Illustration

Carl Djerassi: Stammesgeheimnisse

Carl Djerassi

STAMMESGEHEIMNISSE

Cantors Dilemma
Das Bourbaki Gambit

Zwei Romane aus der Welt der Wissenschaft

Aus dem Amerikanischen
von Ursula-Maria Mössner

Haymon

 

 

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-7099-7359-2

www.haymonverlag.at

Die Aufführungsrechte für Carl Djerassis Theaterstücke (siehe Kap. »Über den Autor«) liegen beim Bühnen- und Musikverlag Hans Pero, Bäckerstraße 6, A 1010 Wien, Tel.: 0043/1/5123467, E-Mail: office@peroverlag.at.

Satz: Haymon Verlag

Umschlaggestaltung: Benno Peter

Scans: Laserpoint lnnsbruck

 

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Inhalt

Vorwort

Cantors Dilemma

Das Bourbaki Gambit

Über den Autor

Vorwort

Cantors Dilemma und Das Bourbaki Gambit waren die beiden ersten Bände einer Roman-Tetralogie im Genre „Science-in-Fiction“, in der ich versuchte, ein exaktes Bild der derzeitigen Welt der Naturwissenschaften zu zeichnen, indem ich mich des Mediums der realistischen Fiktion bediente – gelegentlich so realistisch, daß es bereits an literarischen Journalismus grenzt oder an Autobiographie, die sich als Fiktion ausgibt. Aber da Romanautoren häufig maskentragende Autobiographen sind, gebe ich offen und sogar voller Stolz zu, daß diese Aussage auch für mich gilt. Warum voller Stolz? Weil in der Forschung tätige Naturwissenschaftler, insbesondere die an den härteren Rändern der Chemie und Physik, Angehörige einer Stammeskultur sind, deren idiosynkratische Verhaltensweisen nicht nur der Außenwelt fremd sind, sondern häufig nicht einmal von den Stammesangehörigen selbst als solche erkannt werden. Das Wissen, wie man sich als Naturwissenschaftler verhält – ja sogar, was es heißt, Naturwissenschaftler zu sein –, wird im allgemeinen nicht in Seminaren oder Büchern vermittelt, sondern durch einen langen osmotischen Prozeß im Laufe der traditionellen Lehrer-Schüler-Beziehung erworben. Und so übernehmen wir den weißen Labormantel ganz allmählich als unsere kulturelle Uniform.

Nachdem ich fast ein halbes Jahrhundert lang chemische Forschung betrieben habe, darf ich mich mit Fug und Recht als der Spezies Homo scientificus zugehörig bezeichnen. Ob mich das auch befähigt, aufschlußreich und scharfsichtig über die kulturellen Praktiken unseres Stammes zu schreiben, kann nur der Leser beurteilen, obgleich ich behaupten möchte, daß es eines Insiders bedarf, um einige unserer esoterischeren kulturellen Praktiken zu beleuchten, die von außergewöhnlich großzügiger Kollegialität bis hin zum brutalen Konkurrenzkampf beim Gieren nach dem Nobelpreis reichen. Die überwiegende Mehrheit der in der Forschung tätigen Naturwissenschaftler, insbesondere deren männliche Vertreter, verschwenden wenig Zeit mit Selbstbeobachtung und Selbstanalyse. Wir sind darin geschult, die Welt um uns herum bis ins kleinste Detail zu analysieren, und das oft mit erstaunlichem Scharfsinn, aber nur selten bedienen wir uns dieser Fähigkeiten, um unser Stammesverhalten einer Prüfung zu unterziehen. Unsere 60- bis 80-Stunden-Woche – an sich schon eine Manifestation von naturwissenschaftlichem Machismo und beruflicher Fixiertheit – läßt kaum Zeit für reflexive Selbsterforschung. Bei mir verhielt es sich in dieser Hinsicht nicht viel anders, bis ich mich, mit Anfang sechzig, zu einer Art Auto-Psychoanalyse entschloß und Romane im Genre „Science-in-Fiction“ zu schreiben begann. Dies gab mir die Freiheit, mich so auszudrücken, wie ich es aus Scham, Verlegenheit oder sogar Angst im Rahmen der üblichen Prosa vermutlich nie getan hätte. So mancher Naturwissenschaftler-Kollege hat mich gefragt, warum sich ein so großer Teil meiner halbfiktiven Romane darauf konzentriert, schmutzige Labormäntel in aller Öffentlichkeit zu waschen. Darauf antworte ich unweigerlich, daß weiße Mäntel bei der Arbeit nun einmal schmutzig werden; daß harte und intensive Arbeit sie oft nur um so schneller besudelt; daß aber mit ehrlicher Arbeit verbundener Schmutz nicht versteckt werden muß, da er sich leicht auswaschen läßt. Und daß wir uns lieber mit jener Art von Schmutz befassen sollten, die bleibende Flecken hinterläßt.

Als ich Cantors Dilemma und später Das Bourbaki Gambit schrieb, waren sie als eigenständige und nicht miteinander zusammenhängende Romane konzipiert. Erst später, als ich mich dabei ertappte, daß ich eine ganze Tetralogie verfaßte, um die naturwissenschaftlichen Praktiken abzudecken, mit denen ich meine Leserschaft bekannt machen wollte, wurde mir klar, welch enger Zusammenhang zwischen den beiden ersten Bänden bestanden. In beiden geht es um den der Kreativität zugrundeliegenden Antrieb und das damit verbundene Gehabe und Getue, das Akademiker aller Altersstufen an den Tag legen. Während sich in Cantors Dilemma Diplomanden, Doktoranden und Postdocs sowie angehende und im besten Mannesalter befindliche etablierte Professoren tummeln, beleuchtet Das Bourbaki Gambit eine im fortgeschrittenen Alter befindliche Untergruppe – noch aktive Naturwissenschaftler über 60 –, die in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich früh aufs Altenteil abgeschoben werden. In diesem Kontext beschäftige ich mich mit einem Aspekt der naturwissenschaftlichen Kultur, der so gut wie nie angesprochen wird, nämlich der Unfähigkeit von Naturwissenschaftlern, unter einem Pseudonym zu veröffentlichen, womit sie in krassem Gegensatz zu vielen echten Schriftstellern stehen, denen es zwar ebenfalls um Ruhm und Ehre geht, die aber fähig sind, beides hinter dem Schleier der Anonymität zu genießen.

