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Evelyn Grill

Immer denk ich ­deinen Namen

Roman

Adrian hatte dem Pflegepersonal den Besuch angekündigt. Seine Mutter saß bereits in ihrem Rollstuhl, als er das Zimmer betrat. Es schien ihm, dass sie seit dem letzten Mal, als er sie besucht hatte, das war vor drei Monaten gewesen, noch mehr zusammengeschrumpft war, dass sich ihr Rücken stärker gekrümmt hatte und die Schultern schmäler geworden waren. Er küsste sie auf die Stirn, sie hob mit Anstrengung ihren Kopf, sah ihn an und lächelte, nahm seine Hand, umklammerte sie mit beiden Händen und wollte sie nicht mehr loslassen. Er spürte die kühlen mageren Greisenhände.

Wir wollen heute in den Park, sagte er, hast du Lust?

Wo warst du so lange?, fragte sie.

Ja, dachte er, drei Monate war ich nicht bei ihr und wahrscheinlich hat sie seither außer dem Pflegepersonal niemanden gesehen oder gesprochen. Sie hatte die überregionale Zeitung, die sie früher regelmäßig las, wieder in schmale Streifen zerrissen. Sie zerriss auch Briefe, die sie manchmal noch aus Amerika erhielt, und Postkarten, die er ihr von seinen Reisen schrieb, zerstückelte sie. Er würde die Zeitung abbestellen müssen. Er blickte sich in ihrem Zimmer um. Über ihrem Bett, vor das man nachts ein Gitter schob, hing ein großes Ölgemälde, auf dem der Maler sie als junge schöne Frau in einem meerblauen Kleid dargestellt hatte, die ihrem Mann, der an einem Tisch sitzt, den Rücken zuwendet und gedankenverloren in die Ferne schaut. Das Bild verführte ihn seit Jahren zu Spekulationen über die Ehe seiner Eltern.

Neben dem Rollstuhl, in dem seine Mutter saß, hatte man ihren kleinen Biedermeierschreibtisch platziert. Das Nussbaumholz zeigte Wasserflecken und Risse. Sie hatte einige Möbel aus ihrer Wohnung mitnehmen dürfen. Auch den bequemen, voluminösen Polstersessel, in dem sie gerne saß und den sie „mein Sesselchen“ nannte, obwohl es ein stattliches Sitzmöbel war. Das Zimmer hatte einen Balkon, der Blick ging auf den Garten hinaus. Nur von Ferne vernahm man bei geöffneter Tür den Autoverkehr von der Schnellstraße.

Ich möchte mit meiner Mutter das Monrepos aufsuchen, sagte er zur Pflegerin.

Das wird sie freuen, meinte diese.

Er schob seine Mutter im Rollstuhl in den Lift. Auf den Gartenwegen begann er ihr zu erzählen, was er seit seinem letzten Besuch gemacht hatte, berichtete von seinen Vorträgen in Badenweiler, in Nürnberg und in Basel, seinen Seminaren in Göttingen. Alles sei sehr erfolgreich verlaufen, erklärte er, denn er glaubte immer noch, seiner Mutter vorführen zu müssen, wie gefragt er sei. Gerne betonte er, wie furchtbar gestresst er die vergangenen Monate gewesen war, noch immer sei, erzählte, dass seine Frau seit der letzten Chemotherapie geschwächt, dass Alfred, sein ältester Sohn, schon wieder ausgerissen sei – der Förster habe ihn herumirrend und verwirrt im Bannwald aufgegriffen – und dass Nadine sich darüber furchtbar aufgeregt habe. Es sei wieder einmal die Hölle gewesen, die Hölle, wiederholte er. Er sprach mit leiser, monotoner Stimme, während er sie durch den Park schob. Er legte keinen Wert darauf, von der Mutter gehört zu werden, es war ihm wichtig auszusprechen, was ihn sonst erstickt hätte. Außerdem wusste er nicht, wie viel seine Mutter noch verstand, wahrscheinlich vergaß sie das Gesprochene sehr rasch, erkannte aber seine Stimme wieder. Jedenfalls lächelte sie, sobald er sprach, es schien, als hörte sie ihm zu, möglicherweise war es vor allem die Stimmmelodie, die ihr vertraut war, die sie vielleicht an etwas Verschüttetes erinnerte, das sie nicht mehr einordnen konnte. Sie war die Einzige, der er sowohl von seinen Erfolgen wie auch von seiner häuslichen Misere erzählen konnte. Hätte sie alles verstanden, so hätte er schweigen müssen. Er schob sie über die schmalen, tulpengesäumten Wege. Manchmal hielt er an, beugte sich über sie und sagte ihr dann mit veränderter Stimme ins Ohr: Schau doch, Mutter, diese Blumenpracht! Manchmal hörte er ein leises Ja. Oder ein gehauchtes: Schön. Nicht wahr, Mutter, das ist doch schön?, wiederholte er dann, um noch ein Schön aus ihr herauszulocken, was ihm bisweilen gelang.

