Cover

Joseph Zoderer

Die Walsche

Roman

Mit Materialien aus dem Vorlass des Autors sowie Beiträgen von Sigurd Paul Scheichl und Irene Zanol

Editorische Notiz

Der Text folgt der im Hanser-Verlag erschienenen Erstausgabe. Im Einvernehmen mit dem Autor werden jedoch in der Werkausgabe die Regelungen der so genannten neuen deutschen Rechtschreibung übernommen.

Joseph Zoderer

Autor Foto

© Foto: Max Lautenschlaeger

Zum Autor

Joseph Zoderer, geboren 1935 in Meran, lebt als freier Schriftsteller in Bruneck. Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie, Theaterwissenschaften und Psychologie in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Ehrengabe der Weimarer Schillerstiftung (2001), Hermann-Lenz-Preis (2003) und Walther-von-der-Vogelweide-Preis (2004). Vom Autor des Romans "Die Walsche" (Neuauflage bei HAYMONtb 2012) erschienen bei Haymon zuletzt: "Das Glück beim Händewaschen". Roman (HAYMONtb 2009), "Die Farben der Grausamkeit". Roman (2011, HAYMONtb 2014), "Mein Bruder schiebt sein Ende auf". Zwei Erzählungen (2012) und "Hundstrauer". Gedichte (2013).

Seit 2015 wird das Werk von Joseph Zoderer, einem der führenden Erzähler der Gegenwartsliteratur, in Einzelbänden neu aufgelegt. In Zusammenarbeit mit Johann Holzner und dem Brenner-Archiv Innsbruck wird jeder Band durch ein Nachwort sowie interessante Materialien aus dem Vorlass des Autors ergänzt. Davon bisher erschienen: "Das Schildkrötenfest". Roman (2015), "Dauerhaftes Morgenrot". Roman (2015) und "Die Walsche". Roman (20016).

Impressum

© 2016

HAYMON verlag

Innsbruck-Wien

www.haymonverlag.at

Der Text folgt der 1982 im Carl Hanser Verlag erschienenen Erstausgabe. Im Einvernehmen mit dem Autor werden jedoch in der Werkausgabe die Regelungen der so genannten neuen deutschen Rechtschreibung übernommen.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7099-3740-2

Umschlag- und Buchgestaltung nach Entwürfen von hœretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol

Umschlag: hoeretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol

Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig

Autorenfoto: Max Lautenschläger

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Cover: Inserat 1

Vielschichtig, poetisch, berührend: Joseph Zoderers frühes Meisterwerk „Dauerhaftes Morgenrot“ neu aufgelegt.

Lukas ist einer, der stets getrieben ist und doch nie ankommt. Seine Frau bringt ihn dazu, sie zu verlassen – sie weiß, dass er zurückkommen wird. Er zieht aus in die fremde Stadt am Meer, um Johanna zu suchen, die andere Frau, die andere Liebe. Doch noch während er sich der Erfüllung seiner Sehnsüchte nähert, zeigt sich: Vielleicht ist die Sehnsucht selbst schon ihre Erfüllung.

„Dauerhaftes Morgenrot“ erzählt davon, dass Liebe nur möglich ist, wenn das Sehnen nie aufhört. Die Verwirrungen von Lieben, Leben und Wünschen beschreibt Joseph Zoderer vielschichtig, poetisch und eindringlich.

„Dauerhaftes Morgenrot“ ist der Auftakt zu einer Edition, in der die Werke von Joseph Zoderer, einem der führenden Erzähler der Gegenwartsliteratur, in Einzelbänden neu aufgelegt werden. In Zusammenarbeit mit Johann Holzner und dem Brenner-Archiv Innsbruck wird jeder Band durch ein Nachwort sowie interessante Materialien aus dem Vorlass des Autors ergänzt.