Daß diese Themen von allgemeinem Interesse sind, beweist die Tatsache, daß Cantors Dilemma inzwischen in acht und Das Bourbaki Gambit in sechs Sprachen vorliegt. In den USA erleben beide Romane fast jedes Jahr eine Neuauflage, weil sie, obwohl für ein breites Publikum geschrieben, an vielen Colleges und Universitäten als Lehrbuch oder empfohlene Lektüre in der Art von Kursen dienen, die in den letzten Jahren zu Themen wie „Naturwissenschaft – Technologie – Gesellschaft“ und „Ethik in der Forschung“ wie Pilze aus dem Boden schießen. In Deutschland fand Cantors Dilemma, seit seinem Erscheinen vor zehn Jahren, viele Leser (auch aufgrund der Veröffentlichung als Fortsetzungsroman in einer großen Zeitung), ist jedoch seit drei Jahren vergriffen, und das genau zu dem Zeitpunkt, da die darin angesprochenen Fragen, insbesondere die Reproduzierbarkeit wissenschaftlicher Forschungsergebnisse, in den deutschen Medien und in der deutschen Öffentlichkeit zunehmend größere Beachtung finden. Und auch die deutsche Übersetzung meines eigenen Lieblingsromans, Das Bourbaki Gambit, ist inzwischen vergriffen. Ich konnte meinen neuen Verlag Haymon jedoch dazu bewegen, die beiden Romane unter dem Titel Stammesgeheimnisse in einem Band herauszubringen.

Ich habe den neuen Titel nicht gewählt, um früheren Lesern meiner Belletristik vorzugaukeln, es handele sich um ein neues Werk, sondern um gegenüber einer neuen Leserschaft zu unterstreichen, daß das Leitmotiv beider Romane das Stammesverhalten der naturwissenschaftlichen Welt ist. Ich bin überzeugt, daß sowohl die neue Generation deutscher, österreichischer und Schweizer Naturwissenschaftler als auch der gebildete, naturwissenschaftlich nicht vorbelastete deutsche Leser sehr wohl daran interessiert sein könnte, sich unter dem Deckmantel der Fiktion mit den Stärken und Schwächen an Universitäten tätiger Naturwissenschaftler – einer wichtigen Komponente der modernen Gesellschaft – zu beschäftigen, und das anhand zweier Bücher, die beide Seiten ein und derselben Medaille präsentieren. Ich will jedoch gerne gestehen, daß mich noch ein anderes und persönlicheres Argument veranlaßte, einen in Innsbruck ansässigen Verlag zu bewegen, Das Bourbaki Gambit mit Cantors Dilemma zu kombinieren, weil dieses Eingeständnis längst überfällig ist, vor allem gegenüber früheren Lesern meiner Romane. Obwohl Deutsch (d.h. die Wiener Variante) meine Muttersprache ist, ist Englisch schon seit vielen Jahren die Sprache, in der ich träume. Außerdem habe ich seit meiner Emigration aus Wien, nach dem Anschluß im Jahre 1938, Belletristik praktisch nur in englischer Sprache gelesen. Und da ich überzeugt bin, daß man Literatur nur in einer Sprache schreiben kann, in der man träumt, entstanden alle meine Romane und Theaterstücke in Englisch. Ich hatte das Glück, daß die deutsche Übersetzerin meines ersten Romans, Ursula-Maria Mössner, auch alle meine folgenden Bücher übersetzte. Ihr professionelles Können wird nur noch von der Geschwindigkeit übertroffen, mit der sie arbeitet, was zur Folge hat, daß alle meine Bücher, obwohl in Englisch verfaßt, zuerst in deutscher Übersetzung erschienen sind, manchmal sechs oder sogar zehn Monate früher als das englische Original. Aber aus welchem Grund bedarf das hier einer Erklärung?

Das Bourbaki Gambit ist nicht nur deshalb mein Lieblingsbuch, weil ich mich mühelos mit der Altersgruppe meiner fünf Protagonisten identifizieren kann. Es gestattete mir auch, in weit höherem Maße verschleierte autobiographische Details einfließen zu lassen als in allen meinen anderen Romanen, und erlaubte mir gleichzeitig, persönliche kulturübergreifende Erkundungen anzustellen, insbesondere was die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Naturwissenschaftlern aus Amerika, Europa und Japan betrifft. Der japanische Held basiert ganz unverblümt auf meinem ältesten japanischen Freund, dem weltberühmten Chemiker Koji Nakanishi, der als Jiko Nishinaka sogar die Hauptfigur einer meiner Kurzgeschichten ist. Es hätte nahegelegen, die Eigentümlichkeiten europäischer Naturwissenschaftler höheren Alters anhand eines Engländers, Franzosen oder Deutschen zu illustrieren. Statt dessen entschied ich mich für einen Österreicher, der natürlich aus Wien hätte sein müssen. Doch meine im Unterbewußtsein wirkende Muse ließ mich meinen fiktiven österreichischen Naturwissenschaftler, Professor emeritus Sepp Krzilska, an der Universität Innsbruck ansiedeln, in einer Stadt, die ich weder während meiner Kindheit in Österreich noch als Erwachsener jemals besucht hatte, bis ich dort vor einigen Jahren aus Das Bourbaki Gambit las. Warum also gerade Innsbruck?

Meine Beteiligung an der ersten Synthese eines oralen Verhütungsmittels ist eine meiner bedeutenderen wissenschaftlichen Leistungen. Ich habe mich in zahlreichen Aufsätzen und Vorträgen mit diesem Thema und seinen weitreichenden Auswirkungen bei der bevorstehenden Trennung von Sex und Reproduktion befaßt, unter anderem in einem speziellen Seminar an der Stanford University über „Sex im Zeitalter der mechanischen Reproduzierbarkeit“ und in einem Theaterstück mit dem Titel „Unbefleckt“. Aus Anlaß des 50. Jahrestages dieser Synthese am 15. Oktober 1951 veröffentlichte der Haymon Verlag die deutsche Übersetzung meines neuesten Buches, This Man’s Pill – Sex, die Kunst und Unsterblichkeit (wiederum übersetzt von Ursula-Maria Mössner und wiederum einige Monate vor dem englischen Original, das bei der Oxford University Press erschien). Ich entschloß mich, darin eingehend und in aller Form einem faktisch vergessenen Naturwissenschaftler zu huldigen, nämlich Ludwig Haberlandt, in den 1920er Jahren Professor für Physiologie an der Universität Innsbruck und in meinen Augen der unbestrittene „Großvater“ der Pille. Aber schon Jahre davor beschloß ich, ihm in Das Bourbaki Gambit in der Person des Innsbrucker Naturwissenschaftlers unterschwellig Tribut zu zollen, der die entscheidende naturwissenschaftliche Idee hat, die in meinem Roman als technisches Vehikel dient, um den Plot voranzubringen.

So weit, so gut. Doch dann begann das autobiographische Unterbewußtsein des Autors, meinen Sepp Krzilska mit den höchst komplizierten bittersüßen Emotionen zu versehen, die ich jedes Mal empfinde, wenn ich mich vorübergehend in Österreich aufhalte, dem Land, in dem ich geboren wurde und meine erste kulturelle Prägung erhielt, aber auch das Land, das mich ins Exil trieb. Meine erste Bourbaki-Lesereise durch Deutschland und Österreich fand kurz nach der Veröffentlichung der deutschen Ausgabe des Bourbaki Gambit statt, und die taktvollen Fragen einiger Zuhörer machten mir schon bald klar, daß ich mit meinem Innsbrucker Naturwissenschaftler wesentlich gröber umgesprungen war als mit meinem amerikanischen und meinem japanischen Helden. Auf dem Rückflug nach San Francisco kam ich zu dem Schluß, daß es nicht fair war, meinem Ludwig Haberlandt alias Sepp Krzilska einen Teil des Ballastes meiner erzwungenen Emigration aus Wien aufzubürden. Da die amerikanische Ausgabe noch nicht erschienen war, erweiterte ich unverzüglich ein Kapitel um eine in Wien spielende Episode mit Sepp Krzilska, aus dessen Sohn ich einen Psychoanalytiker machte, wohnhaft in der Aspernbrückengasse 5, direkt gegenüber der Urania am Donaukanal. Scharfsichtige Leser werden bereits erraten haben, daß dies die Adresse des Hauses ist, in dem ich meine Wiener Kindheit verbrachte. Die Änderungen in diesem Kapitel verwandelten Sepp Krzilska in einen Menschen aus Fleisch und Blut.

