Etwas.

Aber auch Angst.

Und dann noch dieser verdammte Fehler.

… jahrelange Angst!

Freitag, 6. Dezember 2013, 14.49 Uhr

„… dann sollte Ludwig da sein!“

Verena Planner zuckte nur kurz zusammen. Sie hatte schon zu viele Wutanfälle ihres „Chef-Chefs“ erlebt, um heftiger zu reagieren.

„Ja, Herr Hofrat, da haben Sie Recht. Es tut mir leid, Herr Hofrat, dass der Herr Hofrat Halb gerade jetzt nicht da ist. Selbstverständlich werde ich ihm ausrichten, dass Sie, Herr Hofrat, ihn gesucht haben.“ Gebetsmühlenartig wiederholte sie Hofrat Doktor Ernst Strakas Rangbezeichnung, um ihn zu beruhigen. In den vergangenen Monaten hatte diese Strategie fast immer funktioniert, doch heute …

„Ich weiß schon, dass sich der Ludwig einen Dreck um so etwas wie Dienstzeiten schert. Ich weiß auch, dass heute Freitag ist. Noch dazu Freitag, der 6. Dezember. Aber da ich mir bei bestem Willen nicht vorstellen kann, dass Ludwig als Nikolo in einem Kindergarten auftritt, hätte ich angenommen … er sollte eben da sein!“

Da Hofrat Strakas Ausbrüche erfahrungsgemäß nicht so rasch abebbten, wappnete sich Verena mit stählerner Geduld. Zu Recht …

„Was soll ich denn jetzt dem Sektionschef Pomovsky sagen? Vor fünf Minuten hat er mich angerufen, was wir zum achtzigsten Geburtstag des letztendlich doch sehr verdienstvollen Kollegen Wolf geplant hätten? Trotz allem – immerhin war er ja der Leiter einer unserer Vorgänger-Abteilungen. Kommissarischer Leiter, um genau zu sein. Mehr nicht. Aber diese Provisorien halten ja gerade in Österreich am längsten! Immer schon! Gerade der Pomovsky! Der war ja damals in diese grässliche Geschichte involviert, die zu Wolfs völlig überzogener Reaktion geführt hat. Und dann natürlich zu seinem frühzeitigen Ausscheiden aus dem Dienst. Aber wem erzähle ich das, Sie kennen die Geschichte ja sicher in- und auswendig.“

„Nein, Herr Hofrat“ – kurz hatte Verena überlegt, ob sie einfach nur nicken sollte, aber sie war doch zu neugierig, um nicht nachzubohren. „Ich weiß nicht, von welcher grässlichen Geschichte Sie sprechen. Und der Herr kommissarische Abteilungsleiter Wolf ist mir auch kein Begriff.“

„Wieso? Aber Sie müssen doch Grolf kennen! … also den Kollegen Wolf, aber wir haben ihn immer nur Grolf genannt“ – Verenas Ahnungslosigkeit ließ Strakas Wutanfall schwinden – „sagen Sie bloß, Frau Magistra, Sie hätten noch nie was von Grolf gehört? Gerolf Wolf, der legendäre …“

„Nein! Ich nehme an, das liegt an meinem Alter. Ich bin doch erst seit zwei Jahren hier. Und eben aufgrund meiner Jugend habe ich die Zeitungen von vor Jahrzehnten nicht so intensiv studiert, dass ich mich an alle berühmten Wiener Kriminalisten erinnern könnte.“

„Nein, nein, natürlich nicht … entschuldigen Sie, ich vergesse immer wieder, dass Sie ja bereits einer anderen Generation angehören. Nicht, dass Sie so alt wirken würden, nein, das habe ich selbstverständlich nicht sagen wollen. Sondern … ach Gott, heute ist wirklich nicht mein Tag. Bitte!“

„Danke“ – folgsam nahm Verena auf dem ihr zugewiesenen Sessel Platz. Dass Straka auf ihren eigenen Bürostuhl gedeutet und sich selber auf einen munter umherrollenden Gymnastikball gesetzt hatte, zeugte von seiner anhaltenden Irritiertheit.

