Cover

Selim Özdogan

Wieso Heimat, ich wohne zur Miete

Roman

Gibt es bei euch zu Hause keine Esel?

Aziz Nesin

Sklavenmarkt ist, und es geht bunt zu.

Elsa Sophia von Kamphoevener

Selim Özdogan

Autor Foto

© Foto: Tim Bruening

Zum Autor

Selim Özdogan, Sohn türkischer Eltern, ist 1971 in Köln geboren, wo er heute noch lebt. Seit seinem Debüt „Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist“ hat er zahlreiche Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht, zuletzt bei Haymon „Der Klang der Blicke“. Geschichten (2012) und „DZ“. Roman (2013). Die Idee zu seinem neuen Roman „Wieso Heimat, ich wohne zur Miete“ entstand während eines halbjährigen Schreibaufenthalts in Istanbul. www.selimoezdogan.de.

Impressum

© 2016

HAYMON verlag

Innsbruck-Wien

www.haymonverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7099-3713-6

Umschlag- und Buchgestaltung nach Entwürfen von hœretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol

Umschlag und Illustration: Eisele Grafik Design, München, unter Verwendung von Bildelementen von www.bigstock.com/Natael (Mann) und www.bigstock.com/CIDEPIX

(Skyline)

Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig

Autorenfoto: Tim Bruening

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Cover: Inserat 1

Zwei zusätzliche Geschichten von Selim Özdogan und ein MP3-Bonustrack exklusiv nur im E-Book!

Selim Özdogan bringt das Leben auf den Punkt: Nur schmal ist der Grat zwischen Sonnen- und Schattenseite, zwischen denen, die alles erreichen wollen, und denen, die nichts mehr zu verlieren haben. Özdogan begleitet sie auf ihren Wegen: den Vater, der statt seiner Liebe auf den ersten Blick die Frau seines Lebens heiratet. Den Lehrer, der freitagmittags doch eigentlich nur nach Hause will. Und die Jungen unter der Laterne, die den ersten Schluck jeder Flasche immer auf den Boden gießen, obwohl eigentlich keiner weiß warum.

Was dabei entsteht, sind Geschichten, deren Rhythmus und Klang den Leser tragen wie eine Melodie. Es sind Geschichten von Menschen, die nach festem Grund unter ihren Füßen suchen, von Liebenden, die der Wahrheit hinter der Poesie nachspüren, von der Angst vor dem Tod und der Sehnsucht nach ihm, vom Leben im Takt der Musik und von Tagen im Paradies.

„Er macht süchtig nach einer Leichtigkeit mit Tiefe.“

José F.A. Oliver

Selim Özdogan

Der Klang der Blicke

Geschichten

ISBN 978-3-7099-7582-4

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Cover: Inserat 2

Der Dichter mit dem Schlapphut, der Professor mit dem pissgelben Fahrrad, der Künstler in der pikanten Pose, die Schauspielerin und ihr Traum vom Meer – die Figuren in Christoph W. Bauers Erzählungen mögen auf den ersten Blick verschroben wirken. Dabei sind sie vertrauter, als einem lieb ist: Sie trauern verpassten Chancen nach, verrennen sich in Träume, sind unglücklich in ihren Berufen, sprechen von Treue und wandern von einem Bett ins andere, geben sich kühl und erfahren, im nächsten Moment innig und schmachtend. In den unterschiedlichsten Tonarten sprechen sie an, was wir alle kennen: Einsamkeit, Sehnsucht, Liebe und Verlust.

Temporeich und direkt sind Bauers Geschichten, manchmal kurz und energisch wie ein Punksong, manchmal eigenbrötlerisch und elegisch wie ein Blick aufs Meer. Dabei oft von einer bestechenden Komik und voll plötzlicher Wendungen, die unversehens den Blick öffnen auf eine Wirklickeit, die uns alle betrifft.

„Eleganz, Lässigkeit, Melancholie sind Worte, die einem bei der Lektüre dieser Erzählungen in den Sinn kommen. Und sprachliche Genauigkeit. Manchmal führt Präzision zu einem unterkühlten literarischen Ton. Nicht so bei Bauer, durch dessen vor dunklem Hintergrund schillernde Erzählungen unterirdische Lavaströme fließen.“

Der Standard, Stefan Gmünder

Christoph W. Bauer

In einer Bar unter dem Meer

Erzählungen

ISBN 978-3-7099-7306-6

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Cover: Inserat 3

Er ist ein Faultier und ein Träumer, er ist mürrisch, liebenswert, wohlhabend und großzügig: Nepomuk Lakoter. Als er eines Tages stürzt und sich das Bein bricht, ist der verschrobene Müßiggänger keineswegs unglücklich darüber. Mit Liegegips an sein geliebtes Kanapee gefesselt, engagiert er eine rumänische Haushälterin. Doch mit Amalias Einzug ist erst einmal Schluss mit dem beschaulichen Leben. Mit ihren Putzanfällen stört sie seine Ruhe und treibt ihn an, endlich sein Leben in die Hand zu nehmen. Und so ganz nebenbei hätte sie auch noch eine schöne Nichte für ihn …

Johannes Gelich gilt als einer der interessantesten Autoren der jüngeren Generation in Österreich. In seinem vergnüglich-rasanten Roman macht er mit einem Aussteiger bekannt, der in Sachen Antriebslosigkeit dem großen Oblomow um nichts nachsteht. Ein ebenso satirisches wie sinnliches Sittenbild unserer Zeit und zugleich eine Hommage an die verlorene Generation der heutigen 40-somethings.