Für diese Neuauflage beschloß ich, das Ende der ursprünglichen deutschen Übersetzung gemäß der bearbeiteten amerikanischen Ausgabe zu ändern.

Bis jetzt war weder meinem deutschen noch meinem amerikanischen Verleger bewußt, daß zwei Versionen des Bourbaki Gambit existieren – ein unverhoffter Luxus für Romanautoren, die praktisch nie Gelegenheit haben, zwei verschiedene Bücher unter einem Namen vom Stapel zu lassen. Kein Wunder, daß ich den wahren Sepp Krzilska auch in einer deutschen Ausgabe wiederfinden wollte – vorzugsweise herausgegeben von einem Verlag, dessen Sitz ich mir gerne nur ein paar Häuser von Sepps Innsbrucker Wohnung entfernt vorstelle.

London, September 2001

Cantors Dilemma

1

„Verdammt“, brummte er und preßte die Hand auf sein pochendes Knie. Er humpelte zum Badezimmer, wobei er sich mit der rechten Hand an der Wand entlangtastete. Es bedurfte keiner speziellen Kenntnisse in Neurobiologie, um zu wissen, daß photochemische Reizung der Netzhaut die sicherste Methode war aufzuwachen.

Zu Hause kannte er den Weg genau: auf der rechten Seite aus dem Bett heraus; vier Schritte an der Kante entlang, das linke Bein in Fühlung mit der Matratze; drei Schritte durch Niemandsland, während die rechte Hand nach der Wand greift; und dann geradeaus bis zur Badezimmertür, wo die linke Hand auf das Waschbecken stößt und der rechte Fuß, zu guter Letzt, vorsichtig nach dem Sockel der Toilette tastet. Wenn er, noch immer mit geschlossenen Augen, dort hockte, um seine Blase zu entleeren, nutzte er die Zeit und die Dunkelheit, um die Erinnerung an den jeweiligen Traum festzuhalten, aus dem er erwacht war. Das Konzentrieren auf den unterbrochenen Traum war, wie kein Licht zu machen, ein weiterer Schritt, um wieder einzuschlafen.

Doch in dieser Nacht befand er sich auf unbekanntem Gebiet: im Sheraton Commander in Cambridge, auf der anderen Seite des Harvard Square, und er hatte sich wirklich das Knie angeschlagen. Er rieb es noch immer, während er auf der Toilette saß und das helle Geräusch der letzten Urintropfen deutlich in der Stille zu hören war. Der Schmerz hatte ihn völlig wach werden lassen, und er begann, an den Vortrag zu denken. Plötzlich hatte er es. Mein Gott, dachte er und griff nach dem Lichtschalter, das ist es! Wieso bin ich nicht gleich darauf gekommen? Das Licht blendete ihn für einen Augenblick, als er nach dem Morgenmantel langte, der an der Rückseite der Tür hing.

Es war 3.14 Uhr morgens, als Professor I. Cantor sich an den kleinen Schreibtisch setzte und auf das einzige Stück Papier zu kritzeln begann, das er in der Schreibtischschublade finden konnte. Es war wohl das erste Mal in der Geschichte, daß eine den Nobelpreis einbringende Idee auf der Rückseite einer Wäscheliste festgehalten wurde.

2

Das Krauss-Sarkom war zwar nicht so bösartig wie das nach Kaposi benannte und nicht ganz so bekannt wie das Rous-Sarkom, aber es zeichnete sich durch die Tatsache aus, daß sein Entdecker, der führende Harvarder Krebsexperte Kurt Krauss, noch äußerst lebendig war. Sein Sarkom war zu einem der klassischen Modellfälle geworden, an denen die meisten neuen chemotherapeutischen Mittel als erstes getestet wurden. Wenn das neue Präparat das Krauss-Sarkom nicht zum Schrumpfen brachte, hatte es kaum Chancen, weiter erprobt zu werden.

Gerüchte auf dem Gebiet der Krebsforschung hatten es an sich, sehr schnell im Labor von Krauss zu landen. Die beste Methode, aus einem Gerücht eine Gegebenheit zu machen – oder es in der Versenkung verschwinden zu lassen –, bestand darin, daß man seine Schlußfolgerungen in Kraussens Mittagsseminar vortrug. „I. C.“, hatte Krauss am Telephon gesagt, „es geht das Gerücht, daß Sie an einer neuen Theorie der Tumorgenese herumbasteln.“

„Herumbasteln würde ich das wohl kaum nennen“, antwortete Cantor. „Es ist mir verdammt ernst damit, obwohl es sich noch um eine Hypothese handelt.“ Auf den ersten Blick war Cantors Konzeption relativ einfach. Seiner Meinung nach mußte der allgegenwärtige Unheilstifter ein Protein sein. Bevor dieses Protein jedoch Schaden anrichten konnte, mußte es erst in eine Zelle gelangen und dazu eine oder häufiger sogar mehrere Zellmembranen durchdringen. Bis auf eine einzige Ausnahme lassen alle derartigen Zellmembranen Verlagerungen nur in einer Richtung zu. Hier lag für Cantor der Schlüssel: Was wäre, wenn eine chemische Veränderung – mutmaßlich verursacht durch eine Mutation – den Durchlaß des Karzinogens in normale Zellen in beiden Richtungen gestattete? Ein einziger Störenfried konnte dann in eine Zelle eindringen, das Unheil anrichten, wieder herauskommen, in die nächste Zelle wandern und wieder in die nächste und so weiter. Das auslösende Moment für den in einer Richtung stattfindenden Proteintransport durch Zellmembranen ist stets der Abschnitt des Proteins, an dem die freie Aminogruppe hängt. Von den zwanzig bekannten Aminosäuren, aus denen ein Proteinmolekül besteht, weist nur eine – nämlich Arginin – drei derartige freie Aminogruppen an einem Kohlenstoffatom auf. Cantors entscheidende Annahme war, daß Mutationen, die Veränderungen in der Argininzusammensetzung von Proteinen verursachen, für den plötzlichen Proteindurchfluß in beiden Richtungen verantwortlich waren.