„Es war eine Tragödie! Ende Oktober 1990 begann eine Mordserie, die uns bis Dezember 1991 in Atem gehalten hat. Wobei, eigentlich beschäftigt sie uns noch heute, weil der Täter wurde nie gefasst. Vermutlich gab es damals in dieser kurzen Zeit von knapp über einem Jahr zwölf Opfer, es wurden aber nur sieben Leichen gefunden. Gleich nach den ersten zwei Toten war klar, dass es sich um eine Serie handeln musste. … der Mörder ging nämlich immer nach demselben Muster vor. Das Ziel war stets eine Prostituierte – er betäubte sie und tötete sie dann mit einer Spritze, die er mit Parfum gefüllt hatte. Der Tatort war jedes Mal perfekt gesäubert, es gab lediglich einen zusätzlichen Hinweis, und zwar einen Zettel, auf dem armselig poetische Worte standen. ‚Der Duft der Jugend‘ oder ‚Der Duft der Schönheit‘ … so ähnlich. Der krönende Abschluss war, dass der Mörder diesen Papierfetzen direkt an der Leiche befestigte … und das tat er mit der Injektionsnadel, die er in den Oberarm des Opfers stach.“ Straka deutete auf seinen linken Bizeps, eine Handbreit unter seiner Schulter. „Der damalige Star-Ermittler war Gerolf Wolf, und er wurde im Lauf dieser Mordserie natürlich noch berühmter. Auch deshalb, weil er ein sehr grimmiger Typ war … er hatte etwas von diesen alten Westernhelden an sich. Einsam, unbeirrbar, hart, aber gerecht. Und gnadenlos. Manchmal knurrte er nur, wenn er unzufrieden war … und er war oft unzufrieden. Dieses Geräusch war auch der Grund, warum wir ihn ‚Grolf‘ nannten. … was ihn natürlich noch mehr geärgert hat, weshalb er noch mehr geknurrt hat. Aber er konnte sich diese Art leisten, weil er bis zu dieser schrecklichen Serie ausnahmslos alle seine Fälle aufgeklärt hatte. Manche zwar erst nach Jahren, aber er ließ nie locker, bis er den Täter gefasst hatte. Und dann die Parfum-Morde! Zwar gab es mehrere Verhaftungen, aber es war rasch klar, dass er die Falschen geschnappt hatte. Irgendwann war Grolf überzeugt davon, dass ein ‚Jungstar‘ unter den Zuhältern, ein gewisser Johannes Parcher, hinter dieser Mordserie stecken musste. Aber der war dann verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Die Situation wurde zunehmend angespannt, die Medien hackten immer mehr auf uns ein. Und als sich dann die Wut gegen die ‚unfähigen Politiker, die das Leben der Bürgerinnen und Bürger nicht schützen können‘ wandte, wurde Grolf auch von dieser Seite her bedrängt. Und dann der Supergau! Das letzte Opfer war zwar auch eine Prostituierte, aber ihre Geschichte war eine … wie soll ich sagen, eine herzzerreißende. Und daher ganz besonders medientauglich. Die Meldungen überschlugen sich geradezu. Angeblich war diese arme junge Frau mehr oder minder zur Prostitution gezwungen worden … was ja durchaus stimmen mag, nur waren das andere vermutlich auch. Aber es kam noch besser – angeblich wollte sie aus dem Milieu aussteigen, weil sie von der Liebe ihres Lebens schwanger geworden war. Und ‚am allerangeblichsten‘ wollte sie sogar mit diesem Mann an einem anderen Ende der Welt ein neues Leben beginnen. Wer’s glaubt, wird selig – aber wir haben uns immer gefragt, woher manche der Zeitungen ein derartiges Insiderwissen hatten?“

Strakas Blicke wanderten in die Vergangenheit. Erst als sie über Verenas gespanntes Gesicht glitten, sprangen die Augen wieder in die Gegenwart zurück. „Was mich schon damals geärgert hat, war diese entsetzliche Scheinheiligkeit! Die ersten Opfer hatten keinerlei Empörung ausgelöst, bei den folgenden war das Rauschen im Blätterwald auch noch ein laues Lüfterl. Aber die letzte Tote, die hübscheste, die mit der angeblich tragischsten Lebensgeschichte, die … ja, wie soll ich das jetzt formulieren – erst diese Leiche hatte das Fass medialer Anteilnahme zum Überlaufen gebracht.“

„Und dieses Fass …“ – dank ihrer „Straka-Routine“ gelang es Verena, nicht zu breit zu grinsen – „zwang Herrn Wolf, frühzeitig aus dem Dienst auszuscheiden?“

„Ja, genau … also nein, nicht sofort. Da gab es dann noch einen finalen Skandal. Es war bei einer Pressekonferenz, zuerst wurde sein Tonfall immer gröber, aber dann beschimpfte er die Medienleute richtig brutal. Seine letzten Worte wurden wirklich berühmt. Mein Gott, mir ist das heute noch peinlich, wenn ich daran denke! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie peinlich das für uns alle war. Aber egal, das ist ja nun schon lange vergangen und …“

„Herr Hofrat, das ist aber nicht Ihr Ernst! Erst machen Sie mich wahnsinnig neugierig, und jetzt wollen Sie mir nicht verraten, womit der Herr Grolf … also, Wolf, dem Anteilnahme-Fass die Wutkrone aufgesetzt hat?“

Erstaunen, Verlegenheit, ein spitzbübisches Lächeln – Strakas Gesichtsmuskeln konnten sich nur schwer entscheiden.

„Na ja, Frau Magistra, es waren gleich in mehrfachem Sinn finale Worte. Zum einen waren es die letzten dieser Pressekonferenz, zum anderen die letzten, die die Polizei – quasi offiziell – zu dieser Mordserie verlauten ließ, und die letzten, die Grolf in seiner Funktion als kommissarischer Leiter der ‚Leib-­Leben-Gewalt-Abteilung‘ von sich geben sollte. Denn er stürmte unmittelbar nach diesen legendären Schluss-Beschimpfungen hinaus und … na ja, er reichte schon am nächsten Tag seine Kündigung ein. Wir konnten ihn noch überreden, sie zurückzunehmen, sodass sein Ausscheiden in eine Pensionierung umgewandelt werden konnte. Es war nicht einmal eine Frühpensionierung, weil Grolf dann noch fünf Dienstjahre wegen psychischer Probleme angerechnet wurden. Die nahm ihm jeder ab, davon hatten sich ja alle zur Genüge überzeugen können. Und daher …“

„Herr Hofrat, zur Sache bitte!“ – jetzt war es an Verena, ihre Stimme etwas lauter werden zu lassen. „Wie lauteten diese Worte? Diese Worte, die so schrecklich waren, dass … also, wie?“

Straka wand sich noch ausgiebig, bevor er ermattet aufgab.