„Der gebürtige Salzburger hat ein besonderes Talent für hochkomische bis sarkastische Momentaufnahmen.“

Berliner Tagesspiegel, Kathrin Hillgruber

Johannes Gelich

Wir sind die Lebenden

Roman

ISBN 978-3-7099-7604-3

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Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Prolog
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Letztes und längstes Kapitel
Epilog
Selim Özdogan
Zum Autor
Impressum
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Prolog, in dem Krishna Mustafas Eltern sich im Pudding Shop kennenlernen, ihn zeugen, sieben Jahre zusammenleben und sich trennen

Maria war anders als die übrigen Ausländerinnen, die mit Recep geschlafen hatten. Aber wie die anderen hatte er auch sie im Pudding Shop kennengelernt.

Der 1957 von den Gebrüdern Çolpan eröffnete Pudding Shop lebte damals schon von seinem Ruf aus den 60er Jahren, als das Restaurant sich zum zentralen Austauschpunkt von Informationen über Reisen in den Osten entwickelt hatte. Man erfuhr, welche Straßen zugeschneit und nicht passierbar waren, wo Gefahren lauerten, an welchen Grenzübergängen man für ein kleines Bakschisch die Augen zudrückte. Der Pudding Shop war Treffpunkt der Hippies und Freaks, der Aussteiger und Abenteurer, die auf dem Landweg nach Indien, Nepal oder Thailand wollten, um dort etwas zu suchen, das sie zu Hause nicht finden konnten.

Der Pudding Shop, durch den heute Busladungen von Touristen durchgeschleust werden und in dem eine kleine Pinnwand an die Vergangenheit erinnert, heißt eigentlich Lale Restaurant, aber das steht nur noch ganz klein außen dran. Lale bedeutet auf Deutsch Tulpe. Die Tulpen fanden es lustig, dass die Menschen, die Blumenkinder genannt wurden, sich diese vier Buchstaben nicht merken konnten und deswegen das Restaurant immer nur den Pudding Shop nannten.

Dort, mit dem fröhlichen Gelächter der Tulpen, hat unsere kleine Geschichte ihren Anfang genommen. Als sich Maria und Recep im November 1989 kennenlernten, roch die Freiheit in der Welt, wie wir sie kennen, nicht nach Haschisch, freier Liebe, Yoga und Erleuchtung, sondern nach Reisefreiheit, Jeans, Vinyl und Südfrüchten. Recep, der Sohn eines wohlhabenden Viehhändlers aus Kars, war damals 22 und studierte an der Universität in Istanbul Deutsch. Er hatte Wirtschaft studieren wollen oder Jura, aber dafür hatte er bei den Aufnahme­prüfungen zur Universität zu schlecht abgeschnitten. Doch immerhin war er in Istanbul, nicht im Wohnheim, sondern in einer eigenen Wohnung im Stadtteil Balat. Sein Vater schickte ihm jeden Monat Geld und Recep verdiente sich etwas hinzu, indem er Haschisch an Touristen verkaufte, weil man die am besten übervorteilen konnte. Selbst diejenigen unter ihnen, die glaubten, das Handeln in Pakistan, Indien und dem Iran gelernt zu haben.

Recep studierte diszipliniert, doch genauso diszipliniert verbrachte er jeden Tag einige Zeit in der näheren Umgebung des Pudding Shops, um nach Kiffern Ausschau zu halten. Die Touristen, die Haschisch kauften, fühlten sich immer noch wie magisch angezogen vom Pudding Shop, und es gab dort immer noch eine Pinnwand, auf der Leute Reisegefährten und -informationen suchten und fanden. Recep mochte die Fremden, sie erzählten von einer Welt, die er nicht kannte. Und er mochte die Frauen, die ihn bereitwillig mitnahmen in ihre kleinen, verwanzten Hotelzimmer.

Maria war damals 23, sie hatte sich nach ihrem Abitur an der Universität in Köln für Regionalwissenschaften Lateinamerika eingeschrieben, doch war selten dort gewesen, weil sie gleich in der ersten Woche in einer Kneipe auf der Zülpicher Straße ihren ersten festen Freund kennengelernt hatte. Ruben war ein schlaksiger Typ mit langen, roten, leicht verfilzten Haaren, der ständig kiffte und plante, aus der Leistungsgesellschaft auszubrechen und im Einklang mit sich selbst zu leben. Er konnte Gitarre spielen, singen und war ein guter Liebhaber.

Als Marias Großmutter starb und ihr 8.000 Mark vererbte, kaufte Maria einen VW-Bus. Sie wollte zusammen mit Ruben nach Indien fahren, auch wenn man weit von der ursprünglichen Route des Hippie Trail abweichen musste, denn der Iran war im Krieg mit dem Irak und Afghanistan von den Sowjets besetzt. Fliegen empfanden die beiden als eine unnatürliche Form der Fortbewegung, bei der die Seele zurückblieb, es führte nur zu Jetlag, Kulturschock und Umweltverschmutzung.