Am Ende des Parks lag das kleine, in Barockmanier gebaute Kaffeehaus Monrepos. Seine Mutter war eine Dame gewesen, die nie ohne Hut und Handschuhe das Haus verließ, selbst heute hatte ihr auf seinen Wunsch die Pflegerin einen Strohhut aufgesetzt, den sie sich allerdings schon im Zimmer wieder vom Kopf gezogen hatte. Das bedauerte er, denn der Hut führte ihn in seiner Erinnerung in Tage seiner Kindheit, als er mit seiner Mutter, seiner Tante und seiner gleichaltrigen Cousine in regelmäßigen zeitlichen Abständen eine stadtbekannte Modistin aufsuchte und stundenlang dem Anproben der Schöpfungen der Madame Cachet beiwohnte. Madame Cachet hielt nicht nur Bonbons für die Kinder bereit, sondern auch Bilderbücher, in denen er und seine Cousine blättern durften. Und das Flair der längst vergangenen Zeit überglänzte für Sekunden seine gegenwärtige, problematische Lage.

Ebenso auf seinen Wunsch hatte die Pflegerin seiner Mutter ein blaues Seidenkleid mit talergroßen weißen Tupfen angezogen, das sie als junge Frau getragen und das sich erstaunlicherweise erhalten hatte, und die schlichte Perlenkette umgelegt; um ihre Beine hatte sie ein Plaid gebreitet und ihre Schultern wärmte das silbergraue Nerzcape, das sie früher zu festlichen Anlässen zu tragen pflegte. Es gab ihm das Gefühl, dass man ihr dadurch etwas von ihrer Würde zurückgab. Er konnte sich vorstellen, dass die Pflegerin viel Mühe aufwenden musste, der beinahe unbeweglichen Greisin das Kleid überzustreifen, aber sie wusste auch, dass er ihren Aufwand großzügig entlohnte. Den Strohhut mit der roten Banderole hatte er der Mutter wieder aufgesetzt, und nun behielt sie ihn auf dem Kopf. Meistens besprühte er sie vor dem Ausgang mit Chanel No5, das sie geliebt hatte, und der Duft überdeckte den leichten Uringeruch, der selbst in der freien Natur von ihrem Rollstuhl aufstieg.

Das Lokal war heute nur wenig frequentiert. Er fand einen angenehmen Platz am Fenster. Für die Mutter bestellte er eine cremige Torte, die die beinahe Zahnlose mit seiner Hilfe gierig aß. Er hatte ihr eine große weiße Stoffserviette unter das Kinn geschoben, dennoch bekam das Kleid einige Flecken ab. Es waren nicht die ersten, es hätte längst gereinigt gehört, aber dafür hätte er Order geben müssen und darauf vergaß er regelmäßig. Auch heute hatte er Fotos von früher mitgebracht, von seinem Vater, an den er selbst nur eine dunkle Erinnerung haben konnte, denn er wuchs wegen dessen ansteckender, tödlich verlaufender Lungenkrankheit bei seinen Verwandten auf. Erst als er fünf Jahre alt war, holte ihn, nach dem Tod seines Vaters, die Mutter wieder zu sich. Er erinnerte sich noch an die großzügigen Räume, an die dunkel glänzenden Möbel in der Wohnung nahe am Stadtpark, an die Bücher mit den Goldrücken, an das Porzellan hinter Glas, an die Ölgemälde. Er erinnerte sich auch, dass seine Mutter, als junge Witwe, die große Wohnung nicht halten hatte können; sie übersiedelten in eine kleinere in einer schlechteren Wohngegend mit einem Hausmeister, den er fürchtete.