„Leichengeile Schweine.“

Aus, Schluss – Verenas Anspannung fiel in sich zusammen wie geschäumte Milch.

„Leichengeile Schweine?“

„Leichengeile Schweine. Wenn es schon damals YouTube gegeben hätte, diese Pressekonferenz wäre ein Klick-Hit geworden.“

Verstohlen versuchte Verena, eine Lachträne wegzublinzeln. „Vermutlich. Ja, dann vielen Dank für den interessanten Ausflug in die Vergangenheit. Dann …“ – beinahe hätte ihr Trick funktioniert, Straka war schon fast bei der Tür, als es ihm doch noch einfiel.

„Und sollten Sie Ihren Chef rein zufällig irgendwann einmal wieder sehen, richten Sie ihm bitte Folgendes aus: … und es ist mir völlig egal, wie sehr er sich aufführt, ob er brüllt oder tobt – er ist dafür verantwortlich, dass Grolfs achtzigster Geburtstag in zwei Wochen gebührend gefeiert wird! Immerhin war der ja einst Ludwigs Vorgesetzter und nicht meiner. Da wird er doch wissen, was Grolf schmeckt, wo wir die Feier am besten ausrichten und was wir dem Jubilar schenken könnten. So, das wär’s, auf Wiedersehen! Noch einen schönen Freitagnachmittag.“

Ein-und-zwan-zig, zwei-und-zwan-zig … noch während Verena die Sekunden zählte, dankte sie still und heimlich dafür, dass Straka sie nicht gefragt hatte, wo ihr Chef denn nun tatsächlich sei. … und wieso sie überhaupt noch da war.

Vier-und-zwan-zig, fünf-und-zwan-zig … erfahrungsgemäß fiel Straka immer noch eine allerletzte Frage ein, weshalb man rund neun Sekunden mit einem neuerlichen „Was ich noch fragen wollt“ rechnen musste.

Neun-und-zwan-zig, drei-ßig – nein, offenbar war Strakas Hinausstürmen ein endgültiger Abschied gewesen … zumindest für heute.

Lächelnd wandte sich Verena wieder dem Gerät zu, das eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Kopierer hatte. Erfreulicherweise sah der neue XK-20F31 völlig unspektakulär aus, weshalb er Hofrat Straka nicht aufgefallen war. Ansonsten hätte er garantiert einen weiteren Wutausbruch gehabt … was denn dieses Gerät hier bei ihnen zu suchen habe? Wieso es nicht vorschriftsgemäß in der Bibliothek stehe? Sie werde das Gerät doch nicht verwenden, um eine Verletzung des Urheberrechts zu begehen? Hier, im Bundeskriminalamt!

„Im Übrigen, wo ist denn der Ludwig?“ – Verena hatte Strakas Fähigkeit, Türen lautlos zu öffnen, unterschätzt. … wie auch seine raffinierte Klugheit, die ihn diesmal vor seiner allerletzten Frage dreißig Sekunden hatte warten lassen.

„Ja, also, Herr Hofrat, der Herr Hofrat, der ist …“ – mühsam sortierte Verena ihre Ausreden. Welche hatte sie schon länger nicht verwendet? Leider fiel ihr keine halbwegs originelle ein, weshalb sie notgedrungen bei der Wahrheit bleiben musste … zumindest in deren Nähe. „… ja, der ist bei einem Treffen mit … mit potentiellen …“

„Lassen Sie mich raten – potentiellen Mieterinnen und Mietern? War eh klar, dass mein sauberer Freund Ludwig sich wieder einmal als Hausbesitzer aufführt. Und das in der Dienstzeit! Aber ihm wird das Lachen schon noch vergehen, zumindest für die nächsten zwei Wochen! Weil den Geburtstag vom Grolf organisiert er mir, da fährt die Eisenbahn drüber! Jawohl!“

Das Krachen der Tür verriet Verena, dass die Gefahr einer zweiten Straka-Rückkehr gebannt war. Na ja, wenigstens hatte er vergessen, sie nach dem Grund für ihr spätes Hiersein zu fragen. Vergnügt wandte sie sich wieder dem XK-20F31 zu. So ein Buchscanner war doch eine feine Sache, wenn man eine leidenschaftliche Kochbuch-Leserin war, aber kein Geld für die edelsten dieser Exemplare ausgeben wollte.

Selbst hier im Bundeskriminalamt! … oder vielleicht sogar gerade hier.

Freitag, 6. Dezember 2013, 14.49 Uhr

„Gestatten!“ Routiniert manövrierten die Männer in schwarz-grau den Metallsarg durch das geschäftige Treiben.