Die Beziehung hielt mit Mühe bis Pakistan, weil Marias bürgerliche Erziehung voll durchschlug, wie Ruben meinte. Maria hatte die Schnauze voll davon, dass sie fahren sollte, während Ruben hinten die Britin vögelte, die sie über die Pinnwand im Pudding Shop kennengelernt hatten. Zunächst hatte er es offen getan, aber nach mehreren lautstarken Streits versuchte er den Sex zu verheimlichen, indem er sich währenddessen mit Maria unterhielt oder sich die beiden aufs Fummeln beschränkten. Maria ging es nicht so sehr um die Tatsache, sondern um die Gefahr, in einem islamischen Land beim Sex auf der Landstraße erwischt zu werden. Ruben beharrte darauf, dass das nur ein Vorwand sei, der tarnen sollte, wie eifersüchtig und verklemmt Maria war. Irgendwann hatte Maria genug, sie schmiss sowohl Ruben als auch Jane raus, es war schließlich ihr Bus. Der es mit Ach und Krach bis an die indische Grenze schaffte, bevor er den Geist aufgab.

Die nächsten 16 Monate verbrachte Maria in Indien, die meiste Zeit davon in Benares und Rishikesh, bis ihr ein dreadlockiger, magerer Mann mit eigentümlichem Glanz in den Augen eines Morgens am Ganges ungefragt erklärte, es sei an der Zeit für sie, nach Hause zu gehen, und zwar auf dem Weg, auf dem sie gekommen war. Zwei Seelen würden sie erwarten. Maria, die Durchfall, Fieber, neun Kilo Gewichtsverlust, mehrere Diebstähle, schlechtes Haschisch, den Anblick von Bettlern mit verstümmelten Gliedmaßen, sexuelle Belästigungen und Grapschereien in unübersichtlichen Menschenmassen einfach hingenommen hatte, hielt diese Worte für ein Zeichen und suchte sich eine Mitfahrgelegenheit.

Maria war anders, fand Recep. Klar, sie hatte einen Knall wie fast alle, die er vor dem Pudding Shop kennenlernte, sie meditierte, kiffte, chantete Mantren, sie erzählte stundenlang von den Sadhus und Gurus, der Entsagung, der Weisheit, dem Lächeln, der Bescheidenheit, der Wiedergeburt, der Seelenwanderung, sie rasierte ihre Beine nicht, duschte zu selten und aß zu wenig, doch sie interessierte sich für ihn. Für sein Land, für seine Sprache, für seine Familie, für seine Sicht der Dinge. Im Gegensatz zu den anderen glaubte sie nicht verstanden zu haben, wie Indien funktionierte, wie Pakistan und wie die Türkei. Sie schien zu ahnen, dass sie wenig wusste, deshalb wollte sie lernen. In Maria fand Recep eine Frau, die es nicht nur behauptete, sondern tatsächlich offen war und die nicht solche Ansprüche stellte, wie eine türkische Frau es getan hätte. Maria war nicht auf einen Versorger aus, sie zog einen gebildeten Mann vor. Recep hatte viel gelesen, viel mit Touristen gesprochen, seine Intelligenz beschränkte sich nicht nur auf einen guten Blick für den eigenen Vorteil. Beide hielten es für Liebe. Vielleicht war es das auch.

Im Oktober 1990 wurde Krishna Mustafa geboren, Krishna nach dem hinduistischen Gott, Mustafa nicht nach Mustafa Kemal Atatürk, dem Staatsgründer der Türkei, auch nicht nach Mohammed, dessen Beiname Mustafa war, sondern weil es der Auserwählte bedeutete und Recep glaubte, sein Sohn sei für Großes geschaffen.

Sechs Jahre lebten die drei in der Türkei, Recep schloss sein Studium ab, arbeitete als Deutschlehrer und verdiente nebenbei mit kleinen Geschäften etwas dazu. Maria lernte Türkisch, machte eine Ausbildung zur Krankenschwester und arbeitete, während ihre Schwägerin Sezen auf ihren gleichaltrigen Sohn Emre und auf Krishna Mustafa aufpasste. Die kleine Familie lebte ohne große Sorgen in einer Mietwohnung in Tophane.

Recep Tayyip Erdoğan war bereits zwei Jahre Bürgermeister von Istanbul, als Krishna Mustafas Einschulung nahte und der Haussegen deswegen schief hing. Maria wollte, dass er in Deutschland zur Schule ging, denn die deutsche Schule in Istanbul konnten sich die beiden beim besten Willen nicht leisten und in eine türkische Schule wollte sie das Kind nicht stecken. Recep verstand nicht, warum das Bildungssystem, das er selbst durchlaufen hatte, auf einmal so schlecht sein sollte, doch Maria setzte sich durch.

So zogen sie nach Freiburg. Dort hing der Segen aber mit jedem Tag noch schiefer, es fehlte an Geld, Recep fehlte es an Beschäftigung und Marias Eltern, die in Offenburg wohnten, hatten den Schwiegersohn noch nie gemocht. Irgendwann hing der Segen so schief, dass er vom Dach herunterstürzte, auf die Erde fiel und ein letztes Mal nach Luft schnappte. Man sah nur noch das Weiße in seinen Augen und dann starb er, ganz unchristlich, ohne Aussicht auf Wiederauferstehung. Als Recep zurück in die Türkei zog, hatte Krishna Mustafa in der Waldorfschule neue Freunde gefunden, die alle keine Cola trinken durften.

