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André Pilz

Der anatolische Panther

Kriminalroman

André Pilz

Der anatolische Panther

Für die, die immer da sind

&

Pitissima

1

All the snakes crawl at night;

that’s what they say.

When the sun goes down,

then the snakes will play.

(The Snakes Crawl At Night, Charley Pride)

Chachapoya nennt mich Nteba, wenn wir im Bett liegen. Oh ja, wir sind Wolkenmenschen. Nebelkrieger. Ich wohne im siebten Stock, Doogie im neunten, Yiannis im zehnten, und Sugo-Joe übertrumpft uns alle: Seine Bude ist im elften Stock. Dazu hat er als Einziger noch einen Balkon, eine Mama, die grandiose Kuchen und Weihnachtskekse backt, und eine hübsche, großgewachsene Blondine als Schwester, die hie und da bei ihm übernachtet und uns alle irr macht, wenn sie in Sommerklamotten mit ihren langen Beinen durch die Bude schwänzelt oder sich im Liegestuhl draußen im knappsten aller knappen Bikinis sonnt.

Wir sind Wolkenmenschen. Im Nebeldunst der Abgase. Im Lärm der übersteuerten Fernsehgeräte und Spielkonsolen. Im Treppenhaus stinkt es nach Fast Food, nach verschüttetem Bier, Pisse und Red Bull. Unsere Feinde wollen uns ausrotten, aber wir sind zäh. Inkas, Konquistadoren, Bullen, Kanaken, Bonzen, Nazis, Islamisten, Immobilienhaie, Rocker – uns kriegt keiner so schnell klein.

Euer Hass ist unser Stolz.

Es ist schon weit nach Mitternacht, ich stehe am Fenster und schaue hinaus, trinke Wodka. Ich trage die dunkelblaue Pyjamahose, die Nteba mir zum Geburtstag geschenkt hat. Eigentlich ist es zu warm dafür, aber all meine Shorts sind in der Wäsche und nackt schlafe ich nicht mehr, seitdem die Bullen mich mal mitten in der Nacht aus dem Bett geholt haben. Draußen hockt Doogie in seiner Karre und raucht, liest in seinem Navy-Seal-Survival-Buch und lernt, wie man mit Bären und Wölfen kämpft, einen Angreifer im Nahkampf tötet oder einen Selbstmordattentäter überrumpelt. Er hat geschworen, mich so lange zu verfolgen, bis ich Ja sage. Aber dieses Mal kriegt er mich nicht. Dieses Mal bleibe ich hart.

Ich stelle den Wodka leise in das Waschbecken, nehme das Fernglas von der Kommode und versuche, irgendwas in Doogies Gesicht zu lesen. Dass er nicht ganz dicht ist, wissen wir alle, aber mich Tag und Nacht zu verfolgen, um ein Ja zu erpressen, ist etwas, das selbst für einen wie ihn ungewöhnlich ist.

Da höre ich Nteba seufzen und drehe mich um. Sie hebt ihren Oberkörper, blickt zu mir, ein bisschen verwirrt, ein bisschen ungläubig. „Puh, ist das heiß“, sagt sie verschlafen. Ich lächle und wende mich wieder dem Fenster zu. Als ich denke, dass sie sich wieder hingelegt hat, steht sie plötzlich hinter mir. Sie umarmt mich, legt ihren Kopf an meine Schulter. „Ist dir nicht gut?“, fragt sie. Auf meinem Rücken spüre ich ihre nackten Brüste, ihren nackten Bauch. Nteba ist nur einen Zentimeter kleiner als ich, überdurchschnittlich groß für eine Frau. Mit einem Lächeln muss ich daran denken, dass sie genau hier am Fenster in einer innigen Umarmung einmal gemeint hat, ich sei ein guter Liebhaber.

„Kann nicht schlafen“, sage ich. „Der Vollmond …“

„Vollmond war vor drei Tagen.“

„Es ist zu hell zum Schlafen.“

„Lass die Jalousien runter!“

„Ich kann das Licht spüren. Ich muss es gar nicht sehen.“

„Ist der Psychopath etwa immer noch da draußen?“

„Geh zurück ins Bett.“

Nteba greift nach dem Fernglas, schaut hinaus, nimmt das Auto ins Visier. Ihre Brustwarzen sind hart. „Das ist nicht zu fassen!“, sagt sie. „Bleibt der wieder die ganze Nacht?“ Sie schüttelt den Kopf und lacht.

Ich nehme Nteba bei der Hand, führe sie vom Fenster weg, küsse sie auf die Stirn. Unsere letzte Nacht. So sehr wir auch das Gegenteil beschwören, wenn wir realistisch bleiben, sehen wir uns danach wohl niemals wieder. Beim Gedanken daran verspüre ich eine leichte Übelkeit, aber erst wenn sie am Ostbahnhof, unserem vereinbarten Abschiedsort, in die S-Bahn zum Flughafen steigt, wird mir wirklich bewusst werden, dass sie mich verlässt.