Als die Torte verzehrt, das Gesicht der Mutter geputzt und das Gedeck abserviert worden war, zeigte er ihr – wie jedes Mal – Fotos von seinem Vater, auf denen er allein und in Gesellschaft mit Künstlern, in Ausstellungen, am Rednerpult stehend, zu sehen war, um ihre Erinnerung wachzurufen. Noch vor einem halben Jahr hatte sie einige Personen identifizieren können, heute griff sie nach den Bildern und wollte sie zerreißen. Es ist hoffnungslos, dachte er, bald würde sie auch seine Stimme nicht mehr erkennen, aber vielleicht erkannte sie sie schon jetzt nicht mehr und er bildete es sich nur ein? Mutter, sagte er, Mutter, und er nahm ihre Hände, die auf dem Tischtuch herumfuhren, sie blickte auf und lächelte. Als er ihre Hände losließ, fuhr sie fort, auf dem weißen Tuch herumzuwischen, schließlich mit den Nägeln darauf zu scharren. Es war Zeit, die Rechnung zu verlangen. Heute hatte Frau Hanne Dienst, die seine Mutter immer mit Frau Professor begrüßte. Er wusste nicht, weshalb ihm heute das als Farce erschien. Er schaute auf die Uhr, es war schon vier, er musste rasch aufbrechen, denn er hatte noch im Institut zu tun. Als er die Mutter in ihr Zimmer gebracht hatte, rief er die Pflegerin, küsste die Mutter auf die Stirn, er sah ihre trüben, grauen Augen, die einmal strahlend gewesen waren. Ach, die Zeit, die Zeit ist mir mein tiefstes Weh, zitierte er seufzend seinen Lieblingsdichter. Es beglückte ihn, dass der Dichter die Empfindungen, die auch ihn quälten, in Worte geformt hatte. Er fragte die Pflegerin, wie es um den Gesundheitszustand seiner Mutter bestellt sei. Er fragte das jedes Mal und jedes Mal, dachte er, das sei eine überflüssige Frage, er sah doch, wie es ihr ging. Sie würde die Mutter aus dem getupften Kleid herausquälen, ihr das Nachthemd, das am Rücken offen war, mit einfachen Handgriffen überziehen und dann, was würde sie dann mit der Mutter machen? Bekam sie heute noch etwas zu essen? Zu trinken? Medikamente? Oder würde man sie noch eine Weile mit dem Rollstuhl an die Glastür schieben, damit sie sehen konnte, wie der Abend langsam die Gewänder wechselte? Das hätte er fragen sollen, dachte er hinterher.

Die Fahrt zurück dauerte wegen des starken Verkehrs länger als vorgesehen. Er würde zu dem Treffen zu spät kommen, aber das war man bei ihm gewohnt, er kam nie pünktlich, er wusste selbst nicht, wie sich der Verzug stets ergab. Die meisten, mit denen er eine Abmachung hatte, nahmen es hin. Nadine hatte ihn schon vor mehr als einer Stunde zurückerwartet. Sie lag auf der Couch im Wohnzimmer in eine Decke gehüllt. Sie hatte sich ein Tuch um den Kopf gewickelt. Er konnte noch immer ihren kahlen Schädel kaum ertragen. Entschuldige, entschuldige, der Verkehr, ich bin in einen Stau gekommen, kilometerlang nur stop and go. Sie winkte müde ab.

Wie geht es dir?

Ich möchte Kamillentee.

Wo ist Hanno?, fragte er.

Er arbeitet an einer Physikaufgabe, Prüfungsvorbereitung. Vielleicht könntest du Fredi rufen, er soll herunterkommen. Mir Gesellschaft leisten.

Sie sah ihm zu, wie er das Wasser aufstellte, nach einer Tasse suchte, nach einem Teebeutel in der Dose tastete. Er brachte ihr den Tee an den Couchtisch.

Dann ging er in den ersten Stock: Alfred! Er klopfte an die Tür, keine Antwort, die Tür war versperrt.

Er ging wieder hinunter. Alfred hat sich eingeschlossen. Ich bleibe nicht lange weg.

Sie richtete sich auf, fasste nach der Teetasse, stellte sie wieder hin. Zu heiß.

Er schaute auf die Uhr, trat an den Tisch, rührte in der Teetasse um, sagte: Jetzt kannst du ihn trinken. Sicher kommt Alfred bald herunter.