Erstes Kapitel, in dem Krishna Mustafa in Istanbul keine Moschee findet, seine erste Tafel dunkle türkische Schokolade kostet und sich verläuft

Alle sagen: der Islam, die Moscheen. Alle haben mir davon erzählt, Sultan Ahmet, Hagia Sophia, Süleymaniye, die Gebetsrufe, die bärtigen Männer, aber ich habe keine einzige Moschee gesehen. Wie viele Male (Tausende Male) bin ich nun schon die İstiklal Caddesi hoch- und runtergelaufen, die Fußgängerzone im Zentrum, bin aufs Geratewohl durch die Seitenstraßen gegangen, durch die kleinen, verwinkelten Gassen, durch die Passagen, doch ich habe keine einzige Moschee gesehen. Dafür jede Menge Kirchen. Griechisch-orthodox, evangelisch, ­katholisch, gotisch, armenisch, ich kenne mich nicht damit aus, griechisch-römisch, Freistil, Schmetterling und wie das alles heißt. Überall, an jeder Ecke eine Kirche. Aber keine einzige Moschee.

Dafür wurde mit Einbruch der Dunkelheit die Weihnachtsbeleuchtung eingeschaltet. Über die gesamte Länge der İstiklal gibt es Sterne, Schneeflocken, Tannengrün. Während ich nach Moscheen und dem Islam Ausschau halte, geht die Weihnachtsbeleuchtung an. Mitten im August.

In Deutschland glauben Menschen wie meine Mutter ja, dass die Welt bald untergeht, nur weil es ab September Spekulatius und Lebkuchen im Supermarkt gibt. Ich frage einen der Sesamkringelverkäufer, ab wann die Weihnachtsbeleuchtung hier brennt. Er sieht mich verwundert an.

Ab wann?

Ja, wann im Jahr fängt das an? Im Mai, im Juni, im Juli, wann wird diese Beleuchtung eingeschaltet?

Die brennt jede Nacht, sagt er, das ganze Jahr über. Wir sind ja keine Christen.

Wir sind keine Christen, wiederhole ich.

Ja, sagt er, wenn wir Christen wären, dann gäbe es eine Zeit dafür, so ist das mit der Religion und den Festen, es gibt für alles eine Zeit. Nur dem Verrückten ist jeder Tag ein Fest.

Wir sind keine Christen, wiederhole ich, aber warum stehen dann hier überall Kirchen herum? Seit Stunden suche ich eine Moschee, aber ich finde keine einzige.

Der Mann lacht. Die haben wir gebaut, damit die Leuchtreklame sich nicht so allein fühlt, sagt er.

Ich denke nach.

Die Kirchen sehen aber älter aus als die Weihnachtsbeleuchtung, sage ich.

Der Mann lacht, als hätte ich einen Witz gemacht.

Wir sind keine Christen, wiederhole ich. Und wenn die Christen jeden Tag ein Schaf schlachten oder jeden Tag fasten würden …

… dann wären sie keine Moslems, beendet er meinen Satz. Du hast es verstanden, mein Junge. Es gibt für alles eine Zeit. Die Christen kaufen mehr ein, wenn die Weihnachtsbeleuchtung an ist, hier wird das ganze über Jahr viel verkauft.

Ich nicke und denke nach. Zum Opferfest wird viel Fleisch konsumiert. Das könnte man auch in Deutschland nutzen, um den Konsum anzukurbeln. Wenn man es das ganze Jahr über tut, wird man ja nicht Moslem davon. Gut, jeden Tag wäre übertrieben, aber man könnte doch ruhig einmal die Woche Opferfest feiern. So wie die Grünen diesen vegetarischen Tag in den Kantinen vorgeschlagen haben. Davon hat Hase mir erzählt. Das kam nicht gut an. Aber einmal die Woche noch mehr Fleisch wäre etwas anderes. Man muss das Lamm oder Schaf, die Ziege oder die Kuh ja nicht unbedingt selber schlachten. Oder das Schwein. Schließlich sind wir keine Moslems.

Der Sesamkringelverkäufer sieht mich an.

Schließlich sind wir keine Moslems?, sagt er aufgebracht.

Keine Christen, meinte ich. Ich verabschiede mich und gehe weiter.

Komisch, dass ich bei dem Gedanken an Fleisch Lust auf Schokolade bekommen habe. Es gibt keine Moscheen, aber kleine Läden findet man an jeder Ecke. Ich kaufe in einem eine dunkle türkische Schokolade. Sonst mache ich mir nicht viel aus Essen, aber die Schokolade muss schmecken. Wenn ich groß bin, möchte ich mal Nachtischler werden und einen Schokoladen bauen, sagt Hase immer. Ich mag Schokolade. Nicht Zucker und Pflanzenfett, ich mag Schokolade, deswegen steht auf der Packung Kakaoanteil 70 % drauf. Ich stecke mir ein Stück in den Mund.

Es schmeckt nicht. Die Schokolade ist nicht schlecht, sie schmeckt nur nicht. Überhaupt nicht. Schlimmer als Vollmilchschokolade. Ich gucke noch mal auf die Packung. 70 % steht da. Dunkle Schokolade kauft man doch wegen des Geschmacks. Was habe ich davon, wenn da 70 % Kakao drin ist, aber der Kakao nicht schmeckt? Das ist ja wie ein Konzert, zu dem 70.000 Zuschauer kommen, die aber alle taub sind.

Ich werfe die Tafel weg und sehe auf mein Handy. Noch eine halbe Stunde bis zur Verabredung mit meinem Vater vor dem Starbucks auf der İstiklal. Vielleicht liegt es an der Schokolade, vielleicht liegt es an den Religionen, den Kirchen, den fehlenden Moscheen, der immerwährenden Weihnachtsbeleuchtung, der Tatsache, dass es in Deutschland Halloween gibt, aber kein Opferfest, auf jeden Fall verlaufe ich mich heillos. Dabei kennen alle Leute, die ich frage, den Starbucks auf der İstiklal, nur schickt mich jeder in eine andere Richtung und schließlich weiß ich gar nicht mehr, ob ich eher bergauf oder bergab muss, um überhaupt die Fußgängerzone wiederzufinden.