Robert Stallner hatte sich auf die Galerie der Maisonette-Wohnung zurückgezogen, von hier aus sah er gut, wie sich die Mitarbeiter der Bestattung Wien mit der Leiche abmühten. Die Totenstarre hatte bereits voll eingesetzt, weshalb es einiger Kraftanstrengungen bedurfte, um die ausgestreckten Arme …

Stallner wandte sich rasch ab … und tröstete sich damit, dass es sein erster echter Mord war. Freilich hatte er schon Opfer von Schlägereien oder Messerstechereien gesehen, aber die Tote da unten war so … so gezielt getötet worden.

Oder vielleicht auch nicht.

Eigentlich wussten sie bisher nur, dass ein anonymer Anrufer von einer toten Frau in der Behrenberggasse 27 gesprochen hatte. Die Streife hatte Julia Polgar dann in dieser seltsamen Position gefunden. Auf dem Bauch liegend, die Arme rechts und links des Kopfes ausgestreckt, der ganze Körper eine gerade Linie. Aber das Erschreckendste war der Zettel, der von einer Injektionsnadel durchbohrt neben dem linken Oberarm der Leiche lag. Und diese Nadel steckte auf einer Spritze.

Sie roch eindeutig nach Parfum.

Freitag, 6. Dezember 2013, 14.49 Uhr

Seufzend bemühte sich Halb, seinen Bauch noch mehr herauszustrecken. Tief Luft holen! Während er im Spiegel seine Kugelrundheit betrachtete, stiegen in ihm längst vergessene Erinnerungen hoch. Ludwig Halb, österreichischer Meister im Kugelstoßen – damals hatte ihm ein ehemaliger Weltmeister eine spezielle Entspannungstechnik beigebracht.

Tief Luft holen, Muskeln anspannen, Muskelspannung fünf Sekunden halten und dann alles, auch noch aus den letzten Luftbläschen, aus sich herausblasen.

Diese Technik hatte er gut beherrscht, was ihm in den letzten Jahren gleich zweifach zugutegekommen war. Zum einen, als sein Körper immer barockere Formen anzunehmen drohte. Zum anderen bei seiner monatelangen Rehabilitation, nachdem ihm ein wahnsinniger Dealer mehrere Kugeln in den Rücken gejagt hatte.

Aber dass er sich einmal im Bauch-Aufblasen üben würde, hätte er sich nie träumen lassen.

Bis vor drei Wochen.

Da hatte ihn Maria Korber am Ende ihrer Klavierstunde gefragt, ob sie ihn … na ja, es sei schon eine sehr ungewöhnliche Bitte …

Liebe Frau Korber, nur heraus damit!

Ihr Vater sei ja leider schon verstorben, und ihr Schwiegervater sei nur einen Meter sechzig groß, und weil doch der Herr Hofrat einerseits so eine imposante Gestalt sei und andererseits ihr Flitzi ihn schon als „eigentlichsten“ Opa ansehe, also …

Trotz dunkler Vorahnungen hatte er immer noch freundlich gelächelt.

… also wolle sie ihn bitten, ob er nicht bereit wäre, in Flitzis Kindergarten den Nikolo zu spielen. Die Kinder würden sich wahnsinnig freuen und …

Halb war zu erstaunt gewesen, um rechtzeitig „Nein!“ zu rufen. Er hatte sich schon viel anhören müssen – Morddrohungen, Beschimpfungen, ja sogar ernst gemeinte Verfluchungen, aber dass er als Nikolo gehen sollte, darauf war noch nicht einmal der perfideste Schwerverbrecher gekommen.

Und da er seine Lieblingsmieter … und, wenn er ehrlich war, einstweilen auch seine einzigen … nicht verärgern wollte, hatte er nur ein undefinierbares Grunzen von sich gegeben.

… welches Frau Korber prompt mit strahlendem Lächeln und einem herzhaften „Danke!“ quittiert hatte.

Ab dann setzten die Rückzugsgefechte ein. Er mache es, aber ganz, ganz sicher nur, wenn es auch niemand erfahre! … nicht auszudenken, wenn sich herumspräche, dass der Leiter des „Referats 3.2.1. – Gewaltkriminalität“ im österreichischen Bundeskriminalamt als Nikolo in einem Kindergarten auftritt.

… und ganz, ganz sicher auch nur dann, wenn er ein echtes Nikolo-Kostüm – „Wie eben vom heiligen Nikolaus … zwar mit dickem Bauch, aber mit Bischofsstab, Mitra und Mantel!“ – tragen dürfe und nicht als „Ho ho ho“ trällernder und Rentiere misshandelnder Santa-Claus-Verschnitt durch die Gegend wackeln müsse.

„Onkel Luzi, Onkel Luzi, im Kindergarten, ganz toll, da kommt bald der Nikolo! So brav bin ich“ – Mörderjäger hin, Kriminalisten-Zyniker her, spätestens da war Halbs Widerstand endgültig in sich zusammengebrochen.

Sein Reserve-Enkel!

Oder, besser gesagt, seine Reserve-Enkel. Antoine Korber war zwar erst heuer geboren, aber auch dieser spuckende und Windel vernichtende Schreihals hatte Halbs mühsam abgehärtete Seele rasch und gründlich erweicht.