„… ich habe es natürlich sofort gekauft und in einem Zug durchgelesen. Es hat ja einen ungeheuren Sog und ist das, was Kafka von den guten Büchern verlangt: eine Axt, mit der man gefrorene Seen aufschlägt. Mir hat es tiefe Wunden aufgerissen ….“

Brief von Jürg Amann an Joseph Zoderer, Wien, 6. 3. 1987

Joseph Zoderer

Dauerhaftes Morgenrot

Roman

ISBN 978-3-7099-3635-1

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Cover: Inserat 2

Eigentlich ist Loris froh, auf der langen Fahrt hinunter nach Mexiko mit sich allein zu sein. Dass die Schöne neben ihm entweder Zeitung liest oder schläft, ist ihm nur recht. Dennoch beginnt er später, als sie durch die Wüste fahren, mit ihr zu sprechen. Und dann, während einer einzigen Nacht, entsteht eine überraschende Vertrautheit. Am nächsten Morgen ist Nives, die Schöne, verschwunden. Auf der Weiterreise erhält Loris immer wieder Nachrichten von ihr – bis sie ihn in seinem Hotelzimmer überrascht. Joseph Zoderer erzählt von der Sehnsucht nach eindeutigen Gefühlen, vom Abenteuer des Sich- Verlierens und von den Fluchtmanövern, die wir inszenieren, um nicht schutzlos dazustehen vor einem unerwarteten Glück. Dass wir für dieses Glück alles riskieren, zeigt Zoderer mit eindringlicher Intensität.

Ergänzt durch ein Nachwort von Sieglinde Klettenhammer und Materialien aus dem Vorlass des Autors.

„Im schwebenden Ton des souveränen Erzählers gehalten, liefert Zoderers kleiner Roman faszinierende Momentaufnahmen.“

Die Weltwoche

Joseph Zoderer

Das Schildkrötenfest

Roman

ISBN 978-3-7099-3673-3

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Cover: Inserat 3

Ein Leben lang waren sie beste Freunde, haben nächtelang diskutiert und gelacht, gegessen und getrunken. Doch als Konrad stirbt und sein Freund dessen leere Wohnung in Rom betritt, wird ihm nach und nach bewusst, wie fremd und undurchdringlich ihm Konrad über all die Jahre hinweg geblieben ist, wie streng er die Geheimnisse seines Lebens gehütet hat. In der zweiten Erzählung dieses Bandes schildert Joseph Zoderer die Beziehung zweier Brüder: Nach einem Leben auf Distanz kommen sie sich im Alter wieder näher, suchen die Vergangenheit nach geteilten Erinnerungen ab und spüren dem nach, was sie voneinander trennt.

In beiden Geschichten erweist sich Zoderer als ein begnadeter Erzähler, der wie kaum ein anderer den Zauber des Unscheinbaren erwecken kann. Sensibel und mit feinem Strich zeichnet er in diesem Buch die Porträts von vier Männern und erzählt vom reifen Blick des Alters, von Vertrautheit und Distanz, und von der Kraft der Freundschaft.

„In wenigen Strichen bringt Zoderer Figuren zum Atmen.“

NZZ, Beatrice von Matt

„Joseph Zoderer bleibt auch als Erzähler Poet.“

Frankfurter Rundschau, Martin Lüdke

„so sinnlich, poetisch und menschlich“

Berliner Zeitung, Christoph Grabitz

Joseph Zoderer

Mein Bruder schiebt sein Ende auf

Zwei Erzählungen

ISBN 978-3-7099-7402-5

€ 9.99

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Cover: Inserat 4

Richard will sich von der Liebe seines Lebens befreien, von der Obsession einer Leidenschaft, die ihn immer noch an Ursula fesselt, seine einstige Geliebte, die ihn verlassen hat. Um sein Familienglück zu retten, kauft er ein altes Bauernhaus am Berg. Doch pendelt er weiterhin zwischen den Welten, bis er eines Tages Ursula ein zweites Mal begegnet und sich entscheiden muss …

Mit atmosphärischer Dichte und poetischer Klarheit erzählt Joseph Zoderer eine Geschichte von den Möglichkeiten der Liebe und den Wunden, die sie schlägt, von der Sehnsucht, mehr als ein Leben zu haben, und vom Weg eines Mannes zu sich selbst.

Joseph Zoderer

Die Farben der Grausamkeit

Roman

ISBN 978-3-7099-7447-6

€ 14.99

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Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Die Walsche
Glossar
Anhang
Irene Zanol: „Ich muß ein unheimliches Buch ­schreiben!“ Zur Entstehung des Romans
Anmerkungen
Sigurd Paul Scheichl: Nachwort
Editorische Notiz
Joseph Zoderer
Zum Autor
Impressum
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Für Peter und Andreas

Sie hatte Silvano zuletzt anschreien müssen: Bleib daheim, bis er endlich verstand und daheimblieb im italienischen Stadtteil, der von den Deutschen Schanghai genannt wurde.