Wir setzen uns auf die Matratze, Nteba zündet sich eine Zigarette an. Das macht sie sonst nur, wenn sie betrunken ist. Ich mochte nie, dass sie raucht, aber sie sieht so verdammt sexy aus, wenn sie es tut. Sie betrachtet kurz ihre Brüste, zieht ihre Mundwinkel nach unten, als würde sie sie begutachten, dann sieht sie mich an. „Du solltest in die Türkei“, sagt sie und nimmt einen tiefen Zug. „Für ein paar Monate. Würde dir guttun.“

„Was soll ich dort ohne dich, Nteba?“, frage ich. „Außerdem muss ich mich um Baba kümmern.“

„Nimm ihn mit! Du hast doch bestimmt noch ein paar Freunde oder Verwandte dort, nicht? Fliegt in die Türkei, macht ein bisschen Urlaub.“ Nteba zieht ihre Beine an, umfasst sie, legt ihren Kopf auf ihre Knie und sieht mich an. Ihr Mund verrät oft nicht, ob sie nun lächelt oder traurig ist.

„Ich bin auf Bewährung“, sage ich.

„Na und?“

„Ich glaube, ich darf das Land gar nicht verlassen.“

„Wir waren zusammen in Österreich.“

„Da hat uns ja keiner kontrolliert.“

„Hm“, sagt sie, „dann erkundige dich mal.“

„Warum soll ich in die Türkei?“, frage ich. „Dann könnte ich doch gleich zu dir nach Kuba.“

Nteba lehnt ihren Kopf gegen die Wand, schließt die Augen. „Dort, wo ich lebe, kannst du nicht leben.“

„Und woher willst du das wissen?“

„Weil ich dich kenne.“ Sie lächelt. „Du brauchst doch deinen Fußball und deine Jungs. Wir haben in unserem Stadtteil kein Internet, kannst du dir das vorstellen?“

„Mit dir kann ich mir alles vorstellen.“

„Außerdem ist dein Hintern zu weiß. Du würdest in dem Viertel auffallen wie ein bunter Hund.“

Ich habe Gewichte in Doogies Bude gestemmt, gegen Schatten geboxt, mich beim Fußballtraining gequält, wenn ich es mal dorthin geschafft habe, Extrarunden gedreht, Zusatzsprints gemacht, bin keinem Zweikampf aus dem Weg gegangen – alles, um die Angst vor der Nacht zu verdrängen, die nun gekommen ist.

Die letzte, die kürzeste Nacht.

Die Zeit tickt unbarmherzig die letzten Minuten runter. Da ist er nun, der Abschied. So sehr ich mich gegen ihn gewehrt habe. Jetzt ist er da und unausweichlich.

„Was tut dein Kumpel da draußen?“

„Er will mich überzeugen“, antworte ich.

„Von was? Dass er in eine geschlossene Anstalt gehört?“

„Von nem Job.“

„Nem Job?“, sagt sie. „Ist der Mann Headhunter?“

„Doogie ist bei so ner Firma, die Arbeitskräfte vermittelt. Für jeden neuen Auftrag stellt er nen Trupp zusammen. Hat er nicht genug Männer, guckt er in die Röhre.“

„Und du bist der einzige Mann in der Stadt, den er anheuern kann?“

„Nein“, sage ich, „aber der Dicke steht auf mich. Ich hab nicht nur nen weißen, ich hab auch nen sexy Hintern, das weißt du doch am besten.“

Nteba greift nach meiner rechten Hand, drückt sie. „Was ist das für eine Firma? Das ist doch nichts Illegales, oder?“ Ich nehme Ntebas Zigarette und betrachte die Glut in der Dunkelheit. Ihre Naivität, wenn es um die Jungs geht, hat manchmal etwas Rührendes. „Sag schon!“, lässt sie nicht locker. „Dieser Doogie handelt doch nicht mit Drogen oder überfällt Banken, oder?“ Ntebas Lippen sind bläulich, sie hat auch eine Gänsehaut, dabei ist ihr nicht kalt, sie schwitzt sogar ein wenig, überall wird vom wärmsten Juni aller Zeiten gesprochen.

„Ist dir nicht gut?“

„Warum?“, fragt sie und zieht an der Zigarette.