Und Flitzi? Mit seinem fast vierjährigen … oder schon fünfjährigen? Nein, doch noch dreijährigen! – Halb wusste nie so genau, wie alt sein Leih-Enkel war. Auf jeden Fall konnte er sich mit Flitzi fast schon wie von Mann zu Mann unterhalten.

Es war ein wildes Jahr gewesen! Ende 2012 war er nur knapp einer Querschnittslähmung entgangen, nachdem er in eine Falle geraten war und drei Kugeln seinen Rücken getroffen hatten. Anfang Mai dieses Jahres hatte er dann vom Tod eines ebenso entfernt verwandten wie unseriösen Onkels erfahren – und zwar von einem Notar, der ihn über die Erbschaft eines komplett leeren Mietshauses verständigt hatte. Und weil er es inzwischen heftig bereute, dass er vor knapp drei Jahren den Bitten seines „befreundeten Vorgesetzten“ Ernst Straka gefolgt und zum Leiter des 3-2-1er-Referats aufgestiegen war, war er seit seinem unerwarteten Erbe in ein massives inneres Trudeln geraten.

Wer wollte er sein? Bequemer Verwaltungsbeamter oder abenteuerlicher Mordermittler?

Und dann war – zu allem scheinbaren Überdruss, in Wirklichkeit aber beglückendem Überfluss – auch noch Delia in sein bis dahin kaum existierendes Privatleben getreten.

Gesättigter Hausbesitzer-Single oder rotierender „Spätes-Glück“-Genießer?

Am schlimmsten waren Tage wie dieser, an denen er am Vormittag viel Hofrat und ein wenig Kriminalist, am Nachmittag Hausbesitzer und danach Privatmensch war. An solchen Tagen zerriss es ihn förmlich.

Und das Allerschlimmste war … er liebte das.

Bauch aufblasen? Oder doch lieber als schlanker Bischof von Myra die Kinder begeistern?

Schlank? … vollschlank! Bestenfalls.

Schluss, aus – er würde als ganz normaler Nikolo mittleren Alters und daher auch mittleren Bauchumfangs vor sein großes, hauptsächlich kleines Publikum treten.

Freitag, 6. Dezember 2013, 15.17 Uhr

„Du wirst nicht darum herumkommen. Und je länger du es hinauszögerst, desto schlimmer wird es. Glaub mir, der Halb kann sehr unangenehm sein. Ruf ihn an! Informiere ihn. Weil wenn er das erst aus den Zeitungen erfährt, dann …“ – die Geste war eindeutig, der Kriminaltechniker ließ keine Zweifel an Stallners baldigem Ende.

„Ja, schon, aber …“ – der junge Kriminalist wand sich wie ein paarungswütiges Blindschleichenmännchen – „… aber ich kann ihn doch nicht jetzt noch anrufen. Wer weiß, wo der an einem Freitagnachmittag steckt.“

„Na, er wird ja wohl kaum als Nikolo kleine Kindelein bescheren. Außerdem, wie ich den Halb einschätze, würde der sogar noch mit Rauschebart und Zipfelmütze zu ermitteln beginnen. Das ist ein Vollblut-Bluthund! Daher … ruf ihn an.“

Stallner nickte gottergeben … und wartete, bis sein eifriger Kollege das Feld geräumt hatte.

Nicht, weil er den legendären „Mord-Rat“ erreichen wollte. Auch nicht, weil er sich fürchtete, ihn anzurufen. Sondern, weil er zu karriereversessen war, um mit leeren Ermittlungshänden eine Legende aus dessen Nikolo-Ruhe zu reißen. Er hatte nicht den Hauch einer Idee, wo er ansetzen könnte. Der Täter hatte den Tatort offenbar perfekt gesäubert, es gab mehrere „Visitkarten“ dieses Serienkillers, aber keine Spuren. Stallner seufzte, er konnte nur hoffen, dass der Mörder sich nicht nur in den Details an sein altes Muster halten würde. Vielleicht würde er bei der „zweiten zweiten“ Leiche, der zweiten in seiner Wiederauferstehungsserie, einen Fehler machen. Oder spätestens bei der dritten.

Freitag, 6. Dezember 2013, 16.24 Uhr

„Ja bitte, danke, gerne.“ Genüsslich griff Halb nach dem Teller voller Würste. Vorsichtig legte er die Mischung aus Schinkenblättern und Extrawurst-Scheiben in das Loch zwischen dem Weichkäse-Gupf und den drei Brotscheiben, bevor er nach der Butter griff.

„Noch einmal vielen lieben Dank für die Nachtmahl-Einladung.“

„Ich bitte Sie, Herr Hofrat! Ein winziger Dank für Ihre schauspielerische Leistung als …“ – ein Seitenblick ließ Frau Korber mitten im Satz hängen bleiben – „für Ihre schauspielerische Leistung als …“

„Mami, was ist eine schauspiele-sche Leitung?“ Flitzi war unbemerkt ins Wohnzimmer gekommen.