„Und? Haben Sie schon einen Nachweis?“ Krauss hatte unverzüglich den Finger auf den wunden Punkt gelegt. Cantor war noch auf kein Experiment gekommen, das die Richtigkeit seiner Hypothese demonstrieren konnte, und eine Hypothese ohne praktischen Nachweis ist manchmal schlimmer als wertlos: Sie kann gefährlich sein. Ein Mann kann den Rest seines Forscherlebens damit zubringen, einem Phantom nachzujagen.

Widerwillig gab Cantor dies zu. „Nein, ich habe noch nicht ausgetüftelt, wie die Sache experimentell nachzuweisen ist. Aber ich arbeite daran.“

„Während Sie daran arbeiten, könnten Sie ja mal rüberkommen und uns alles über Ihre ernstzunehmende Hypothese erzählen.“ Das leise Lachen von Krauss war deutlich durch das Telephon zu hören. „Vielleicht können wir Ihnen die Mühe ersparen, nach einem Nachweis zu suchen.“

Wer aufgefordert wurde, in Kraussens wöchentlichem Seminar zu sprechen, der kam. Drei Wochen später schlug sich Cantor in Cambridge das Knie an, und nun, am Morgen danach, saß er im Brandywine-Café beim Frühstück und ging nochmals seine Notizen durch. Ursprünglich war er besorgt gewesen, wie seine Hypothese einer der berüchtigten Kritiken dieses Mannes standhalten würde – Krauss konnte selbst gegenüber Freunden erbarmungslos sein –, aber nach dem Geistesblitz auf der Toilette am frühen Morgen war Cantor überaus zuversichtlich. Er hatte nicht vor, seine plötzliche Eingebung – das Experiment, das seine Hypothese in eine unumstößliche Tatsache verwandeln würde – gegenüber Krauss oder sonst jemandem in Harvard zu erwähnen. Damit wollte er warten, bis das Experiment durchgeführt war. Aber er war überzeugt, daß es klappen würde. Er spürte intuitiv, daß es einfach zu schön war, um nicht hinzuhauen.

Kraussens Reich war die Harvard Medical School in Boston. Cantor hatte beschlossen, in Cambridge statt in Boston zu übernachten, weil er einen seiner seltenen Besuche im Fachbereich Chemie auf der anderen Seite des Harvard Square machen wollte, jenes akademischen Burggrabens, der mehrere Fakultäten in Harvard voneinander trennt. Gelehrte in eng verwandten Disziplinen arbeiteten hier manchmal jahrelang, ohne die Zugbrücke zwischen ihren benachbarten akademischen Domänen auch nur herabzulassen. Cantor, der auf die Sechzig zuging, hatte einen internationalen Ruf als Zellbiologe. Aber nur wenige erinnerten sich daran, daß er in Organischer Chemie promoviert hatte und wie er sich in einen Biologen verwandelt hatte: Als Postdoktorand an den National Institutes of Health hatte er sich mit der Anwendung von Isotopenmarkierungstechniken befaßt, um das metabolische Schicksal einer neuen Kategorie von Beruhigungsmitteln an Versuchstieren zu bestimmen, hatte sich jedoch schon bald auf die Arbeit mit isolierten Enzymen in Gewebehomogenaten verlegt – ein himmelweiter Unterschied zu der präparativen Chemie während seines Studiums. Den Gnadenstoß erhielt seine Karriere in der chemischen Forschung schließlich am Pasteur-Institut in Paris, wo Cantor unwiderruflich auf das aufstrebende Gebiet der Zellbiologie gelockt wurde. Voller Stolz bezeichnete er diesen weitgehend autodidaktischen Übertritt als déformation professionnelle. Der Chemiker richtet den Blick – theoretisch wie experimentell – in der Hauptsache auf Moleküle. Im Gegensatz dazu betrachtet der Biologe ganze Systeme: eine Zelle, ein Blatt, einen Baum. Cantors frühere Erfahrungen auf dem Gebiet der Chemie hatten stark zu seiner Entwicklung zum Molekularbiologen beigetragen.

Ursprünglich hatte er den Fachbereich Chemie der Harvard-Universität nur aufsuchen wollen, um Konrad Bloch, einem alten Freund aus der Studienzeit, einen Höflichkeitsbesuch abzustatten. In Anbetracht seiner wenige Stunden zuvor erfolgten Inspiration änderte er sein Vormittagsprogramm jedoch. Bloch hatte 1964 den Nobelpreis erhalten, weil er den Ursprung aller siebenundzwanzig Kohlenstoffatome des Cholesterins bestimmt und dadurch nachgewiesen hatte, wie der Körper dieses Sterin synthetisiert.

In letzter Zeit hatte Bloch die Bildung künstlicher Bläschen untersucht, die von Phospholipidmembranen umgeben sind, wie sie ganz ähnlich in natürlichen Zellen vorkommen. Blochs Verfahren war entscheidend für die Durchführung von Laborexperimenten hinsichtlich der Art und Weise, wie eine lebende Zelle bestimmten Molekülen gestattet, in sie einzudringen, ohne wieder zurückzudiffundieren – ein Verfahren, das Cantor anzuwenden gedachte, um die Gültigkeit seiner Hypothese nachzuweisen. Anhand dieser Methodik hatten Bloch und andere demonstriert, daß Cholesterin nicht nur als körpereigene Ausgangssubstanz für den Aufbau der Steroide diente, also der Sexualhormone oder des Cortisons, sondern noch eine zweite wichtige Funktion hatte: Das in den Phospholipiden vorhandene Cholesterin reduziert die Fluidität einer Zellmembran und gibt ihr die optimale Viskosität, um den Molekültransport in die Zelle in einer Richtung zu gestatten. Noch relevanter für Cantors augenblickliches Interesse war die bekannte Tatsache, daß Membranen von Leukämiezellen fluider sind als die normaler Lymphzellen. War das auf verminderte Cholesterinmengen in den Krebszellen zurückzuführen? Bei Patienten mit chronischer lymphatischer Leukämie weist das Blut einen verringerten Cholesterinspiegel auf. Und wenn man Leukämiezellen Cholesterin zuführt, nimmt dadurch sowohl ihre Membranfluidität als auch ihre Malignität ab. Waren das nur Zufälle? Cantor beschloß, aus dem Höflichkeitsbesuch eine Arbeitsbesprechung mit Bloch zu machen, der für die Großzügigkeit berühmt war, mit der er sich die Probleme seiner Kollegen anhörte. Was gab es Besseres, als die Vormittagsstunden zu einer kostenlosen Konsultation eines Nobelpreisträgers zu nutzen?