Ich bin ein feiges Luder, sagte sie litaneienhaft vor sich hin, fast im Rhythmus des Rosenkranzgemurmels, das aus dem Nebenzimmer, wo sie ihren Vater, den Lehrer, aufgebahrt hatten, in die Stube hereindrang. Sie hätte Silvano das Mitkommen nicht verwehren dürfen zum Begräbnis ihres Vaters, für ihn aus dem Süden etwas Heiliges, Selbstverständliches, eine Sache des Respekts und der Ehrerbietung, ganz gleich, ob nun ihr Vater die Spaghetti, die Silvano einmal in dem Lehrerhaus gekocht hatte, dem Wolfshund hier neben diesem Tisch zum Fressen auf den Stubenboden hingestellt oder ob er ihn, den Italiener, einfach nur für einen Windbeutel gehalten hatte.

Sie hatte ihn nicht wie irgendjemanden, schon gar nicht wie einen geliebten Menschen behandelt, sondern wie einen Walschen, der in dieser Welt hier, in der deutschen, nichts zu suchen hatte, der besser draußen blieb, sie hatte ihn hinausgedrängt, wenn auch eigentlich nur abgedrängt, nicht hereingelassen, um nicht noch mehr Scherereien zu haben, gewiss, um ihm Belästigung zu ersparen. Sie passte sich an, sie tat ihm Unrecht, sie, die sich seit langem darum angeblich nicht mehr scherte und trotz der Redereien der Leute, trotz des Widerstands ihres Vaters lebte, wie sie wollte, nämlich mit Silvano, aus dem nun einmal kein Deutscher zu machen war. Und sie hatte ihn nicht geheiratet, sie, jetzt mitten in den dreißig.

Beim Begraben ihres Vaters sollte Ruhe sein. Und so war sie allein den ihr entgegenkommenden Wolken zugefahren, um allein zu erledigen, was hier erledigt werden musste, wenn jemand gestorben war, um Ruhe zu haben, also aus Angst vor den anderen war sie allein heraufgefahren in dieses Nest auf tausenddreihundert Meter über dem Meer, sehr weit entfernt von Ebbe und Flut, in dieses Bergloch, aus dem ihr Vater nicht wegzukommen imstande gewesen war, obwohl er früher oft ausgerufen hatte: Hinaus in die Welt, nichts als hinaus in die Welt.

Himmel war das keiner, in den sie zurückfuhr, das wusste sie zu gut, die Leute hatten sich nicht geändert, sie waren nur freundlicher geworden, im Gesicht, und sogar der Ploser hatte den alten Hof, Haus und Stadel, niedergerissen und eine Pension gebaut.

In der letzten Kurve vor dem Ortsschild dachte sie: Diese Dotterblumen, diese gelben Knollen, Silvano hätte sich darüber gefreut.

Die Nachbarn hatten den Lehrer, ihren Vater, im völlig ausgeräumten, also kahlen und kalten Schlafzimmer aufgebahrt auf Brettern, unter die zwei Malerböcke geschoben waren. Über die Leiche, die nach altem Brauch nicht gewaschen und ohne Schuhe in den Sonntagsanzug gesteckt worden war, hatten sie ein abgenutztes, wenn auch gebügeltes weißes Leintuch bis zum Kinn hinaufgezogen.

Sie hatte ihn angeschaut, mehrmals, wie er nun dalag, mit den gelblichweißen Haaren, die über die Ohren bis zu den Kinnbacken heruntergekämmt waren, der spinnete Lehrer, wie sie ihn nannten, der bsoffene Lehrer, über den sie tratschten, obwohl er für sie ein guter Lehrer war, weil er brüllte und kommandierte und Zucht und Ordnung hielt in der Schule, ganz anders als die jungen Lehrerinnen. Auch wenn es alles andere als ein gutes Beispiel war, wenn er, meistens von Kindern, also von seinen Schülern, in den letzten Jahren immer häufiger auf einer Wiese oder auf einem Wiesenweg oder in Bachnähe bewusstlos oder wie bewusstlos, auf jeden Fall aber vollkommen besoffen aufgefunden wurde, wie auch dieses Mal, das letzte Mal, als er auf der Böschung des Kirchbaches lag und das Bewusstsein ihn schon seit Stunden endgültig verlassen haben musste.