Als ich endlich vor dem Starbucks stehe, bin ich zwanzig Minuten zu spät. Mein Vater ist nicht da. Zwölf Jahre habe ich ihn nicht gesehen, aber ich würde ihn sofort erkennen. Da bin ich mir sicher. Ich bekomme eine SMS. Mein Vater schreibt, dass er über vierzig Minuten auf mich gewartet hat, dass er sein Handy im Auto vergessen hatte und jetzt auf dem Heimweg ist. Ob mit mir alles in Ordnung sei.

Ich schaue auf die Uhr. Ich schaue lange auf die Uhr an meinem Handgelenk. Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort, sagt meine Mutter immer. Und dass die Dinge ihr Geheimnis von selbst enthüllen, wenn man nur geduldig und ruhig ist.

Schläft ein Lied in allen Dingen. Schläft. Ich habe es verpennt. Ich habe es verpennt, die Uhr umzustellen.

In zwei unbekannten Ländern.

Vor gar nicht allzu langer Zeit.

Zweites Kapitel, in dem Krishna Mustafa seinen neuen Mitbewohner kennenlernt, ihm den Grund seiner Reise erklärt und einen Auftritt von Erdoğan sieht

Isa war gestern nicht zu Hause, ich habe den Schlüssel bei den Nachbarn geholt. Jetzt höre ich, wie er aufschließt, stehe auf und sehe mich im Flur einem eins neunzig großen Mann gegenüber. Er ist dünn, hager im Gesicht, mit schulterlangen, leicht gewellten braunen Haaren, die in der Mitte gescheitelt sind. Sein Vollbart ist kurz, aber ungepflegt.

Wir geben uns die Hand.

Krishna Mustafa, sage ich.

Isa, sagt er, hocherfreut. Willkommen in Istanbul, willkommen in der Türkei. Ich hoffe, du hast gut hierhergefunden.

Ja, danke. Es war kein Problem. Es war leichter, als eine Moschee zu finden.

Tut mir leid, dass ich gestern nicht hier sein konnte, ich war in Bursa auf einer Hochzeit. Krishna Mustafa, was ist das für ein Name?

Wir setzen uns ins Wohnzimmer und ich erzähle ihm die Geschichte, die ich immer erzähle. Sie gehört zum Kennenlernen dazu wie die Komplimente über die Sprachkenntnisse.

Dein Türkisch ist recht ordentlich, dafür, dass du so lange nicht mehr hier warst, sagt Isa.

Danke, gleichfalls, sage ich.

Und was machst du jetzt hier?, möchte er wissen. Emre hat nur erzählt, dass du die Türkei besser kennenlernen möchtest.

Emre ist mein Cousin und wohnt seit gestern in meinem WG-Zimmer in Freiburg, dafür habe ich sein Zimmer hier.

Nein, nicht die Türkei, sage ich. Ich möchte mich besser kennenlernen. Meine Wurzeln. Ich bin gekommen, weil ich meine Identität finden möchte.

Ich denke an Laura und wie sie gesagt hat: Du machst mich wahnsinnig, Krishna, du hast einfach deine Identität noch nicht gefunden, du bist 24, aber hast noch nicht mal angefangen, dich selbst zu suchen. Du hast keine Meinung zur Türkei, zu deinem Verhältnis zu deinem Vater oder zu deinen Wurzeln, du willst überhaupt nicht herausbekommen, wo du im Leben stehst. Du musst doch mal eine Perspektive entwickeln, einen Horizont. Ich kann mit so jemandem einfach nicht zusammenbleiben. Das musst du verstehen.

Deine Identität?

Isa lacht, als hätte ich einen Witz gemacht.

Ich habe auch gelacht, als Laura zu mir gesagt hat, ich hätte meine Identität noch nicht gefunden. Weil ich sie ja nie irgendwo verloren hatte. Ich habe gelacht und sie hat mich verlassen.

Und jetzt möchtest du von den Türken etwas über die Türken erfahren?

Ja.

Isa nickt, verschränkt die Finger und reibt die Daumenballen aneinander.

Du willst etwas über die Türkei lernen, über deine Wurzeln, deine Herkunft, deine Ethnie. Und wo willst du suchen? Willst du den Topkapı-Palast besichtigen, den Galata-Turm besteigen und all das machen, was Touristen so machen?

Nö.

Was denn?

Ich weiß noch nicht genau.

Ich kann dir einen Tipp geben, sagt Isa: Wenn du etwas über den Wald lernen möchtest, fragst du dann einen Baum oder fragst du die Vögel?

Ich mag es nicht, wenn Menschen so reden. Ich bin nicht doof. Ich weiß, dass weder Bäume noch Vögel reden können.

Natürlich können die nicht reden, sagt Isa, kneift die Brauen zusammen, dass seine Augen zu schmalen Schlitzen werden, und sieht mich prüfend an. Dann lacht er wieder.

Such bloß nicht an der falschen Stelle, sagt er. Wir sind ein abgefeimtes Volk, lass dir das gesagt sein.

Ich nicke. Ich mag nicht, wenn Menschen etwas von Adlern und Vögeln und Ameisen erzählen, aber ich mag Isa, weil er es gut meint, das kann ich sehen. Weil er es gut meint und viel lacht.

Was machst du denn so?, frage ich.

Ich studiere, sagt er und lacht wieder.