An der Tür warf er noch einen kurzen Blick ins Zimmer, sie hatte sich zurückgelegt und die Augen geschlossen.

Er startete das Auto, dachte an Mark Landmann, mit dem er sich gleich treffen würde. Der Kanadier wartete bereits in der Cafeteria des Instituts. Er wollte eine Biographie über einen Grafiker schreiben, der mit Heinrich Mann einen umfangreichen Briefwechsel geführt hatte. Adrian geleitete ihn in die sogenannten Katakomben des Instituts, um ihm die wertvollen Handschriften vorzulegen, aus denen sich der Besucher unter seiner Aufsicht Notizen machen durfte. Als Adrian ein wenig später auf die Uhr schaute, erschrak er, denn er wurde längst zu Hause erwartet. Rasch verabschiedete er sich von seinem Gast und verabredete sich mit ihm für den nächsten Tag.

Es war inzwischen dunkel geworden. Beim Einparken sah er, dass im Schlafzimmer seiner Frau Licht brannte, sie war also nach oben gegangen und noch wach, auch in der Küche war es hell. Hanno brutzelte sich Würstchen in der Pfanne. Adrian öffnete die Küchentür, sagte in das mürrische Gesicht seines Sohnes: Das duftet ja lecker. Als er keine Antwort erhielt, fragte er, ist Mutter schon oben? Hanno sah ihn von der Seite an und zuckte nur mit den Schultern. Adrian ging in das obere Stockwerk, um selbst nach seiner Frau zu sehen. Er legte das Ohr an die Schlafzimmertür, manchmal hörte sie Musik. Da alles still war, klopfte er. Nadine lag im Bett, ihr Gesicht von der Nachttischlampe schwach beleuchtet. Sie hatte das Kopftuch abgenommen und er hatte Mühe, seine Frau anzusehen.

Soll ich mehr Licht machen, du siehst ja kaum etwas, sagte er und trat näher.

Sie blickte ihn abweisend an. Es kam ihm vor, als hätte sie ihn immer feindselig angeschaut, und doch war es einmal anders gewesen. Es fiel ihm schwer, sich daran zu erinnern, es war zu lange her. Er dachte an den Anfang eines Gedichts, das er ihr früher manchmal aufgesagt hatte. Aber nun dachte er nur an das Gedicht und es rührte ihn auch heute noch, obwohl es nichts mehr mit der Frau und mit ihm zu tun hatte. Du siehst mich manchmal an, als hätt ich schuld. Ich habe doch von deiner Huld nicht einen Hauch vertan. Ich lebe ja vom Traum, dass du mich liebst … Nein, er träumte nicht mehr davon, dass sie ihn liebte, hatte doch er schon längst aufgehört, sie zu lieben. Vielleicht sehnte er sich danach, das Gedicht noch einmal einer Frau sagen zu können, einer, die die Verse verstand. So wie Nadine die Verse verstanden hatte einst, vor dreißig, vielleicht noch vor fünfundzwanzig Jahren.

Ich wollte dich fragen, ob du etwas brauchst, sagte er leise.

Hanno hat mir eine Suppe gebracht, du kannst den Teller hinunterbringen.

Er nahm den Teller, trug ihn in die Küche und ging in sein Arbeitszimmer. Er verschränkte seine Arme auf dem Schreibtisch und legte seinen Kopf darauf. Schlafen, schlafen, nichts als schlafen! Kein Erwachen, keinen Traum! Jener Wehen, die mich trafen, leisestes Erinnern kaum. Schade, dass er hier stocken musste. Er würde demnächst das ganze Gedicht auswendig lernen. Für beinahe jede seiner Stimmungen hatte er Verse abrufbereit. Manche versetzten ihn in einen tranceartigen Zustand, andere erschütterten ihn zu Tränen und wieder andere machten ihn fröhlich. Er hatte sich vorgenommen, jeden Tag ein Gedicht auswendig zu lernen, doch in letzter Zeit hatte er keine Muße mehr gefunden, er schöpfte aus seinem Repertoire, das allerdings beträchtlich war.