„Deine Lippen … Als ob du frieren würdest.“

„Frieren? Es ist viel zu heiß hier. Jetzt lenk nicht ab. Was ist mit der Firma?“

„Ach, Doogie ist okay“, sage ich. „Er war mal n fetter Naziskin mit Rudolf-Heß-Tattoo, aber die Nazischeiße hat er hinter sich.“

„Er sieht immer noch aus wie ein Naziskin. Und ich wette, das Rudolf-Heß-Tattoo hat er sich nicht weglasern lassen.“

„Er ist noch Skinhead, aber kein Nazi mehr. Wär er Nazi, würde ich doch nicht mit ihm abhängen.“

„Doogie ist verrückt“, meint Nteba. „Nazi hin oder her, der Glatzkopf hat sie nicht alle. Der ist mir nicht geheuer, Chachapoya.“

„Ja, er ist n bisschen durchgeknallt. Er kann auch hie und da n Arschloch sein, aber abgesehen davon …“

„… hat er ein gutes Herz?“

„Nein“, sage ich. „Aber es ist immer was los mit ihm! S’ist immer Party mit ihm. Der zieht uns mit, verstehst du? Doogie ist ne Naturgewalt. Mein Leben ohne ihn …“

Ich rede nicht weiter. Was labere ich da? Ein Leben ohne Nteba, das ist es, was ansteht. Ich habe mich so an sie gewöhnt. Dass ich spätnachts, wenn das Schlafpulver Baba in den Schlaf gezwungen hat, noch zu ihr gehe. Dass wir gemeinsam trinken, lachen, kochen, mitten in der Nacht durch die Stadt ziehen, die Isar entlangspazieren, Filme und Serien schauen, zehn Episoden am Stück, bis in den frühen Morgen hinein, dabei trinken und Pizza essen, in ihren Lieblingsbuchladen gehen, einen Secondhandshop, in dem sie leuchtende Augen kriegt, wenn sie mal wieder einen alten Schinken ausgräbt … In ihrem Buchregal habe ich sieben Ausgaben der Göttlichen Komödie gezählt, sechsmal ­Goethes Faust und fünfmal Die Blumen des Bösen. Bei mir stehen nur der Koran und ein Stapel verstaubter Ausgaben von 11 ­Freunde, Zeitspiel und dem Kicker irgendwo in einer Ecke.

Ich stecke die Zigarette in Ntebas Mund, wir legen uns auf die Matratze. Draußen rast ein Rettungswagen im Einsatz vorbei, sein Blaulicht erhellt das Zimmer für ein paar Augenblicke.

Nteba wohnt etwa hundertfünfzig Meter von mir entfernt, im ersten Stock, Türnummer 111, eine Wohnung, die sie sich mit einer Pharmaziestudentin aus Rumänien teilt, die kiloweise Medikamente in Plastiktüten aus ihrer Heimat hierhergebracht hat.

„Darf ein Moslem eine Christin lieben?“, fragt Nteba. Ich gucke sie nur groß an. „Na, du bist doch gläubig, oder? Da frage ich mich, ob das eine Sünde ist, was du machst.“ Ich küsse sie auf die linke Brust. Sie boxt mich. „Hör auf!“, protestiert sie. „Ich möchte eine Antwort!“

„Warum hast du mich das die vergangenen Monate nie gefragt?“

Sie zuckt mit den Schultern.

„Weißt du, was Baba sagt?“ Ich küsse auch ihre rechte Brust. „Wenn es dir nicht schadet, und wenn es mir nicht schadet, und wenn es auch keinem Dritten schadet, kann es keine Sünde sein.“

„Das klingt schön“, sagt Nteba mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen, „aber dein Baba ist nicht Gott.“

„Glaub mir, wenn Gott persönlich mir befehlen würde, mich von dir fernzuhalten, würd ich mich auf die Seite des Teufels schlagen.“

„Gibt es denn einen Teufel im Islam?“

„Nicht nur einen.“ Ich will weiterküssen, etwas tiefer, aber sie wehrt mich ab. „Ich glaube, sie können sich sogar vermehren.“ Ich packe Nteba an den Beinen, ziehe sie vor, sie liegt nun flach auf dem Bett, ich küsse sie zwischen den Beinen, ohne ihr den Slip auszuziehen.

Sie fährt mir sanft durch die Haare. „Ich frage mich, ob du wirklich weniger verrückt bist als dein Kumpel da draußen.“

„Ich bin müde.“

„Dann lass uns schlafen!“

„Nicht so müde“, sage ich. „Ich hab’s satt, mir den Kopf zu zerbrechen, wie wir zusammen sein können.“

„Aber Chachapoya, das haben wir doch alles schon tausendmal besprochen, quälen wir uns nicht auch noch heute Nacht. Es macht mich zu traurig.“

Meine Zunge auf dem Baumwollstoff, tief atme ich ein, ich liebe den Duft ihrer Muschi. Sie richtet sich auf, beugt sich vornüber und küsst mich auf die Stirn. Und so lieben wir uns noch einmal in dieser Juninacht, ein letztes Mal.