Kraussens Seminarraum war dicht besetzt mit Doktoranden, wissenschaftlichen Mitarbeitern und Besuchern aus anderen Fachbereichen. Einige wenige aßen noch, aber nach den leeren Tassen, zerknüllten Sandwichtüten, zusammengeballten Papierservietten und anderen Überresten zu schließen, waren die meisten mit dem Essen fertig. Kurt Krauss war offensichtlich gereizt. Sobald Cantor die Stirnseite des Raumes erreicht hatte, stand Krauss auf. Im Raum wurde es still. „Herr Professor Cantor bedarf wohl keiner Vorstellung. In Anbetracht der vorgerückten Stunde“ – er warf seinem Gast einen vorwurfsvollen Blick zu – „und ohne weitere Umstände möchte ich unseren Redner daher bitten, uns seine neue Theorie zu erläutern.“ Und mit einer Handbewegung in Cantors Richtung: „I. C., Sie haben das Wort.“

Kein wissenschaftlicher Vortrag wird jemals ohne Dias oder andere visuelle Hilfsmittel gehalten, besonders wenn chemische Strukturen aufgezeigt werden sollen. Die Sachgebiete sind so kompliziert geworden, die Themen so esoterisch, daß selbst Fachleute, die vor ihresgleichen sprechen, auf Tageslicht- oder Diaprojektoren zurückgreifen müssen. Cantor hatte nur um ersteren gebeten. Mit Filzstiften in der Hand – einem schwarzen und einem roten – ging er daran, auf die durchsichtige Endlosfolie zu schreiben, die in den Tageslichtprojektor eingelegt war, so daß seine Darstellungen in stark vergrößerter Form auf einer hinter seinem Rücken befindlichen Bildwand in dem schwach beleuchteten Raum erschienen. Cantor war stolz auf seinen Vortragsstil: Seine sorgfältigen Zeichnungen und seine präzise gesprochenen Worte fügten sich mühelos zusammen. Seine Zuhörer waren immer dankbar, daß sie seinem Vortrag folgen und sich gleichzeitig Notizen machen konnten – was oft schwierig war bei Rednern, die ein hohes Tempo vorlegten, begleitet von herrischen Anweisungen: „Das nächste Dia, bitte!“

Kurt Krauss konnte auf eine Art und Weise angsteinflößend sein, die oft mit der des verstorbenen Physikers Robert Oppenheimer verglichen wurde. Als Krauss seinem Nachbarn in der ersten Reihe zuflüsterte: „Wir müssen I. C. in unseren heiligen Hallen doch Demut lehren, nicht wahr?“, kurz nachdem Cantor mit seinem Vortrag begonnen hatte, trug seine Stimme vermutlich bis zum Podium. Er war auch berühmt – viele Betroffene würden sagen: berüchtigt – wegen seiner Unterbrechungen. Ihr perfektes Timing war gewöhnlich dazu bestimmt, das Selbstgefühl des Opfers auf ein Minimum zu reduzieren. Außerdem ließ Krauss den Redner praktisch nie aus den Augen; manch ein Objekt seines prüfenden Blickes behauptete, Krauss niemals blinzeln gesehen zu haben.

Cantor teilte diese Auffassung nicht, aber dennoch hatte er das Gefühl, daß heute besondere Vorsicht geboten war. Seine Theorie war völlig neu – und zwar in einem Maße, daß Konkurrenzneid die spitze Zunge von Krauss noch schärfer machen konnte. Cantors Unpünktlichkeit war nicht gerade förderlich gewesen, besonders als er merkte, daß er den Fauxpas begangen hatte, in seinen einleitenden Worten zu erwähnen, daß seine Verspätung auf ein anregendes Gespräch mit Bloch zurückzuführen war. Für Krauss kam ein Besuch auf dem Campus in Cambridge, der vor dem Erscheinen in seinem Labor auf der anderen Seite des Charles River gemacht wurde, einer Majestätsbeleidigung gleich, besonders wenn dieser Besuch auch noch ausposaunt wurde.

Cantors Gebrauch der beiden Farben war gewöhnlich äußerst wirkungsvoll: Rot diente ausschließlich dazu, entscheidende Punkte zu notieren, die dann in Schwarz auf der weißen Fläche geklärt wurden. Diesmal ertappte er sich, schon in den ersten Minuten, zweimal dabei, daß er die Stifte verwechselte und dadurch den natürlichen Fluß seiner Darlegungen durch Auslöschungen unterbrechen mußte. Aber es war nicht nur das zusätzliche Maß an Vorsicht, das Cantors normalerweise geschliffenen Vortragsstil beeinflußte. Dies war die erste öffentliche Enthüllung seiner Hypothese, und er stellte plötzlich fest, daß seine geistigen Prozesse auf zwei parallelen Schienen ablaufen mußten, einer öffentlichen und einer absolut privaten. Laut sprach er über seine Hypothese; im stillen prüfte er jede Aussage im Hinblick auf den experimentellen Nachweis, den er in naher Zukunft bestimmt liefern würde. Doch er war nicht gewillt, irgend jemand zu erzählen, daß er an eine experimentelle Bestätigung auch nur dachte.

Während Cantor seinen Vortrag fortsetzte, wuchs sich sein Glaube an sein beabsichtigtes Experiment zur Gewißheit aus. Er gewann seine innere Sicherheit wieder und steigerte sich, wie im letzten Satz einer Symphonie, zu einem Crescendo. Krauss zog nicht einmal sein verbales Rapier aus der Scheide, sondern schwieg aus aufrichtiger Bewunderung. Cantors Hypothese war in der Tat eine intellektuelle Glanzleistung. Krauss hatte sich im Geiste bereits die gebührenden lobenden Worte zurechtgelegt, als Cator ihm eine Gelegenheit lieferte, die in die Geschichte Harvards eingehen sollte, weil sie Krauss zu einem seiner berühmtesten Sprüche animierte.

Cantor ging ständig hin und her, um in ungewohntem Tempo schwarz und rot auf die Folie zu schreiben, dann wieder an die Bildwand zu treten, um auf die projizierten Darstellungen zu zeigen. Als er sich dem Ende seines Vortrags näherte, unterstrich er das Wort „Arginin“ zweimal rot und zeichnete dann dessen chemische Struktur auf, um die Aufmerksamkeit auf die drei verdächtigen Aminogruppen zu lenken. In der Zusammenfassung kehrte er nochmals zu dieser ausschlaggebenden Aminosäure zurück und knallte triumphierend zwei Ausrufezeichen hinter das Wort, diesmal in Schwarz, wandte sich dann von der Bildwand ab und blickte erregt und schwer atmend ins Publikum.

Wissenschaftliche Vorträge dieser Art laufen stets nach einem bestimmten Schema ab, gleichgültig, ob sie Chemie oder Zellbiologie zum Thema haben. Unweigerlich zeigt der Redner zum Abschluß einen kurzen Nachspann – nicht anders als die mikrosekundenlange Einblendung in Filmen, die die Chefbeleuchter, Beleuchter, Beleuchtungstechniker und ähnliche Leute nennt – mit zahlreichen Namen. „Mein Dank gilt den folgenden Personen und Institutionen: meinen Mitarbeitern, ohne deren Sachkenntnis und Hingabe diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre; den National Institutes of Health für ihre finanzielle Unterstützung; und Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.“ Daraufhin stellt der Vorführer den Projektor ab und schaltet das Licht ein, das Publikum applaudiert flüchtig oder begeistert, wie es der Anlaß gerade erfordert, und während der Redner noch an dem Mikrophonkabel herumfummelt, das er um den Hals hängen hat, erhebt sich der Veranstaltungsleiter, um dem Redner etwas zuzuflüstern. Nach dem erwarteten Nicken wendet sich ersterer an das Publikum: „Herr Doktor X hat sich freundlicherweise bereiterklärt, Fragen zu beantworten. Ich bitte um Wortmeldungen“, und stellt dann, ohne Luft zu holen, selbst die erste und häufig auch gleich die zweite und die dritte Frage.