Vor einer Woche war er von einer fünftägigen Gruppenreise nach Prag zurückgekommen. Er war noch erfüllt von den Tagen; nur seiner Mutter hätte er davon erzählen können. Doch er hatte Angst, dass er dadurch dem kleinen, beglückenden Erlebnis seinen Zauber nehmen würde. Ich lebe ja vom Traum, dass du mich liebst. Was, wenn er ihr schriebe, sich ihr mit seinen Worten zu nähern suchte? Sie hatten die Adressen ausgetauscht. Er hatte versprochen, ihr, von der er nicht viel mehr wusste als ihren Namen und Wohnort, etwas von seiner Arbeit zu schicken.

Im anschließenden Zimmer kämpfte seine Frau mit einem quälenden Husten. In letzter Zeit hustete sie viel. Der Arzt meinte, es komme von den Medikamenten, der Husten habe nichts mit ihrer Hauptkrankheit zu tun. Der Krebs war die Hauptkrankheit, der Husten war eine Nebenkrankheit, die man vernachlässigen könne, sagte der Arzt; das sollte seine Frau und ihn beruhigen. Und Beruhigung, weiß Gott, das brauchten sie beide. Er vielleicht mehr als sie. Sie, deren Tagesablauf sich abspielte zwischen Tabletteneinnahmen, Spazierengehen – wenn sich jemand bereitfand, sie zu begleiten, zu Arztbesuchen, Massagen, Infusionen und Mistelinjektionen, in die sie ihre Hoffnung setzte. Es hatte den Anschein, dass sie nicht über den Tag hinausdachte. Wenn sie über den Tag hinausdächte, hätte sie ihn rufen müssen und sagen: Wir müssen miteinander sprechen, solange noch Zeit ist. Was hätten sie einander zu sagen gehabt? Welches Gespräch hätte er sich gewünscht? Wie soll das gehen?, hätte er sie fragen sollen. Wenn ich allein bin mit den beiden Söhnen, ich, der Schwerkriegsbeschädigte, mit dem autistischen Sohn und dem jüngeren, der mich ablehnt. Er, allein mit den Hinterlassenschaften in Marseille, mit dem Haus, in dem die epileptische Schwester hauste, für die auch eine Lösung gefunden werden musste. Er hatte immer wieder zu Nadine gesagt, für deine Schwester muss auch eine Lösung gefunden werden. Sie kann doch nach dem Tod deiner Mutter nicht mehr allein in dem Haus bleiben. Die Mutter war eben erst gestorben und für eine Lösung war noch keine Zeit geblieben. Doch mit Nadine gab es keine Aussprache. In Wirklichkeit war er einem Gespräch über die letzten oder vorletzten Dinge nicht gewachsen. Sie hatte die Bibel, als er zu ihr gekommen war, rasch unter das Kissen geschoben. Die Tröstungen der Religion – er beneidete sie. Vielleicht sehnte sie das Ende herbei. Als er ging, sich über sie beugte, um sie auf die Wange zu küssen, schob sie ihn von sich. Hanno soll kommen, sagte sie. Er schloss behutsam die Tür, und unvermittelt tauchte das Bild der jungen Frau vor seinem inneren Auge auf. Wie sie allein auf der Karlsbrücke stand, wartend, hinter ihr ragte der Hradschin auf. Sie hatte die Gewohnheit, sich immer wieder von der Gruppe zu entfernen. Ihre Gestalt schien ihm wie hingezaubert. Es war ihm, als ob sie ihm entgegenblickte, auf ihn wartete. Aber wahrscheinlich wartete sie auf die Gruppe, um sich ihr wieder anzuschließen. Als er näher kam, war der Zauber vorbei. Sie war wieder leibhaftig geworden, drehte sich um und ging voraus. Ihr stolzer, aufrechter Gang war ihm vom ersten Augenblick an aufgefallen. Doch jetzt, wieder heimgekehrt, wollte er ihren Namen nicht denken, als hätte er kein Recht darauf, aber ihr Gesicht, ihre Gestalt, wie sie sich bewegte, ihre Anmut, wie sie lächelte, wie sie sprach, wurden gleichsam von einem inneren Automatismus heraufgerufen. Sie stand so lebendig vor ihm, dass er einen Moment stehen bleiben musste, um nicht Gefahr zu laufen, die Treppe hinunterzustürzen. Er versuchte, das Bild zu verscheuchen.

Noch einmal hinunter in die Küche. Hanno hatte soeben die gebratenen Würstchen auf einem Teller platziert.

Deine Mutter möchte dich sehen.