Ntebas Aufenthaltsgenehmigung ist abgelaufen und sie muss zurück in ihre Heimat. In knapp fünf Stunden werde ich sie ein letztes Mal umarmen und küssen, meine Treue schwören und darauf warten, dass sie weint, aber Nteba weint nie. Selbst wenn wir uns noch so heftig gestritten haben oder wenn ich ihr wieder mal gesagt habe, dass es nun aus wäre, dieses Mal endgültig und für immer, sind ihr nie die Tränen gekommen. Wahrscheinlicher ist, dass ich weine, aber ich werde an Doogie denken. Doogie in seinen langen, roten Winter-Joggingunterhosen, das wird mich zum Lachen bringen. Ein Mann darf nur weinen, wenn sein Fußballverein absteigt oder ein treuer Kamerad im Krieg gefallen ist, aber niemals wegen einer Braut, sagt Sugo-Joe immer. Das sei Gesetz. Ich gebe meistens einen Fick drauf, was Sugo-Joe sagt, und ich breche auch gern jedes Gesetz, aber dieses eine breche ich nicht. Das Heulen überlass ich anderen.

Dass Nteba und ich uns trennen müssen … Dieser Gedanke hat mich zerrissen, wochenlang, ja, monatelang. Ich habe Lösungen gesucht, verzweifelt, wütend, aber ich konnte keine finden, beinahe hätte mich das aufgefressen. Ich habe keinen Job, kein offizielles Einkommen, Heiraten hätte also nichts genutzt. Was haben wir uns um den Verstand gesoffen, uns mit dem besten Gras und den besten Pillen in ferne Welten gebeamt, was habe ich trainiert wie ein Irrer, mit nackten Fäusten Sandsäcke traktiert, die Knöchel blutig geschlagen, gepumpt, bis der Schmerz in die Muskeln gefahren ist. Diese Achterbahnfahrt, mal Himmel, mal ­Hölle, sie laugt dich aus, sie schmeißt dich aus der Umlaufbahn, du schwebst in der Unendlichkeit, verlierst jeden Bezug zu diesem Planeten.

In ein paar Stunden verlässt Nteba meine Stadt und ich weiß nicht, ob sie jemals zurückkommt. Sie versuchen, uns auseinanderzureißen, aber es wird ihnen nicht gelingen. Sie haben ihre Gesetze und befolgen sie stur, aber wer hat das Recht, mir das Mädchen zu nehmen, das ich liebe? Wer hat die verfluchten Grenzen gezogen, wer sagt, von hier bis hier ist Deutschland und von da bis dort Frankreich, wenn es vor zweihundert Jahren ganz anders war und in zweihundert Jahren vielleicht wieder ganz anders sein wird? Baba hat ein Leben lang für diesen Staat geackert, hat ein Leben lang Steuern bezahlt, und als Belohnung ist er schwerkrank geworden, weil die Firma die Sicherheitsbestimmungen missachtet hat. Menschen sind monatelang unregistriert ins Land gekommen, ohne Prüfung, ob sie in ihrer Heimat nicht ein paar Leuten die Kehlen aufgeschnitten oder für das Regime des Diktators gefoltert haben, aber ich, der ich hier schon so lange lebe, darf nicht mit meinem Mädchen zusammen sein? Die Grenzen verändern sich überall, die Krim ist russisch, das alte Syrien und den alten Irak gibt es nicht mehr, die Kurden, die Katalanen wollen einen eigenen Staat, also, sagt mir, wer bestimmt, wer wo leben darf? Das Leben ist kurz und ich finde bestimmt nicht leicht einen Menschen, den ich wieder so lieben kann wie Nteba. Vielleicht nie wieder. Warum nehmen sie mir mein Mädchen? Nteba und ich würden doch viele Babys machen. Und diese Babys, die würden es zu was bringen, nicht so wie die Jungs und ich. Das würden Piloten und Spieleentwickler und mindestens einer von ihnen würde Profisportler. Die haben kubanische Gene, die rennen doppelt so schnell wie wir, springen doppelt so hoch. Nteba hat Beine bis zum Mond, dazu mein türkischer Dickschädel und Kampfeswille, meine hier antrainierte deutsche Kondition – wer oder was soll die aufhalten? Ich mache schon mal Platz für die ganzen Pokale und Medaillen.

„An was denkst du?“, fragt Nteba.