Was ist daran so komisch?, frage ich.

Ich studiere etwas, das es nicht gibt.

Das es nicht gibt?

Ja. So wie katholische Theologie in Saudi-Arabien.

Aber du studierst doch hier?

Ja. Ich sage doch: so wie. So wie Meeresbiologie in der Mongolei.

Aber was studierst du denn nun?

Er lacht. Er lacht, dass ihm die Tränen kommen. Städte­planung, sagt er.

Ich verstehe den Witz nicht.

Du bist ja noch ein paar Tage hier, du wirst schon dahintersteigen.

Zwei Stunden später klopft Isa an meine Zimmertür und schaut rein, ich baue gerade Aya Triada, die große Kirche, die man von Taksim aus sieht.

Hör mal, Krishna, sagt er, du willst dieses Land doch kennenlernen. Ich habe gerade einen Anruf bekommen, ich muss dringend nach İzmir, es sieht mal wieder so aus, als würde meine Oma ihre letzte Reise antreten. Ich weiß nicht, wie lange ich weg sein werde, aber ich habe eine Karte für Erdoğan für heute Abend, die kann ich dir geben.

Letzte Reise?

Isa lacht und fragt: Möchtest du diese Karte?

Ja, gerne.

Der Islam, haben sie gesagt, die Islamisierung des Landes, die Kopftücher, haben sie gesagt, die verschleierten Frauen, die Männer mit Bärten. Aber die Männer sind alle rasiert und die Frauen total aufgetakelt, kein einziges Kopftuch im ganzen Saal, dafür riecht es penetrant nach Parfüm, Haarspray und Rasierwasser. Kurz bevor es losgeht, werde ich ein wenig aufgeregt, weil mir einfällt, dass sie zu Beginn vielleicht die Nationalhymne spielen, doch dann kommt nur so eine komische basslose Musik und danach die Geräusche einer mechanischen Schreibmaschine. Das ist vielleicht eine Antwort auf die digitale Überwachung.

Dann kommt unter großem Applaus Erdoğan auf die Bühne. Ein kleiner, dunkelhaariger Mann mit schütteren Haaren und Schnurrbart. Er beginnt damit, Witze über die zu spät kommenden Besucher zu machen. Ich kann nicht alles verstehen, was er sagt, manchmal nuschelt er ein bisschen und manchmal reicht mein Türkisch auch nicht.

Dann erklärt er, warum er diesen Job macht und nicht einfach einer normalen Arbeit nachgeht. Er sagt, er finde seine Arbeit nicht lustig, sie sei ihm ernst, aber die Leute würden immer lachen. Dabei würde er auch gerne einer geregelten Tätigkeit nachgehen, aber das Leben habe ihn zu dem gemacht, was er ist. In seiner Kindheit habe er die Sommer in Hakkâri und die Winter in Ankara verbracht. Das habe ihn zu einem Schauspieler werden lassen, weil er ausgelacht wurde, wenn er in Hakkâri akzentfreies Türkisch sprach und in Ankara in Dialekt verfiel. Er habe in Ankara Cola getrunken, während es das in Hakkâri nicht gab.

Ich habe etwas anderes erwartet, aber nun fühle ich mich diesem Mann verbunden. Als Kind habe ich in der Türkei viel Cola getrunken, eigentlich jeden Tag, aber als ich dann nach Deutschland kam, war in der Cola auf einmal zu viel Zucker drinnen und zu viel Koffein und zu viel Amerika und zu viel Konsum und ich durfte nur noch ungesüßte Säfte trinken. Erdoğan weiß, wie es ist, ohne Cola zu sein.

Ronald Reagan war ja auch Schauspieler und meine Mutter erzählt heute noch, wie sie damals extra nach Berlin gefahren ist, um gegen ihn zu protestieren. Ich glaube, ich finde es gut, wenn Politiker Schauspieler sind. Dann sehen sie besser aus und man langweilt sich nicht so, wenn sie reden. In Deutschland dürfen Politiker ja nicht gut aussehen und mitreißend dürfen sie auch nicht sein. Das ist, weil wir schlechte Erfahrungen mit dem letzten gemacht haben, der mitreißend war, sagt Hase immer. Hase ist mein Freund und sagt viele Sachen, die klug klingen.

In diesem Land sind wir zu Geologen geworden, nachdem uns ein Erdbeben erschüttert hat, wir sind zu Ökonomen geworden, nachdem uns die Finanzkrise gebeutelt hat, wir lernen unsere Lektionen erst, wenn es schon zu spät ist, sagt Erdoğan, und ich bin erstaunt, weil ja Politiker sonst nie Dinge sagen, die ehrlich klingen. Doch als er anfängt, darüber zu reden, dass die Türken sich selbst nicht mögen und dass sie deswegen kein Recht haben, Respekt oder Achtung von Europa einzufordern, dass sie nicht besonders klug sind und dass sie den Untergang verdient haben, kommen mir Zweifel. Ist das der Präsident dieses Landes?

Mein Sitznachbar dreht den Kopf und sieht mich an. Ich ergreife die Gelegenheit und frage ihn: Ist das der türkische Präsident?

Ich mag es nicht, wenn Leute einfach nur komisch gucken oder anfangen zu lachen, wenn man eine Frage stellt. Gegenfragen finde ich nicht so schlimm.

Willst du mich verschaukeln?, fragt mein Nachbar, schaut wieder nach vorne und lacht, obwohl Erdoğan keinen Witz gemacht hat.