Das ist das Szenario der meisten wissenschaftlichen Vorträge, aber nicht das, was sich bei diesem speziellen Mittagsseminar an der Medizinischen Fakultät der Harvard-Universität abspielte. Professor I. Cantor hatte in seinem Vortrag zwar die erste Person Plural benutzt, doch er dankte keinen Mitarbeitern. Schließlich hatte er nicht über eine experimentelle Arbeit geredet. Er hatte über eine Hypothese gesprochen, seine Hypothese. Es gab keinen Abspann mit Namen. Als das Licht anging, schlug ihm statt des erwarteten Beifalls vereinzeltes Kichern entgegen, das zu Lachsalven anschwoll. Cantor war fassungslos.

3

„Wo waren Sie denn, Jerry?“ fragte Stephanie, Cantors Sekretärin. „Professor Cantor möchte Sie sprechen.“

„Der Prof? Ich dachte, der käme erst heute nachmittag aus Boston zurück.“

„Er hat gestern abend noch ein Flugzeug erwischt. Er war schon da, als ich heute morgen gekommen bin.“

Stafford fragte sich, was I. C. wohl in petto hatte.

„Er ist in seinem Büro.“ Stephanie machte ein Zeichen mit dem Kopf. „Gehen Sie lieber gleich rein. Ich habe ihn noch nie so ungeduldig erlebt.“

„Kommen Sie herein und schließen Sie die Tür.“ Cantor wies auf einen der Stühle, die vor seinem Schreibtisch standen. „Ich wußte nicht, daß Sie sich an Schalterstunden halten.“

Der darin enthaltene Vorwurf störte Stafford nicht sonderlich; er war sogar dankbar, daß er in Worte gekleidet war, die bei Cantor als Humor gelten konnten. Im Gegensatz zu den meisten Mitgliedern seines Forschungsteams war Cantor kein Nachtmensch. Stafford und die übrigen aus Cantors Gruppe nahmen an, daß er seine Abende damit zubrachte, sich in der Literatur seines Fachgebiets auf dem laufenden zu halten. Stephanie, seine Sekretärin, und einige andere wußten es besser. Er war immer spätestens um acht Uhr morgens in seinem Büro, und er erwartete von seinen Mitarbeitern, daß sie verfügbar waren. Die Doktoranden an den meisten Instituten sind notorische Langschläfer, die noch arbeiten, wenn normale Menschen längst im Bett liegen. Cantor hatte nichts dagegen einzuwenden, daß sie bis in die Nacht hinein arbeiteten; er förderte es sogar. Aber er wollte sie auch da haben, wenn er da war. Stafford behagte dieser Trott noch immer nicht, und sooft es ging, versuchte er, dem System ein Schnippchen zu schlagen.

„Nicht an Schalterstunden, I. C.“, erwiderte Stafford. „An Postdoc-Stunden. Und das nur, wenn Sie verreist sind, und auch dann nur ganz selten.“

Ein leises Lächeln glitt über Cantors Gesicht. Stafford wußte, daß er der Liebling des Professors war und daß er sich eine gewisse Portion Leichtfertigkeit erlauben durfte, vorausgesetzt, er legte sie privatim an den Tag. Für einen amerikanischen Professor war Cantor ungewöhnlich konservativ. Außerdem war er ein Mensch, der sein Privatleben abschottete. Seit seiner Scheidung vor knapp zwölf Jahren war kein Student mehr bei ihm zu Hause eingeladen gewesen. Nicht einmal Stafford. Cantors Frau veranstaltete an Thanksgiving immer ein großes Truthahnessen für die ganze Gruppe, eine zwanglose Party in der Weihnachtszeit, gelegentlich kleine Zusammenkünfte für die Frauen der ausländischen Forschungsstipendiaten – doch diese Ereignisse gehörten einer Vergangenheit an, die sich der Erinnerung seiner gegenwärtigen Studenten entzog.

„Ich dachte, Sie würden erst heute nachmittag zurückkommen, I. C.“ Außer Stafford nannte niemand im Labor Cantor jemals „I. C.“ in dessen Gegenwart. Es war Usus, „Professor Cantor“ oder, bei Gelegenheit, „Prof“ zu sagen. Nur Außenstehende oder Berufskollegen „ai-sih“ten Cantor. Niemand erinnerte sich, wann Stafford diesem exklusiven Club beigetreten war. Nicht, daß er ausdrücklich dazu aufgefordert worden wäre; eines Tages war er einfach drin. „Wie ist denn Ihr Vortrag im Krauss’schen Seminar verlaufen? War man gebührend beeindruckt?“

Cantor schwenkte seinen Drehstuhl herum, so daß er das Gesicht nun dem Fenster zuwandte statt Stafford. Er hatte ein bemerkenswertes Profil, das von buschigen Augenbrauen und einer großen Nase beherrscht wurde, die manche semitisch nannten, während andere erklärten, sie erinnere sie an das Profil auf einer griechisch-römischen Münze. Er trug sein sorgfältig gekämmtes, welliges Haar, das dunkelbraun war und einen Anflug von Grau aufwies, ziemlich lang. Hinten ringelte es sich über dem Kragen und verbarg teilweise seine großen Ohren. Seine Lippen waren voll und stets feucht. Den Blick weiterhin auf das Fenster gerichtet, sagte Cantor: „Sie brachen in donnerndes“ – er machte eine Pause, um den Effekt zu steigern – „Gelächter aus.“

Erst dann drehte er sich zu Stafford um. Es gehörte zu seinen Eigenheiten, seine Zuhörer zu überraschen. Das war ihm auch gelungen: Die Verblüffung stand seinem Schüler im Gesicht geschrieben. „Gelächter?“

„Jawohl, Gelächter. Ein richtiger Ausbruch ... Sobald das Licht anging.“

Stafford war zunächst wie vor den Kopf geschlagen. Es fiel ihm aus mehreren Gründen schwer, das Ganze zu begreifen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß einer von Cantors ausgefeilten Vorträgen jemals mit Gelächter aufgenommen wurde, wo Cantor doch während einer Vorlesung niemals einen Witz machte. Und selbst wenn das Unvorstellbare passiert war und der Professor einen Reinfall erlebt hatte, sah es ihm so gar nicht ähnlich, eine derartige persönliche Demütigung zuzugeben.

Cantor nickte. „Ich muß wohl genau so ein Gesicht gemacht haben wie Sie jetzt. Mir blieb die Luft weg. Aber dann merkte ich, nach einem Blick ins Publikum, daß man nicht über mich lachte, sondern über etwas hinter mir. Und wissen Sie, was ich sah, als ich mich umdrehte?“

Stafford schüttelte den Kopf.