„Das ist, also, wenn …“

„… wenn jemand den Leuten etwas vorspielt.“

„Das versteh ich nicht, Onkel Luzi.“

„Schau, wenn du etwas angestellt hast und nicht willst, dass wir das gleich merken, dann bist du ganz besonders brav und …“

„Aber ich hab doch nix angestellt!“

„Nein, Flitzi, das mein ich ja gar nicht. Ich …“

„Was dir der Onkel Luzi sagen will, ist Folgendes: Ein Schauspieler tut so, als ob er lustig oder traurig wäre, obwohl er das gar nicht ist. Und ‚eine schauspielerische Leistung erbringen‘ heißt …“

„So wie der Nikolo vorher im Kindergarten.“

Triumphierend blickte Klein-Friedrich um sich. Offensichtlich waren auch die Erwachsenen von der lustigen Art des Nikolo beeindruckt gewesen, so still, wie sie plötzlich waren.

Frau Korber fing sich als Erste wieder.

„Meinst du denn, dass der Nikolo ein Schauspieler war? Eben so jemand, der vor anderen so tut, als ob er jemand anderer wäre?“

Beinahe zornig blitzte sie ihr Dreieinhalbjähriger an.

„Mami, ich bin ein Kindergartenbub, aber doch kein kleines Kind mehr! Natürlich weiß ich, dass es den echten Nikolo nicht gibt. Aber das macht ja nichts, weil …“ – Flitzi hob seine Ärmchen und schlang sie seinem Reserve-Opa um den Hals – „… Onkel Luzi, du warst schon sehr toll, aber nächstes Jahr wirst du noch viel nikolausiger sein!“

„Ja, also, das ist aber …“ – vielleicht sollte er doch einen pädagogischen Ratgeber für Großväter lesen?

„Und jetzt möcht ich bitte noch eine Extrawurst und dann geh ich wieder spielen.“

„Aber nicht mehr lange, weil bald kommt das Traummännlein.“

„Nein, nein, ich will aber noch nicht schlafen ge…“ – der übliche Gefechtslärm erstarb mit dem Schließen der Kinderzimmertür.

„Hoffentlich war ich heute Mittag ein besserer Schauspieler.“

„HerrHoa…“ – Korber schluckte etwas zu hastig seinen letzten Bissen hinunter. „Entschuldigung! Herr Hofrat, was meinen Sie denn? Das waren doch nur potentielle Mieter. Denen muss man doch nichts vorspielen. Schon gar nicht bei so einem ausgezeichneten Angebot, Sie bieten ja die Wohnungen immer noch viel zu günstig an.“

Halb grinste.

„Soll ich vielleicht mehr verlangen?“

„Warum nicht? Vielleicht kämen dann nicht solche Heerscharen wie vor ein paar Stunden.“

„Schon, aber …“ – Halb biss lustvoll in sein nächstes Brot – „aber dann müsste ich ja auch Ihre Miete erhöhen. Sonst wäre das doch nicht fair, oder?“

Korber stutzte nur kurz.

„Doch, das wäre fair. Weil wir sind ja immer noch Ihre Lieblingsmieter. Gut, wir sind auch nach wie vor Ihre einzigen Mieter, aber selbst, wenn es hier im Haus mehrere …“

Da war sie wieder, die Unentschlossenheit. Einerseits genoss Halb die Beinahe-Leere seines Erbhauses sehr, andererseits waren die Kosten, die ein so riesiger Kasten verursachte, auch nicht zu verachten. Einerseits genoss er die Stille – wenn er das Haustor zur Verkehrshölle des Gürtels schloss, hatte er immer wieder den Eindruck, sich in einem Kokon zu befinden und schon morgen als edler Schmetterling die Welt zu beglücken. Andererseits mochte er den Lärm, wenn sich Flitzi und sein kleiner Bruder zeitweise wie die Brüllaffen aufführten.

Und das alles nur, weil ihn sein Onkel für einen Zuhälter gehalten und ihm deshalb dieses Zinshaus – noch dazu ohne Mieter – vererbt hatte. Onkel Alois hatte ihm in einem Brief, der posthum verschickt worden war, vorgeschlagen, aus diesem steinernen Prachtstück ein Bordell zu machen, doch Halb hatte jene letzte Idee ignoriert und beschlossen, eines nahen Tages sein Einkommen mit einem stinknormalen Mietshaus voller netter Menschen zu bestreiten. Korbers waren dann sehr bald seine ersten Mieter geworden – Halb hatte den jungen Justizwachebeamten bei einem dramatischen Fall vergangenen Mai kennengelernt.

„… aber selbst wenn es hier im Haus mehrere Parteien gäbe, müssten ja nicht alle …“

Sollte er wirklich von seinem Haus leben können? Wollte er das? Die Gefahr, dass er dann seinen einst so geliebten Kriminalisten-Posten an den Nagel hängen würde, war groß. Und wurde immer größer, da er zunehmend mit Verwaltungsaufgaben überschüttet wurde. Aber wenn er – vielleicht in einem überhitzten Moment – tatsächlich kündigen würde, wäre er dann glücklicher? Immerhin schaffte er es trotz der anhaltenden Sitzungs-Tagungs-Repräsentations-Attacken seines Vorgesetzten und Immer-noch-Freundes Ernst Straka, sich zeitweise freizuschaufeln und wieder als echter Kriminalist zu agieren. Vielleicht hatte das Straka in seiner tiefsten Seele sogar so gewollt, ansonsten hätte er ihm nach seiner Rückkehr aus dem Rehabilitations-Jahr wohl kaum wieder mit der Leitung seiner ehemaligen Ermittlergruppe betraut, sondern ihm nur den Verwaltungsposten wieder gegeben.