Auf dem Boden, unmittelbar unter seinen Füßen, stand ein blaugrau lackiertes Tonfässchen, in dem sie früher Preiselbeermarmelade aufbewahrt hatten: Nun war es vielleicht noch halbvoll mit Weihwasser, das die Dorfleute, die zum Beten kamen, mit einem kleinen Fichtenzweig über das Leintuch sprengten. Ein paar Tropfen glitzerten immer wieder einmal auf seinem eingefallenen Gesicht, sie wischte sie nicht weg, ließ sie in der Zimmerluft verdunsten. Nie zuvor war ihr so deutlich das blassgrüne Ahornmuster aufgefallen, das ihre Mutter noch, bevor sie im Postautobus für immer ins Tal hinuntergefahren war, mit einer Gummirolle über die Kalkfarbe der Wand gewalzt hatte.

Durch die Tür hörte sie die zischelnde Stimme ihres Stiefbruders aus den Stimmen der anderen heraus und den immer wiederkehrenden Satz: Der du von den Toten auferstanden bist.

Auf dem Stubentisch standen Schnapsflasche und Weinkrug, auch einige Gläser. Wer seine Stunde für den Toten abgebetet hatte, kam heraus und gab ihr die Hand, obwohl er ihr vielleicht sonst nie die Hand gegeben hätte, ihr, die nicht mehr die Olga, sondern die Walsche war, auch für die Kinder, die nichts von ihr wussten. Und während sie dachte, Silvano schenkt jetzt in der Bar friaulischen Rotwein in die Achtelgläser der Nachtschichtler oder witzelt mit Guido und Michele, die regelmäßig nach dem Nachmittagsturnus zum Aufwärmen kamen, schenkte sie hier in der Stube, ihrer Kinderstube, zum Dank für das Gebet Wein oder Schnaps in die Gläser.

Am anderen Tisch, ihr gegenüber, hockten der Filliger Karl und der Untertallinger vor ihren Schnapsgläsern und redeten fast nichts, und was sie redeten, war ein keuchendes Flüstern. Sie hörte einmal Traktor und etwas später Leichgeld und dachte: Leichengeld, dann hörte sie das Wort noch einmal und verstand: Leihgeld für einen neuen Traktor. Drinnen beteten sie den Ablass: fünf Vaterunser und Ich glaube an Gott den allmächtigen Vater.

Der Filliger Karl mit den kupfernen Haaren, die jetzt schütter geworden waren und glatt auf seinem schmalen Dachskopf klebten, Karl hatte wie die anderen wieder und wieder mit ihrem Damenfahrrad herumkurven wollen. Komm, hatte er gebettelt, war vor ihr gestanden und hatte gebettelt, komm, wir fahren bis zum Turnerbach, und sie hatte sich auf den Gepäckträger gesetzt mit abgespreizten Beinen. In den Auen am Bach hockten dann noch drei oder vier aus der letzten oder vorletzten Volksschulklasse, und alle wollten ihr Damenrad ausprobieren, auch wenn sie darüber spotteten, und sie schrie: Nein, nein, und wollte sie von ihrem Fahrrad weghaben, diese Rüpel, von denen keiner des anderen Freund sein konnte, alle wussten sie schon, wie viel Kälber der Vater des anderen hatte und wie viel Liter die beste Kuh im Stall des anderen hergab. Sie wollte heimfahren, aber Karl sagte, rauchen wir eine, und kramte tatsächlich eine Zigarettenschachtel aus der Hosentasche. Doch sie wollte lieber bloßfüßig durch den Bach waten und balancierte über die schlüpfrigen Steine.