Nein, denke ich, Isa wollte mich verschaukeln. Das ist gar nicht Erdoğan.

Ich drehe mich zur anderen Seiten und frage: Wie heißt dieser Mann da vorne?

Yılmaz Erdoğan.

Yılmaz. Yılmaz … Ich komme gerade nicht auf den Namen, aber der Präsident hat einen anderen Vornamen, das hier ist der falsche Erdoğan. Ich bin auf der falschen Veranstaltung. Die nächsten zehn Minuten lache ich auch an den Stellen, an denen Erdoğan keine Witze macht.

Drittes Kapitel, in dem wir Emre kennenlernen, Krishna Mustafa eine Moschee findet und in einem Waffenladen Zuflucht sucht

Du bist ja lustig, sagt Emre und lacht. Du hast echt geglaubt, Isa hätte dir eine Karte zu einem Auftritt des Präsidenten gegeben?

Du bist ja lustig, das hat Laura am Anfang auch immer gesagt. Wir haben viel zusammen gelacht, nicht nur am Anfang, wir haben 16 Monate viel gelacht und dann hat sie auf einmal erkannt, dass ich meine Identität noch nicht gefunden habe, und sich getrennt. Ich sehe Emre auf dem Bildschirm, im Hintergrund kann ich mein Bett erkennen. Das Bett, in dem ich so viel Zeit mit Laura verbracht habe. Mit Laura konnte jeder Wochentag und jede Tageszeit ein Sonntagmorgen werden. Ich frage mich, ob Emre und sie sich über den Weg laufen werden. Bestimmt.

Emre studiert Deutsch und Englisch in Istanbul und macht gerade ein Auslandssemester in Freiburg. Als Kinder waren wir Nachbarn und haben immer zusammen gespielt, während meine Mutter bei der Arbeit war. Seit wir 15 sind, haben wir wieder Kontakt, über das Internet.

Emre wollte sein Auslandssemester zuerst in Berlin machen, aber wir haben gedacht, wenn er nach Freiburg kommt, können wir mehr Zeit miteinander verbringen. Dann hat Laura mit mir Schluss gemacht und ich wollte unbedingt in die Türkei, um dort meine Identität zu suchen. So haben wir die Zimmer getauscht und nun ist er in Freiburg, lange bevor das Semester anfängt.

Wie geht es dir denn da?, frage ich.

Nach Istanbul und nach London ist das ein Dorf, sagt er, man kann überall zu Fuß hin, aber es gibt alles, was es in einer Großstadt geben muss. Alkohol ist billig. Und das Biogemüse. Ich werde gesund essen und viel Bier trinken, so viel steht fest. Wenn man alleine ausgeht, guckt einen niemand komisch an. Ich war schon in ein paar Kneipen, die mir gefallen haben. Die scheinen ganz in zu sein, aber niemand dort ist aufgetakelt und protzt. Es ist fast so, als gäbe es kein Nachtleben für die Reichen in dieser Stadt. Oder man sieht den Reichen ihren Reichtum nicht an. Und alle sagen immer achso. Weißt du das eigentlich? Achso, wenn man etwas versteht, achso, wenn man etwas nicht versteht, achso, wenn etwas anders ist als erwartet, achso, wenn man jemanden verarschen möchte, achso, wenn man überrascht ist, achso, wenn man etwas vergessen hat, achso, wenn einem etwas einfällt, achso, wenn man etwas nicht glaubt, achso, wenn man etwas glaubt, achso, wenn man ironisch sein möchte.

Ach so.

Ja. Das sagt ihr ständig. Wie ein Zauberwort oder so.

Kann sein.

Ist so.

Ach so, ist so. Hast du schon festgestellt.

Ja, glaub mir.

Ich werde mal darauf achten.

Nachdem ich mit Emre gesprochen habe, baue ich Aya Triada zu Ende und beschließe anschließend, in die Moschee zu gehen. Um nicht noch einmal so eine Pleite zu erleben wie bei der Suche nach Starbucks, entscheide ich mich für Sultan Ahmet, die Blaue Moschee. Das ist die, in die alle Touristen gehen, die werde ich sicherlich finden.

Es ist heiß. Der heißeste Sommer in Istanbul seit Jahren, hat Emre gesagt, bevor ich gefahren bin. Heiß wie die Türangeln der Hölle. Meine Dreads fühlen sich an wie Brennstäbe, die von meinem Kopf baumeln, also gehe ich zum Friseur und lasse sie mir schneiden. Das wird dir schwerfallen, dich irgendwann von ihnen zu trennen, hat Hase immer gesagt, aber es ist ganz einfach. Nur den Bart möchte ich behalten und lasse ihn nicht rasieren.

Als ich rauskomme, kommt es mir schon weniger heiß vor, dafür brennt jetzt die Sonne auf meiner Kopfhaut, deshalb kaufe ich in einem Laden eines dieser kleinen weißen Käppis, wie sie die Gläubigen häufig tragen.

Am Touristeneingang von Sultan Ahmet ist eine lange Schlange. Ohne Dreadlocks und mit Käppi nehme ich einfach den Eingang für das Gebet, dort steht niemand an.