„Hm?“

„Du hast so traurig geschaut und dann gelächelt für einen Augenblick.“

„Hab an was Schönes gedacht.“

„Aha“, sagt sie. „An Doogie?“

„Kann mir nicht mehr vorstellen, ohne dich zu sein.“

„Vor drei Wochen hast du noch gesagt, du wünschest, du hättest mich nie kennengelernt.“

„Ich werde dich vermissen“, sage ich. „Kannst dir gar nicht vorstellen wie sehr.“

„Hm“, flüstert sie. „Was denkst du denn? Ich dich auch. Du wirst mir fehlen, Chachapoya.“

Sie küsst mich und legt ihren Kopf dann wieder auf das Kopfkissen und schließt die Augen. Ich bleibe sitzen und starre zum Fenster. Ich glaube, es wird schon langsam hell. Ich bezweifle, dass ich jetzt noch schlafen kann.

2

Schmeiß’ den Gasherd an,

trotzdem ist mir kalt.

(Schmeiß’ den Gasherd an, Haftbefehl)

Eine weitere Nacht, die es zu zerstören gilt, eine Nacht, die viel zu früh anfängt und niemals endet, weil das Ende niemand mehr bei klarem Verstand mitbekommt. Yiannis und ich sitzen auf einer Schaukel, trinken abwechselnd aus einer Wodkaflasche und grölen einen alten Stadiongassenhauer. Doogie – mit Glatze, in Combat Bermudas, Springerstiefeln und einem verdreckten Trikot von 1860 München aus einer längst vergangenen Erstligasaison – schläft auf einer Rutsche, während Sugo-Joe mit den Händen in seinen Hosentaschen abseitssteht und wie blöd grinst.

Ein Fenster im Block geht auf, sechster oder siebter Stock, ein Mann schreit heraus: „IHR VERDAMMTEN ARSCHLÖCHER, VERPISST EUCH! VERPISST EUCH ODER ICH KNALL EUCH AB, IHR DRECKIGEN JUDEN!“ Ich lache. Ich lache immer, wenn mich wer Kanake, Scheißtürke oder auch nur Ausländer nennt. Ausländer mit einem Nasenrümpfen oder diesem gewissen Unterton, dabei habe ich doch meinen deutschen Pass schon länger, als das Tausendjährige Reich überhaupt gedauert hat. Der Psycho setzt noch einen drauf: „DAS IST FÜR EUCH, ­NEGER!“ Eine Flasche zersplittert nur wenige Meter von uns entfernt.

„Jetzt ist’s aber genug“, sagt Yiannis. „JETZT KOMMT DER PAPA!“

Unser Grieche schnappt sich einen der losen Pflastersteine, die zuhauf um den Sandkasten liegen, und will den Block stürmen, aber er stolpert schon nach ein paar Metern und schafft es nur mit Mühe, überhaupt wieder auf die Beine zu kommen. Der Kerl am Fenster ist verschwunden. Kurz darauf ertönt Musik – die Melodie von Paulchen Panther, bei voller Lautstärke. Die Melodie, die die Killer der NSU für ihr Bekennervideo benutzt haben. Ich nehme Yiannis’ Pflasterstein und marschiere nun selbst Richtung Eingang. Da kommt der Typ oben zurück ans Fenster und schmeißt die nächste Flasche runter, der Einschlag ist so nahe, dass meine Schuhe ein paar Splitter abkriegen.

„Fuck“, sage ich und trete den Rückzug an. Ich habe keine Lust, mir die schöne Frisur von so einem Asozialen versauen zu lassen. Den Pflasterstein schleudere ich in Richtung Parkplatz und hoffe, dass ich die Karre des Nazis erwische, aber es klingt eher nach einem alten Damenfahrrad einer Soziologiestudentin.

Doogie sitzt immer noch auf der Rutsche, als wäre er in ein Koma gefallen. Hockt da zusammengesackt, sein dicker Hintern eingeklemmt, Kopf vornüber, weißer Speichel sammelt sich in seinen Mundwinkeln. Yiannis steht vor dem Block wie ein Krieger, breitbeinig, reißt sich das T-Shirt vom Leib, entblößt seinen wild behaarten Oberkörper, breitet seine Arme aus und wedelt mit dem Shirt, als wolle er ein Flugzeug herbeiwinken. „DEUTSCHLAND, ICH FICK DICH, DU HÄSSLICHE, FETTE HURE!“ Der Mann schließt das Fenster, lautstark fluchend.

„Lieber ne Hure, die reich ist, als n sterbender Mann, der pleite ist“, ruft Sugo-Joe Yiannis zu.