Zu dritt oder zu viert warfen sie sie ins Gras zwischen den Erlen und Eschen. Sie sah sie noch deutlich über sich, diese blöd verzogenen Lippen und die Zigarettenglut, die ihr sehr nahe kam, ohne dass sie wirklich bis auf ihre Haut herunterstach. Den Karl hatte sie angespuckt, der Speichel rann von seiner Nasenwurzel herunter zum Mundwinkel. Er wischte mit dem Unterarm über sein Gesicht, aber ein Strich blieb und vertrocknete wie eine Schneckenspur.

Der Filliger Karl und der Untertallinger rückten ihre Stühle beiseite, und sie spürte noch einmal Karls Hand. Der Untertallinger war damals nicht dabei gewesen, obwohl das jetzt für sie kaum einen Unterschied machte. Keiner der Kartenspieler, mit denen der Vater beim Lilienwirt gewattet oder geschnapst hatte, war ihm ein Freund gewesen. Er besaß nichts, worüber man mit ihm hätte reden oder verhandeln können: keine Wiese und also kein Heu und auch kein einziges Stück Vieh, außer seinem Wolfshund, er war nichts als ein Studierter, den nicht einmal sein Hund ernst nahm, und tatsächlich war der Vater der einzige Mensch, von dem sie wusste, dass ihn der eigene Hund gebissen hatte, und zwar im Bett, wohin man einen Hund, wie er immer gesagt hatte, niemals hineinverwöhnen dürfe, was er aber, seinen Worten zum Trotz, selbst zu verhindern nicht imstande gewesen war, er, der mit ihr, kaum dass man, ohne im Schnee zu versinken, über die Wiesen gehen konnte, die Hänge hinauf- und hinuntergehetzt war und suchs und brings und suchs und brings zu dem Hund hingeschrien hatte. Der Hund freilich hatte sich nicht oder höchstens zufällig darum gekümmert und, wenn schon, seinen Stecken zum Tragen selber gesucht und keinen einzigen zum Vater hingebracht, sondern ihn sogar vor ihm zu vergraben gesucht.

Der Kopf und das Gemüt brauchen einen Auslauf, hatte der Vater mehr als einmal zu ihr gesagt, wie er überhaupt alles mehrmals zu sagen von der Schule her gewohnt war. Daher sein Rennen durch den Wald und über die Wiesen. Weg vom Lärm und dem Verkehr, war sein Spruch, und deshalb weg von der Stadt, nichts sei so nötig wie die Stille, die Ruhe in den Wäldern, deshalb auch seine Vorliebe für dichtes Unterholz oder seine Freude über einen Ameisenhaufen am Rande einer Lichtung im Sommer. Die Kinder der Stadt hätten heute nicht mehr die blasseste Ahnung von einem Bienenstich, konnte er sich ereifern, geschweige denn, woher die Milch und also, in umgekehrter Folge, die Welt komme. Kein Bezug zur Natur sei mehr da, und keine Natürlichkeit, weil sich alles entferne von der Natur.

Dabei war ihrem Vater die frische Luft vollkommen gleichgültig gewesen. Er war weder auf einen Berg hinaufgewandert noch geklettert und hatte auch für eine Skipiste nichts als Verachtung aufgebracht.

Für die schöpsene Suppe, die beim Totenessen im Gasthaus aufgetischt werden sollte, hatte sie, weil ihr Vater natürlich keine Schafe hielt, ein Schaf beim Lackner gekauft und abstechen lassen. Und obwohl sie die Käuferin war und für das zu schlachtende Tier gleich im Voraus bezahlen wollte, lud sie der Lackner nicht in die Stube ein, sondern redete mit ihr, ohne ihr die Hand gegeben zu haben, draußen neben dem Brunnentrog, wo sein Kettenhund sie beschnüffelnd einschüchtern konnte, und feilschte mit ihr, die gar nicht feilschen wollte, indem er ihr den Futterpreis pro Tag vorrechnete und den Metzgerpreis und den Marktpreis.

Anna, seine Frau, hatte ein paar Jahre neben ihr auf der Schulbank gesessen, vollkommen verschüchtert bereits dort, sogar in der Pause flüsternd, und immer dieses Lauern und ein Gesicht, das nie von selbst zu lachen anfing, das noch im Sommer frostig rot war, diese Ängstlichkeit, ob die anderen sie beobachteten, und nie meinte sie sich selbst, wenn sie „wir“ sagte. In ihrem, Olgas, Kinderzimmer hatte Anna wie besessen in den Puppenspielsachen gewühlt und so getan, als ob alles, was ihr, der Olga, gehörte, auch ihr, der Anna, gehöre, als ob sie die Puppenkleider, die Puppendauerwellen und die Puppe mit Plastikhaut und Plastikhaar am liebsten verschlungen hätte.