„Anscheinend war ich gegen Ende hin derart in meinen Vortrag vertieft, daß ich, statt auf die Projektorfolie zu schreiben, direkt auf die Bildwand zu malen begonnen hatte. Als ich den Tageslichtprojektor ausschaltete und das Licht wieder anging, war die ganze Bildwand mit schwarzen und roten Zeichen vollgekritzelt.“

„Allmächtiger!“ rief Stafford aus. „Ich wünschte, ich wäre dabeigewesen, I. C. Was haben Sie daraufhin gemacht?“

„Ich war so verlegen, daß ich mein Taschentuch herausholte, hineinspuckte und an einem der Tintenzeichen zu rubbeln begann. Dadurch wurde alles nur noch schlimmer, was für weiteres Kichern und Feixen sorgte. Aber dann, Jerry“ – er hatte die rechte Hand erhoben, um Stafford am Lachen zu hindern –, „sprang Krauss von seinem Sitz auf und tat etwas, was ich nie vergessen werde. Er rannte nach vorn und packte meine Hand. ‚Wischen Sie die Bildwand nicht ab‘, sagt er, ‚signieren Sie sie einfach. Wir können jederzeit eine neue beschaffen. Dieser Vortrag wird in die Geschichte eingehen.‘ Und da haben dann alle zu applaudieren begonnen. Die Leute sind tatsächlich aufgestanden und haben applaudiert.“

Stafford war beeindruckt. Er hatte noch nie erlebt, daß Cantor derart offen über sich sprach oder einen Stolz an den Tag legte, der eher überschwenglich als verhalten war. „Das hat Sie bestimmt gefreut, I. C. Besonders, weil es von Krauss kam.“

„Sicher, aber das war noch nicht alles. Nach dem Vortrag, nachdem wir allein waren, sagte er, daß dies ein Meisterstreich sei, wie er einem Wissenschaftler im ganzen Leben nur einmal gelinge, so wie Watson und Crick mit ihrer Doppelhelix. Natürlich hat er übertrieben. Aber wissen Sie, was er dann sagte?“ Cantor wartete die Antwort nicht ab. „Er sagte: ‚Die beiden haben den Nobelpreis erst nach Jahren bekommen. Aber Sie, sagte er, falls Sie und Ihre Leute ein Experiment austüfteln können ...‘ Es kam nicht klar zum Ausdruck, ob das als Wunsch oder als Herausforderung gemeint war.“

„Hatte Krauss irgendwelche Vorschläge für ein Experiment parat?“

Cantors Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. „Natürlich nicht. Auch sonst niemand, mit dem ich auf der Reise gesprochen habe. Alles, was sie vorbrachten, waren die üblichen Einwände, als ob ich daran nicht selbst schon x-mal gedacht hätte. Ich weiß sehr wohl, daß Metastasen nicht nur ein Charakteristikum maligner Zellen sind, die sich von Organ zu Organ ausbreiten. Lymphozyten, unsere natürlichen Abwehrstoffe, dringen ebenfalls in andere Gewebe ein, aber in deren Fall ist es lebensrettend und nicht tödlich.“ Ohne es zu merken, war Cantor in einen dozierenden Stil verfallen. „Niemand muß mich daran erinnern, daß häufige Zellteilung an sich noch keine Malignität darstellt. Denken Sie nur an die Wundheilung oder die Entwicklung des Embryos. Was anders ist, sind Zeitpunkt und Ort. Schließlich steht nicht einmal fest, ob die Fähigkeit zu schneller Teilung allen Tumorzellen eigen ist. Einige Tumore scheinen nur deshalb zu wachsen, weil die Zellen eben nicht degenerieren. Das Krauss-Sarkom zum Beispiel.“

Staffords Gedanken wanderten zu dem Tag zurück, an dem er, als junger Doktorand, seinen ersten Vortrag gehalten hatte. Er war gebeten worden, über den Verlauf seiner Forschungsarbeit in einem Seminar zu berichten, das nicht nur von Cantors Leuten besucht wurde, sondern von Graduierten aus allen Forschungsgruppen des Fachbereichs. Das Publikum hatte nicht gelacht; es hatte nur flüchtig geklatscht. Aber er erinnerte sich noch deutlich an das heimliche Gähnen, die glasigen Blicke und die herabsinkenden Augenlider. Der Prof hatte sich verdammt anständig verhalten. Statt ihn öffentlich zu kritisieren, hatte Cantor ihn in sein Büro gerufen. „Jeremiah“, hatte er gesagt – er hatte ihn noch nicht Jerry zu nennen begonnen –, „Ihr Vortrag war furchtbar. Alles, was Sie den anderen heute erzählt haben, war, daß Sie die Arbeit dieser Gruppe drüben im Westen wiederholen, die Phospholipide von Meeresschwämmen untersucht, damit Sie von ihnen Material für Ihr Membranprojekt bekommen. Wie können Sie nur derart vielversprechende Ergebnisse so sterbenslangweilig klingen lassen? Um Himmels willen, Jeremiah, Sie müssen lernen, Ihre Zuhörer zu fesseln, sie davon zu überzeugen, daß das, was Sie machen, wirklich wichtig ist. Ich meine damit nicht, daß Sie Begeisterung heucheln sollen, sondern daß Sie ihnen das zeigen, was ich in Ihren Augen sehe oder in Ihrer Stimme höre, wenn Sie im Labor sprechen. Außerdem sind Sie von der viel zu hohen Voraussetzung ausgegangen, daß Ihr Publikum mit Schwämmen vertraut ist. So etwas dürfen Sie niemals voraussetzen. Viele Leute wissen nicht einmal, daß Schwämme tierische Lebewesen sind. Ich bin bekanntlich nicht für die Verwendung von Dias, aber Sie hätten Ihrem Referat ruhig etwas Pep geben dürfen mit ein paar von den herrlichen Unterwasseraufnahmen, die wir mit den Schwammproben bekommen haben. Machen Sie nicht so ein griesgrämiges Gesicht“, hatte er abschließend gesagt. „Sie kriegen das bestimmt noch hin. Aber denken Sie immer daran, was ich Ihnen gesagt habe.“ Stafford hatte es nie vergessen.