„Was soll das heißen?“, fragt Yiannis und spuckt aus. „Griechenland ist n kranker Mann?“

„N sterbender Mann.“

Yiannis nähert sich Sugo-Joe, leise, langsam, umkreist ihn wie ein Panther seine Beute. „Wenn Griechenland n sterbender Mann ist, weißt du dann, was deine Mutter ist, Sugo-Joe?“

„Oh oh oh!“, sagt Sugo. „Jetzt eskaliert’s! Jetzt eskaliert’s aber!“

Ich stehe auf, stelle mich zwischen die beiden und schubse die Streithähne auseinander. „Ruhig Blut, Mädels. Beleidigen wir unsere Vaterländer, nicht unsere Mütter.“

„Der Chemiker hat n großes Maul“, sagt Yiannis und schlägt seine rechte Faust in die offene Handfläche seiner Linken. „N verdammt großes Maul!“

„Du nennst Deutschland ne fette Hure. Und ich sage: Griechenland ist abgebrannt.“

„Griechenland ist die Mutter der gesamten europä­ischen Zivilisation! Deutschland ist die Mutter aller …“

Peace, Leute, peace!“, versuche ich die beiden zu beruhigen. „Das wollen die doch nur, dass wir uns zerfleischen.“

In dem Moment furzt Doogie und kommt die Rutsche runter, eine Plastikflasche Diesel zwischen den Beinen, kein Körperteil bewegt sich, nichts deutet darauf hin, dass er aufgewacht sein könnte.

„Was ist mit unsrem Skinhead los?“, fragt Yiannis. „Der ist heut gar nicht gut drauf.“

„Hat wohl Geld verloren“, sage ich.

„Hat Doogie schon einmal Geld gewonnen?“

„Nicht legal.“

„Der hat doch nicht etwa unser Geld verspielt?“

„Er sagt, er zahlt es zurück.“

Yiannis verscharrt mit seinem rechten Schuh eine blutverschmierte Spritze. „Er zahlt’s zurück? Eher holt sich meine Oma nen Tripper beim Untergiesinger Sonntagskränzchen.“

Doogie nähert sich schwankend der Schaukel, wie ein Untoter, seine Augen winzige Schlitze, die Lider geschwollen, sein Kopf hängt vornüber, als würde er jeden Moment vom Rumpf brechen. Plötzlich dreht er sich um, ein Stromschlag scheint ihn wiederzubeleben, denn all seine Glieder zucken, er brüllt hoch zum Fenster mit einer Stimme, die sonst den Fanblock im Sechzger-Stadion anführt: „EY, PAULCHEN PANTHER! HINTER MIR STEHT DER ANATOLISCHE PANTHER UND DER FICKT DICH ZUR GUTEN NACHT!“

Er dreht sich um, stellt sich vor uns, kratzt sich im Schritt. Leise, beinahe sanft sagt er: „Und? Plündern wir morgen den LKW mit den Fernsehern?“

„Ja“, sagen Yiannis und Sugo-Joe einstimmig.

„Nein“, sage ich. Doogie fixiert mich, spuckt vor mir auf den Boden. „Ey, ich hab kein Problem, ne große Firma zu beklauen, aber in dem Fall ist’s einer der wenigen kleinen Läden in der Gegend.“

Doogie atmet schwer. „Ausgerechnet du kommst mir mit schlechtem Gewissen! Ausgerechnet du …“

„Und? Was ist mit mir?“

„Du bestiehlst alte Frauen! Du verkaufst Drogen an Kinder!“

„Studenten sind keine Kinder. Und die alten Frauen sind reich. Ich bin Robin Hood. Klau von den Bonzen, geb es den Armen.“ Die Jungs lachen. „Oh ja, ich geb es mir, denn ich bin arm! Wir sind arm! Jeder Arsch in der Stadt hat mehr Geld, als wir haben.“ Ich zucke mit den Schultern. „Ich mach dieses Mal nicht mit. Das ist mein letztes Wort.“

„Ist ne todsichere Sache“, meint Doogie und wirft mir ein zerbeultes Dosenbier zu. „Und gerade du hast die Kohle nötig, Tarik. Die Kohle und das Adrenalin, jetzt, wo deine Braut weg ist … Haben wir doch alle nötig! Wir sind ein Team! Warum sprengst du die Truppe? Ist das deine Vorstellung von Kameradschaft?“

Ich glotze auf Doogies Shorts, die ganz nass sind vom verschütteten Diesel. Es sieht so aus, als hätte er sich in die Hosen gemacht. „Ich kann nicht bei nem Raub mitmachen, wenn der Anführer inkontinent ist“, erkläre ich den Jungs. „Zu viele DNA-Spuren.“

„Im Gegensatz zu dir haben mich die Bullen noch nie erwischt“, kontert Doogie.