Die Anna war ihre Freundin gewesen, und deshalb war sie hinuntergegangen zum Lackner über den ausgewaschenen abschüssigen Waldweg, dessen Fahrrinnen angefüllt waren mit Steinen, auf denen auch die besten Wanderschuhe ins Rutschen kamen. Nach dem Schafskauf hatte Anna sie in die Küche geholt, und wahrscheinlich log sie nicht, als sie sagte, dass nur er und die Söhne, nicht aber sie und die Tochter zum Essen in die Stube hineindürften. Der Lackner hatte in der Schule die schönsten Zeichnungen gemacht, eine einzelne braunweiß gefleckte Kuh mitten in den Wolken, oder fliegende Hasen, erinnerte sich Olga. Aber schon zweimal war ihm die stille Anna davongelaufen bis nach Innichen, wo sie eine Saison lang die Hemden und Leintücher für die Münchner und die wenigen Mailänder Gäste in die Waschmaschine gesteckt und gebügelt hatte.

Wenn er zum Viehfüttern am Abend nicht heimkomme, wisse sie, dass sie sich verstecken müsse, hatte ihr die Anna erzählt, wenn er angesoffen sei, werfe er ihr alles vor, ihre ledige Tochter und den Latschenwald, den sie geerbt hatte und der nichts wert sei, und dann schlage er sie, und sie müsse sich ausziehen und in der Hinterstube ohne Decke einfach so daliegen, auch im Winter, wenn in der Kaffeekanne in der Früh eine Eisschicht sei, er aber schaue sie an, schaue sie unverwandt an, in so einer Kälte lasse er sie mit nichts auf dem Bett liegen und glotze stundenlang, und zum Schluss spucke er sie an und sage: Du Hur, du.

Olga schob die Gläser auf dem Stubentisch zusammen. Der Schnaps grauste sie, wie auch der Wein sie grauste. Es wird so Brauch sein, es wird wohl so sein müssen, sagte sie, als immer wieder einzeln oder zu zweit Frauen und Männer durch die schwere Tür des Schulhauses hereintraten und über die Stiege heraufkamen und, ohne ein Wort oder eine Geste zu ihr hin, die Tür zur Totenkammer öffneten und dahinter verschwanden.

Olga stellte die Weingläser mit den angetrockneten roten Flecken zu den Schnapsgläsern auf ein Tablett und ging damit in die Küche und säuberte Glas für Glas unter dem kalten Wasserschwall. Wie oft hatte sie sich, wenn auch meist nur für Augenblicke, bei Silvano allein oder, noch öfter, mit ihm inmitten seiner lärmenden Freunde plötzlich fremd und ohne Halt, auf jeden Fall heimatlos gefühlt, als ob sie, Silvano und sie, nie ganz zusammenkommen, nie durch eine letzte Trennwand hindurch und mit den Köpfen endlich zueinanderstoßen könnten. Fremd, tatsächlich fremd hatte sie sich manchmal mit ihm im Italienerviertel gefühlt, aber auch hier in dem Haus, wo sie aufgewachsen war, hier an diesem ihrem Geburtsort, wo ihr alles vertraut hätte sein müssen, fiel ihr alles in beklemmender Fremdheit auf den Kopf und auf die Brust und sank durch Augen und Ohren hinein und drückte hinunter auf das Herz. Mit Silvano konnte sie wenigstens schreien, durch die dünne Trennwand hindurch- und hinüberschreien.