Diese Funktionsdualität hatte Halb gerade in den letzten Monaten weidlich ausgenützt und war einige Male aus der Verwaltung ausgebrochen, um die reine, edle Jagd auf Mörder zu pflegen.

Sollte er diesen Genuss riskieren, nur weil er mit seinem Haus Geld verdienen konnte?

„… müssten ja nicht alle gleich viel zahlen. Sie könnten ja die Höhe der Mieten immer noch unterschiedlich gestalten, Herr Hofrat.“

„Herr Korber, ich muss Ihnen als Justizwachebeamten nicht erklären, dass das auf einer Rechtsgrundlage geschehen müsste. Ich kann doch nicht einfach so, nur weil mir die Nase eines Mieters besser oder schlechter gefällt, weniger oder ein Mehrfaches an Geld verlangen. Gut, natürlich hängt die Miete von der Wohnungsgröße ab. Eventuell auch von ihrer Lage innerhalb des Hauses. Aber …“

„Herr Hofrat, bitte, bei der nächsten Zeitungsannonce müssen Sie konkrete Quadratmeter-Mieten hineinschreiben! So wie diesmal … ‚günstiges Angebot in hervorragender Lage, Besichtigung ab 12 Uhr‘ – so was schreibt man nur bei Bruchbuden unter Autobahnbrücken. Aber nicht bei so einem Schmuckstück wie unserem Haus hier! … ich meine natürlich Ihrem, Herr Hofrat.“

Ob er noch ein halbes Brot mit dieser herrlichen Pastete vertrüge? Delia war auf einem Seminar, daher müsste er sich zumindest keine Vorwürfe anhören, wenn er die ganze Nacht Fencheltee schlürfte.

„Einverstanden, Herr Korber! Aber glauben Sie mir, ich war selber überrascht, wie da die fordernden Massen aufgetaucht sind. Und dann die richtige Mischung aus Freundlichkeit und leiser Arroganz zu treffen, dafür muss man schon ein schauspielerisches Talent haben. … das habe ich vorhin gemeint – hoffentlich habe ich in der Mittagsvorstellung als locker-distanzierter Hausbesitzer mehr überzeugt als in der Nachmittagsvorstellung als Nikolo. ‚Ich freue mich, dass Sie sich für unser Angebot interessieren‘ – der Text ist mir nicht leicht über die Lippen gekommen. Und bei manchen hatte ich den Eindruck, dass ich sie gleich hinausschmeißen sollte. Zum Beispiel diese eine Frau, die war ja allein schon von ihrem Äußeren her extrem … na ja, sagen wir halt, beeindruckend. Wie groß war die … ein Meter fünfundneunzig? Und erst die vielen schwarzen Haare! Und forsch – wie die sich vorgedrängt hat, das war schon auch irgendwie beeindruckend.“

„Sehen Sie, Sie haben sich in der Gegenwart dieser … dieser südländischen Brünhild auch nicht wohl gefühlt. Aber warum haben Sie ihr denn dann eine Wohnung zugesagt? Das ist so ein Fall, wie ich ihn vorhin gemeint hab. Ich weiß schon, es steht uns im Grunde überhaupt nicht zu, Ihnen vorzuschlagen, wen Sie als Mieter nehmen und wen Sie abweisen sollen. Natürlich nicht. Aber wenn Sie schon die wunderbare Vision haben, die Wohnungen nur an wirklich liebe Menschen zu vergeben, dann … dann versteh ich nicht, warum Sie diesem Riesenweib versprochen haben, dass es in vier Wochen einziehen kann!“

Ein letzter Bissen ging noch! Halb suchte den Tisch ab – nein, offenbar war nichts Süßes geplant, also brauchte er dafür keinen Platz im Magen zu reservieren.

„Mein Gott, Herr Korber, ich bin im Grunde ja selber vollkommen unentschlossen, was ich mit dem alten Kasten will. Und wen ich in dem alten Kasten will. Aber andererseits … ein paar Mieter wären schon nicht schlecht, dann würden uns die Betriebskosten nicht die Haare vom Kopf fressen, wir …“

„Aber Herr Hofrat, bei uns brauchen Sie doch keine Haare zu essen“ – Frau Korber hatte die letzten Worte offensichtlich nur bruchstückhaft verstanden. „Kann ich schon die Nachspeis servieren? Dann mach ich die Vanillesauce warm. Sie mögen doch Buchteln, oder?“

Samstag, 7. Dezember 2013, 8 Uhr

Halb irrte durch unendliche Gänge. Manche der Türen kamen ihm bekannt vor, aber jene, die sich wie durch Geisterhand vor ihm öffneten, waren ihm vollkommen fremd. Plötzlich hörte … nein, er fühlte eine unangenehm wabernde Masse hinter sich, deren Raunen immer lauter wurde. „Günstig, günstig“ – wie ein Nebelhorn drangen die Silben immer deutlicher an sein Ohr. Plötzlich stellte sich ihm eine dunkle Figur in den Weg, eine mächtige Gestalt, die ihn mit forscher Stimme nach Details eines unbefristeten Mietvertrags fragte. Er konnte ihr nicht antworten, weil sich ihre wallenden schwarzen Locken plötzlich in eine Bischofsmütze und einen langen weißen Bart verwandelten. „Nikolausiger, Nikolausiger!“ – eine helle Kinderstimme wurde immer greller, ihr Schrillen schien zuerst seinen Schädel und dann den restlichen Körper zu zersprengen. Halb sah auf die Scherben seines Kopfes hinab und …

Ein dumpfer Krach beendete das finale Dröhnen.