Scheinwerfer erleuchten Teile der Hauswand. Sie gehören einem Polizeiauto, das den Gehweg abfährt, der am Kinderspielplatz vorbeiführt. Wir wissen, dass die Bullen uns vertreiben werden, deshalb gehen wir freiwillig. Doogie schreit ein letztes Mal das graue Monster von Bauwerk hoch. „WIR KOMMEN WIEDER, PAULCHEN! DER ANATOLISCHE PANTHER VERGISST NICHT! MAN SIEHT SICH IMMER ZWEIMAL IM LEBEN!“

Yiannis klopft mit der flachen Hand auf das Dach des Polizeiautos, als es langsam neben uns vorbeifährt und der Uniformierte am Steuer uns misstrauisch beäugt. „Warum sprichst du für Tarik?“, fragt er Doogie und zieht sich sein zerfetztes T-Shirt wieder an.

„Ich spreche immer für uns alle“, sagt Doogie. „Ich bin der Boss.“

„Wer hat an der Uhr gedreht, ist es wirklich schon so spät?“, fange ich zu singen an, und Sugo-Joe und Doogie stimmen mit ein.

Und wie wir so in Richtung U-Bahn-Station torkeln und die Jungs sich darauf einigen, ohne mich den Laster leer zu räumen, kriecht eine Angst in mir hoch: Ich könnte so enden wie Sugo-Joe. Ich könnte mit Anfang vierzig immer noch mit kaputten Kleinkriminellen wie uns abhängen, Gras verticken, hie und da einen Bruch machen, reichen Arschlochkids oder Münchner Yuppiebankern die iPhones abziehen und besoffen in der Nacht auf Kinderspielplätzen abhängen. Ich könnte Anfang vierzig immer noch zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben haben, mich selbst belügen und von etwas träumen, das niemals kommt. Die Vorstellung ist so gruselig, dass ich am liebsten losrennen würde und nicht stehen bleiben, bis ich mein altes Leben hinter mir gelassen habe. Ich denke an Nteba und fühle einen Schmerz in mir, wie ich ihn noch nie zuvor gefühlt habe. So eine bittersüße, alles verschlingende Sehnsucht.

Allāhu akbar, es muss sich was ändern. Ich muss irgendwas auf die Beine stellen, so kann es nicht weitergehen. Ich will mit dem Mädchen zusammenleben, das ich liebe, ich will einen Job, ich will eine bessere Wohnung, endlich wieder ein eigenes Bett und dass sich an manchen Tagen eine Pflegerin um Baba kümmert.

***

Es ist Montagnachmittag, es ist schwül, ich renne durch den Perlacher Forst, in dem unzählige Insekten schwirren, wie sie das immer tun, wenn sich ein Gewitter ankündigt. Mücken in meinen Augen, auf meiner Haut, in meinem Mund, ich steigere das Tempo und laufe, bis ich vor Erschöpfung an einer Lichtung beinahe zusammenbreche. Ich möchte meinen Gefühlen davonlaufen, diesem Schmerz, dieser Sehnsucht, die ich verspüre, seitdem Nteba weg ist. Vornübergebeugt bleibe ich stehen und kriege einen Hustenanfall. Als er vorüber ist, hole ich mein Handy aus der Hosentasche.

Fünf unbeantwortete Anrufe in dreißig Minuten. Fünfmal steht da der Name BULLENSCHWEIN.

Ich setze mich auf einen Baumstumpf, rufe Beer an. Ein Junge im Stimmbruch bellt mich beinahe taub. „Hey, hey!“, sage ich und halte das Handy ein wenig weg vom Ohr. „Muss Beer sprechen.“

„Beer kämpft!“, schreit der Pimpf.

„Beer stirbt, wenn du ihn mir nicht sofort holst.“

Gerhard Beer kennt jeder in Giesing, der war schon alt, als ich ein Kind war. Seine Kollegen, so hört man, lieben oder hassen ihn. Die, die ihn lieben, fürchten ihn, und selbst die, die ihn hassen, respektieren ihn.

Beer ist der Mann, der mich mit dem Gras im Rucksack in der U-Bahn-Station am Mangfallplatz erwischt hat.

Ich kann ihn vor mir sehen, im Boxring, ohne Helm, oberkörperfrei, nur in Shorts und Boxhandschuhen. Ich wette, er, der Großgewachsene, aber Schmächtige, hat grad einen zwanzig Kilo schwereren und dreißig Jahre jüngeren Kerl in voller Montur vor sich. Einen Kerl mit Helm, Tief- und Mundschutz, der sich immer wieder in die Deckung flüchtet, sich klein macht, sich wegduckt, aber trotzdem keine Chance hat, Grimassen schneidet vor Schmerz und schließlich auf die Knie geht.

Der Stimmbruch trampelt keuchend zum Ring. Ich glaube zu hören, wie Beer den Mundschutz ausspuckt. „JETZT NICHT, MAGERSSSÜCHTIGER!“, brüllt er. Ihm fehlen ein paar Zähne, deren Ersatz er im Ring rausnimmt, und ohne die Prothesen klingt es, als würde er lispeln.