Bei Polenta und Schweinswürsten über offenem Feuer hatten Silvano und sie einander zum ersten Mal gesehen, nicht in der Stadt, sondern am Berg, in einer Gegend mit sumpfigen Wiesenmulden und spärlichen Zwergföhren, oder doch in der Stadt, an einer Bartheke, sie wusste es nicht mehr genau, jedenfalls war er auf der Bergwiese unter blauem Himmel mit einem Arm voll krüppeliger Latschenäste an ihr vorbeigegangen und hatte sich über das Feuer gebückt, sie sah auf seinen breiten Rücken und die abgewetzten blaugrauen Flicken seiner Jeans, aber er kam ihr damals viel zu wichtigtuerisch vor mit seiner wortkargen, patriarchalischen Art, seinen geschneckelten langen braunen Haaren und dem seltsamen südlichen Italienisch. Ja, beim Herumsitzen in der Eckbar vor der Brücke hatte sie ihn vielleicht schon vorher gesehen, ohne dass er ihr aufgefallen war, oder zwischen Obstmarkt und Zeitungskiosk, vielleicht auch unter den zu dritt oder zu fünft nebeneinander daherparadierenden Burschen, die sich nach jedem Rock umdrehten und dünn zwischen den Zähnen pfiffen oder vor dem Corso-Kino standen, vor einem dieser Säulenplakate, die Hände in den Hosentaschen, bis sie entweder ins Kino gingen oder die Arkaden der Freiheitsstraße hinunter.

In der Lehrerstube hing kein einziges Bild, nicht einmal ein Christus- oder ein Muttergottesbild, nur ein Zeitungsausschnitt, einer von vielen, die sie einmal gesammelt hatte über den Freiheitshelden, den allertirolerischsten Heimathelden, ein ganzes Schulheft hatte sie mit Bildern und Artikeln vollgeklebt, und einen dieser ausgeschnittenen Hofer hatte ihr Vater mit Reißnägeln an der Wand befestigt zwischen den beiden Fenstern, und dort hing er noch immer in farbigem Öldruck.

Aus der Totenkammer traten der Flötscher und der Naz auf sie zu, und hintereinander gaben sie ihr die Hand, der Flötscher erwischte nur ihre Fingerspitzen, so dass sie gerade noch den Unterschied spürte zwischen seiner schweren Hand und den gelenkigen Fingern des Lilienwirtes Naz, der ihre Hand tatsächlich ganz und gar umschloss, ohne sie zu schütteln. Dem Ignaz oder Naz, wie sie hier sagten, gehörte der Gasthof, in dem sich der Vater, weil der kürzeste Weg vom Lehrerhaus eben dorthin führte, zu Tode gesoffen hatte, dem Naz hätte sie am liebsten grazie! mille grazie! ins Gesicht gezischelt, aber sie fragte nur: Schnaps oder Wein? Er hatte sie als einer der Ersten die Walsche geheißen, damals vor der Schulhaustür, weil sie die Einzige war, die die Italienischaufgaben gemacht hatte und von der Italienischlehrerin dafür gelobt wurde.

Und während sie vor dem Stubentisch stand und keinen von beiden, auf jeden Fall den Naz nicht, zum Niedersitzen aufforderte und wartete, bis sie endlich das Schnapsglas hoben, zu diesen rissigen Tabaklippen, die sie nicht anschauen wollte, hörte sie den Lilienwirt fragen, ob sie zum Totenessen auch Knödel in der Suppe und eine Mehlspeise für die Kinder bestellen wolle. Sie sagte ja ja und sah auf den Bretterboden, der nie lackiert worden war und den sie mit der Handbürste hatte säubern müssen.

Mit Leuten wie Naz und Flötscher hatte ihr Vater seine Jahre verbracht, als Lehrer, als Kartenspieler und zuletzt immer mehr als armseliger Saufkumpan, den, wenn er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, kein Spieler für wert befunden hatte die paar Schritte von der Lilie zum Lehrerhaus zu führen, und mehrmals hatte sich der Vater auf dieser lächerlich kurzen Strecke zum Kirchbach hinunter verirrt und war dort mindestens einmal mit den Füßen im Wasser aufgefunden worden. Und mehr als einmal hatten sie ihn auch nach Pergine eingeliefert, in die nächste oder zumindest bekannteste nächste Trinkerheilanstalt, also ins Irrenhaus, und noch dazu in eines der italienischen Nachbarprovinz, zu den walschen Idioten, wie die Leute hier sagten. Aber wenn er dann nach Wochen wieder aufgetaucht war, hatten sie ihn erneut auf ein Bier oder einen Schnaps eingeladen und zum Kartenspielen.