Mühsam versuchte Halb nach dem Telefon zu greifen. Er hatte darin schon einige Übung, da er es in den letzten Monaten geschätzte einhundert Mal von seinem Nachttisch gewischt hatte.

„Ja? Und wehe, die Welt geht nicht unter.“

„Herr Hofrat Halb, nehme ich an.“

„Wer?“

„Wie bitte?“

„Wer das annimmt? Wer ist so mutig zu glauben, dass er mich am Telefon hat?“

„Stallner. Robert Stallner. Landeskriminalamt.“

„Das tut mir leid. Aber was kann ich dafür?“

„Gar nichts, Herr Hofrat. Es tut vielmehr mir leid, schrecklich leid, Sie offenbar geweckt zu haben und …“

„Geweckt? Es ist Samstag um … wie Nacht ist es?“

„Es ist acht Uhr und sieben, nein, Verzeihung, acht Minuten.“

„Sie sind ein Spaßvogel, gell? Acht Uhr acht am Samstag! Da schläft jeder ehrbare Bürger. … und ich auch.“

„Natürlich, Herr Hofrat. Aber das Böse schläft leider nie.“

„Dann geben S’ ihm einen Likör, der macht auch das schwerste Verbrechen müde. Gute Nacht, Herr Kollege.“

„Herr Hofrat, bitte nicht auflegen! Leider bin ich mir absolut sicher, dass Sie sich wenigstens diese Leichen anschauen sollten … was heißt sollten, ganz sicher anschauen müssen. Und wollen.“

Eines der Worte in Stallners für diese Tageszeit viel zu langem Sermon hatte den letzten Rest an Wachheit in Halbs Hirn mobilisiert. Aber welches?

„Herr Hofrat, sind Sie noch …“

„Wenigstens?“ … das war’s.

„Ja. Es ist die zweite Leiche innerhalb von vierundzwanzig Stunden, die …“

„Ruft’s ihr jetzt bei jeder Leiche gleich mich an? Es ist zwar meistens tragisch, wenn wer stirbt, aber …“

„… die offensichtlich mit einer Parfum-Spritze getötet wurde.“

Jetzt war Halb endgültig wach. Und munter dazu.

„Herr Hofrat, sind Sie noch …“

„Jaja, bin ich, immer noch. Ich wusste nur nicht, ob ich doch noch in irgendwelchen Albträumen wandle oder ob ich plötzlich in eine Zeitmaschine geraten bin oder …“

„Nein! Sie schlafen nicht, und es ist Samstag, der 7. Dezember 2013, acht Uhr und …“

„Wenn Sie jetzt ‚nein, Verzeihung, zwölf Minuten‘ sagen, reiß ich Ihnen durch das Telefon den Kopf ab!“

„… und … also, knapp nach acht.“

Halb hatte sich im Bett aufgesetzt, er betrachtete mit grimmigem Wohlwollen das Telefon, das zu seinen Füßen lag. Schön, dass es wieder einmal im Wesentlichen ganz geblieben war. … und irgendwie doch auch schade, dass es wieder einmal …

„Wenn Sie von einer Parfum-Spritze sprechen, dann könnten Sie ja von einem Mord berichten, bei dem zufällig eine Parfum-Spritze …“

„Nein, Herr Hofrat, kein Zufall. Ich meine, natürlich sind Sie der kriminalistische Fachmann, aber wenn ich mein bescheidenes Wissen …“

„Herr Kollege, vor mir brauchen Sie nicht im Staub zu kriechen. Schon gar nicht an einem Samstag um acht Uhr was-auch-immer.“

„… also, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, dann ist die Bestie nach über zwanzig Jahren …“

„Wieso Erinnerung?“

„Wie bitte?“

„Sie haben gesagt, ‚wenn mich meine Erinnerung …‘ – wie alt sind Sie?“

„Ah so, nein, also, siebenundzwanzig. ‚Meine Erinnerung‘ bezieht sich auf meine Ausbildung, da haben wir diesen Serienmord durchgenommen.“

„Sagen Sie bloß, ich bin Unterrichtsstoff.“

„Ein begehrter, Herr Hofrat.“

„Wo?“ – Halb bellte die eine Silbe, um nicht in selbstironisch-wehmütiges Lachen auszubrechen. Er, ein Lehrstoff!

„Wo? Wo muss ich hin?“

„In die Schmidt-von-Lübeck-Gasse 17, Wohnung Nummer 8. Auf der Sprechanlage steht …“

„Ich bin mir sicher, dass ich es finde. Ich werde einfach den Uniformen nachgehen.“