Ich kann nicht beten, das hat mir nie jemand beigebracht. Ich weiß nur, dass man auf die Knie fällt, sich auf die Fersen hockt, die Stirn auf diesen Teppich legt, den Kopf nach links und rechts dreht und irgendwann die Handflächen nach oben nimmt. Ich will es einfach mal versuchen. Ich beginne im Stehen und bewege ein wenig die Lippen. Das fühlt sich gut an. Es kommt mir vor, als würde Gott anerkennend nicken. Er versteht ja jede Sprache, nicht nur die richtige. Dann sinke ich auf die Knie und lege die Stirn auf den Boden. Schon vorher im Stehen hat es nach Fußschweiß gerochen, aber jetzt ist es so, als hätte jemand Fußgeruch aus mehreren Jahrhunderten gesammelt und daraus eine Essenz hergestellt. Ein winziger Tropfen würde genügen, um eine Tonne Kaffee ungenießbar zu machen.

Ich bleibe da unten, atme entspannt weiter. So schlimm, wie die Leute immer tun, ist Fußgeruch gar nicht. Ich liege mit der Stirn auf dem Boden und denke über Gott nach. Er hat sicherlich nichts gegen Fußgeruch. Er hat ihn schließlich erfunden. Aber vielleicht findet er diese Art zu beten komisch. Er sieht ja alles, nichts bleibt ihm verborgen. Auch wenn ich jetzt Richtung Mekka bete, sieht er mich gleichzeitig von hinten, wie ich ihm den Arsch entgegenstrecke. Ich weiß nicht, ob er es gut findet, immer nur Nacken und Ärsche zu sehen.

Ich stehe auf, murmle wieder irgendetwas vor mich hin, falle auf die Knie, Stirn auf den Boden, wieder aufstehen. Ich mache das noch einige Male. Es ist heiß und ich habe ohnehin schon geschwitzt, noch bevor ich mich bewegt habe. Jetzt ist auch noch mein Kreislauf in Schwung gekommen und das bringt mich auf eine Idee.

Ich lege mich mit dem Rücken auf den Boden, stelle die Füße an meinem Hintern auf, setzte die Hände neben die Ohren und drücke mich hoch in die Brücke. Das haben wir als Kinder oft gemacht (Tausende Male), und Laura macht es immer beim Yoga, das kann Gott nicht schlecht finden. Ich biete ihm mein Herz dar statt meinen Rücken und meinen Arsch. Ich schlage eine Brücke zwischen dieser Welt und jener unsichtbaren Welt.

So eine Brücke ist anstrengend, als ich runterkomme, bin ich außer Puste. Ich richte mich auf, setze mich auf die Fersen und warte so, bis mein Atem sich beruhigt hat.

Hase sagt, im Westen werde immer behauptet, Islam würde auf Arabisch Unterwerfung bedeuten, aber die Leute, die das sagten, könnten in der Regel kein Arabisch. Er hat mir erklärt, dass Islam Hingabe heißt. Hase hat mal Arabisch studiert.

Ich habe versucht, Gott alles zu geben, was ich zu bieten habe, aber als ich aus der Moschee rauskomme, hat sich der Himmel verdunkelt und es weht ein Wind, der sich anfühlt, als würde man sich am ganzen Körper föhnen. Ich habe eine Stadtplan-App auf mein Handy geladen, damit ich mich nicht mehr verlaufe und die Leute mich nicht in die falsche Richtung schicken können. Ich gehe runter Richtung Eminönü, von dort will ich mit dem Bus nach Hause fahren. Unterwegs fängt es an zu regnen, zunächst ganz leicht, aber dann wird es schnell stärker und ich gehe in den nächstbesten Laden, um nicht nass zu werden.

Es ist ein Waffenladen, in dem es Gewehre, Pistolen und Messer gibt. Ich gucke mir die Gewehre an, es interessiert mich, was hier so frei verkauft wird. Nicht, dass ich etwas davon verstehen würde, außer dass das hier keine Luftdruckgewehre sind. Ich nehme eins von der Halterung und lege an, weil ich wissen möchte, wie sich das anfühlt. Als Kind durfte ich kein Spielzeuggewehr haben, auch keines aus Holz. Ich durfte nicht mal eines im Laden ganz kurz in die Hand nehmen. Und jetzt nehme ich mir gleich das nächste und lege noch mal an. Dieses scheint sich besser an meine Schulter zu schmiegen. Das dritte, das ich ausprobiere, ist ein wenig zu schwer. Das vierte liegt am besten in der Hand, ich schaue in den Spiegel, ob es mir so gut steht, wie es sich anfühlt. Ich finde, ich sehe damit gefährlich aus, und fange an zu lachen.

Der Regen wird noch stärker. Ich schaue zur Tür hinaus. Wassermassen fließen die Straße hinunter. Es sieht nicht so aus, als würde es regnen, es sieht aus, als würden Lufttropfen in ein Meer fallen.

Viertes Kapitel, in dem Krishna Mustafa zum Pudding Shop geht, zum ersten Mal Nesrin begegnet und erneut seinen Vater verpasst

Hase hat viel erzählt vom Pudding Shop und wie er dort mal Jörg Fauser getroffen hat, der damals opiatabhängig war. Aber nicht das Opiat, sondern der Alkohol zerstört die Menschen, sagt Hase immer und redet dann von Jim Morrison, Janis Joplin, Jimi Hendrix, aber auch von Amy Winehouse und von Jeffrey Lee Pierce. Hase ist damals nicht bis nach Indien gefahren, sondern irgendwann aus Afghanistan wieder zurück nach Deutschland, aber das ist eine andere Geschichte.

Meine Mutter hat nicht so viel erzählt vom Pudding Shop, außer dass mein Vater und sie sich dort kennengelernt haben. Und dass es dort diesen Pudding gibt, in dem auch Hühnchenbrust ist, auch wenn man das nicht schmeckt.