Cantor hatte auf die Tafel hinter Staffords Rücken gestarrt. Nun räusperte er sich. „Ich weiß, daß Sie an einem eigenen Projekt arbeiten. Ich habe Sie noch nie gebeten, eine Versuchsreihe mittendrin abzubrechen“, begann er, die Augen weiterhin auf einen imaginären Punkt hinter Stafford geheftet, „aber nun werde ich es tun.“ Cantors Worte waren durch Staffords Träumereien gedrungen, doch der junge Mann gab keine Antwort. So sehr er seinen Mentor auch achtete, glaubte er sich doch immer in einem subtilen Zweikampf zu befinden, bei dem er ein privates Territorium zu verteidigen hatte, dessen Betreten Cantor nicht gestattet war. „Ich habe mir ein Experiment ausgedacht“, sagte Cantor langsam, während seine Augen wieder zur Tafel glitten. „Dadurch wird meine Hypothese in eine Theorie der Tumorgenese verwandelt, die jedermann zufriedenstellen wird – sogar Krauss. Es handelt sich um ein Experiment, das klappen wird. Ich spüre es in den Knochen, und ich möchte, daß Sie damit anfangen – ab morgen.“ Er ging hinüber zur Tafel und begann das aufzuzeichnen, was er erstmals auf der Rückseite der Wäscheliste im Hotel Sheraton Commander in Cambridge, Massachusetts, festgehalten hatte: ein ungeheuer raffiniertes Experiment mit markierten Proteinen, das nicht weniger als drei verschiedene radioaktive Isotope beinhaltete, nämlich ein Kohlenstoff-, ein Wasserstoff- und ein Schwefelisotop, sowie das nichtradioaktive, stabile Kohlenstoffisotop C-13. Während die radioaktiven Isotope dazu bestimmt waren, das Protein in verschiedenen Teilen der Zelle zu lokalisieren, sollte das mit C-13 markierte Arginin mit Hilfe seines magnetischen Kernresonanzspektrums Aufschluß geben über den räumlichen Bau dieser Aminosäure innerhalb des Proteinmoleküls. Nur ein Zellbiologe mit fundierten Kenntnissen auf dem Gebiet der Chemie konnte auf eine solche Idee kommen.

4

Branner, die exklusive Mädchenschule, war die einzige höhere Lehranstalt in Portland, wo der Lateinunterricht bis zu Ovid und sogar zu Vergil führte und wo man in der Oberstufe zwei Jahre Mathematik mehr belegen konnte; es war eine der wenigen Stationen in Oregon, die die Talentsucher der Elite-Universitäten nie ausließen. Außerdem war es eine Schule, die tatsächlich an mens sana in corpore sano glaubte und darauf bestand, daß jede Schülerin mindestens eine Sportart ernsthaft betrieb.

Deshalb verlor Celestine Price, als sie im letzten Schuljahr war, ihre Unschuld zu einer unchristlichen Zeit, nämlich um 6.15 Uhr morgens. Die Leistungsschwimmerinnen trainierten täglich drei Stunden. Angesichts Celestines Stundenplan hieß das, jeden Morgen um sechs im Becken zu sein, um vor dem Unterricht zwei Stunden zu schwimmen, und nach der Schule noch einmal eine Stunde lang. Der reguläre Sportunterricht wurde in Branner von einer Frau erteilt, aber die vier Spitzenschwimmerinnen, die für regionale und überregionale Wettkämpfe gedrillt wurden, hatten einen männlichen Trainer. Elf Jahre zuvor wäre Glenn Larson beinahe in die amerikanische Olympiamannschaft aufgenommen worden. Jetzt war er Computerprogrammierer und arbeitete nebenbei in Branner, weil es ihm, neben dem zusätzlichen Einkommen, Gelegenheit gab, täglich zu schwimmen. Er war immer mit den Mädchen im Wasser, und sein prachtvoller Körper bewies es.

Das Becken bot auch reichlich Gelegenheit für allerlei Unfug, was die Mädchen – bis auf Celestine – weidlich ausnutzten, um Larsons stramme Muskeln zu berühren. Dies lag nicht etwa daran, daß Celestine die teenagerhafte Vorliebe für erotische Spielereien abgegangen wäre, sondern vielmehr an ihrer Selbstbeherrschung. Sie wollte bei der schließlichen Verwirklichung ihrer geheimsten Wünsche selbst Regie führen, und das bezog sich nicht nur auf sexuelle Dinge. Mehr noch traf dies auf ihre beruflichen Pläne zu, die für eine siebzehnjährige Schülerin erstaunlich ausgereift waren.

Die Familie Price war seit Jahr und Tag in Oregon ansässig. Sie hatte ihr Geld ursprünglich mit Holz gemacht, war aber inzwischen groß in die Baubranche eingestiegen. Celestines Vater, der kurz nach Celestines Eintritt ins Teenageralter starb, war Ingenieur gewesen. Sie beschloß, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Ihre Mutter war einverstanden, vorausgesetzt, daß Celestine die Disziplin einer Erziehung in Branner samt deren umfassendem Latein- und Mathematikunterricht akzeptierte. Nach Ansicht von Mrs. Price war Latein der einzige angemessene Zugang zu den Geisteswissenschaften und die Mathematik das Tor zu der männlichen Welt der Natur- und Ingenieurwissenschaften. Als Celestine ins letzte Schuljahr kam, hatte sie nicht mehr das Ingenieurwesen als Berufsziel, sondern die chemische Forschung.

Celestine langweilte sich nie beim Bahnenschwimmen. Sobald ihre Arme und Beine ihren Rhythmus gefunden hatten, schaltete ihr Geist auf ihre augenblicklichen Wunschträume um: eine Auszeichnung für ihre jüngste wissenschaftliche Entdeckung entgegenzunehmen; den olympischen Rekord über 200 Meter Freistil zu brechen; den Mann auszuwählen, der sie mit den Freuden des Sex bekannt machen würde ... In letzter Zeit hatte sie mit dem Gedanken gespielt, daß vielleicht ein älterer Mann, speziell Glenn Larson, genau der richtige Kandidat wäre. Larson hatte einen Adoniskörper; eine kleine tätowierte Blume umschloß seinen Nabel, deren dünner Stiel in seinem Badeanzug verschwand. Eines Tages war der Bund seiner Badehose verrutscht, und Celestine hatte ihn erblickt. „Du pflückst wohl gern Blumen?“ sagte sie. Es war diese Frage, die Larson bewog, alles auf eine Karte zu setzen und die fristlose Entlassung zu riskieren, falls sie erwischt wurden.

„Celly“, antwortete er, „wir sollten noch ein bißchen an deinem Schmetterlingsstil arbeiten. Wie wär’s mit ein bißchen zusätzlichem Training? Ich könnte am Samstagmorgen kommen und mich ein paar Stunden mit dir beschäftigen.“ „Am Samstag?“ fragte sie gedehnt. „Um wieviel Uhr?“

„Wann du willst.“

Larson hatte noch nie Privatunterricht angeboten. Sprach da der gewissenhafte Schwimmtrainer, oder steckte etwas anderes dahinter? Sie sah einige Sekunden auf die tätowierte blaue Blume, bevor sie antwortete: „Zur üblichen Zeit. Samstag morgens um sechs Uhr stört uns bestimmt niemand. Übrigens, ist das eine Glockenblume?“

Das Schwimmbecken und die dazugehörenden Umkleideräume befanden sich in einem separaten Gebäude neben der Sporthalle der Schule. Larson kam schon etwas früher, um die Vordertür aufzuschließen, und zog rasch seine Badehose an. Im Wasser begann er mit einem schnellen Kraul und ging dann zum langsameren Rückenschwimmen über. Als er wieder einmal eine Wende ausführte, sah er Celestine an der Tür der Trainerkabine lehnen. Sie trug ein langes T-Shirt mit dem Aufdruck ‚A Woman’s Place is on the Top“ quer über der Brust – dem Motto einer reinen Frauengruppe, die im Sommer den Mount Hood bestiegen hatte, den höchsten Berg Oregons.