„Er sagt, es sei wichtig“, sagt der Pimpf. „Er sagt, du würdest sterben, wenn …“

„Ich würde wasss?! Sssterben? Wer ruft mich an, meine Frau oder Gott?“

„Keine Frau.“

„Gib her, Magersssüchtiger, und wehe, esss isss nicht Gott!“

Im Hintergrund werden die Sandsäcke bearbeitet, die Ketten, mit denen sie an der Decke befestigt sind, klirren, die Urschreie der Männer haben etwas Affenartiges.

„Wo brennt’sss, Tarik?“, fragt Beer.

„Was willst du von mir?“

„Wasss?!“

„Du hast mich angerufen. Fünfmal!“

„Und du mich jetsss einmal“, sagt Beer, und ich kann hören, wie er seine Prothese einsetzt. „Also, was gibt’s?!“

Ich spucke auf den Boden. Beer spielt diese Spielchen, seit er vor Gericht miterleben hat müssen, wie ich mit Bewährung davongekommen bin. Gerade will ich den Anruf beenden, da fragt er: „Was planst du als Nächstes?“

„Muss dich enttäuschen. Ich bin raus.“

„Du bist raus“, sagt er und grunzt.

„Ich bin clean, ich schwör! Hörst du, wie ich atme, Beer? Ich bin beim Joggen. Ich piss dir nen Becher voll, der ist so sauber, den kannst du trinken.“

Ich höre ihn lachen. Wer hätte das gedacht? Ich kann den alten, grantigen Knochen zum Lachen bringen. „Tarik“, sagt Beer. „Lass uns treffen. Übermorgen Nachmittag um vier, Haupteingang Frauenkirche.“

„Ich will nicht mit dir beten.“

„Du sollst weder beten noch in einen Becher pinkeln. Nur mit mir reden.“

„Vergiss es.“

„Mittwoch, sechzehn Uhr, Frauenkirche.“

„Ey!“

„Ciao, Tarik.“

Ich stecke das Handy weg. Neben mir im Gras raschelt es, ich bücke mich und sehe eine große, dunkelgrüne Schlange, die es nicht besonders eilig zu haben scheint. Das ist ein Zeichen, denke ich mir. Das kann kein Zufall sein. Ich muss auf der Hut sein. Beer ist ein Teufel, der klaut dir die Seele schneller, als du vor ihm davonlaufen kannst.

Ich verlasse den Wald, jogge nicht mehr, gehe langsam, sehe die Bäume hoch und erinnere mich, wie ich mit Nteba hier gelaufen bin, in der letzten Woche vor ihrem Abschied, das einzige Mal in all den Monaten, als müssten wir noch verzweifelt alles tun, wovon wir immer gesprochen hatten. Sie hat locker mit mir Schritt gehalten, und das nicht nur wegen meines Katers. Ihre Beine, die sie für zu dick hält, sind perfekt trainiert, und ihre Kondition beeindruckend, und obwohl ich von ihren sportlichen Heldentaten schon gehört hatte, war ich immer etwas skeptisch, bis zu jenem Tag. Beim Dehnen am Waldrand habe ich sie gefragt, was aus uns wird, und sie hat, vielleicht genervt von der ewigen Diskussion, geantwortet: „Warum muss ich versuchen, nach Deutschland zu kommen? Warum können wir kein anderes Land finden, in dem wir leben können?“

Meine Antwort war ein Schweigen, denn sie liegt ja richtig mit dem, was sie in unserer letzten Nacht zu mir gesagt hat: München zu verlassen, Deutschland zu verlassen, das ist für mich undenkbar. Die Jungs, München, Giesing, d’Sechzger, das ist mein Leben.

***

Meine Trainingsklamotten sind verdreckt, meine schulterlangen Haare nass, an meinen Turnschuhen kleben Klumpen schwarzer, feuchter Frühlingserde. Ich schlendere über den Parkplatz Richtung Eingang des grauen Betonklotzes, mit einem Fußball unter meinem Arm – ein altes, zerfleddertes Ding, das aber immer noch gut genug ist, um im Englischen Garten mit den Jungs zu kicken. Auf dem Parkplatz spielt Fonso, einer der vielen Zigeunerjungen aus der Siedlung, mit einer Blechdose Fußball und winkt einem alten BMW nach, der mit quietschenden Reifen in die Straße biegt. Die Karre ist tiefergelegt, die Scheiben getönt, die Boxen, aus denen der Hip-Hop-Bass dröhnt, könnten das Olympiastadion beschallen. Als der Kleine mich sieht, schießt er die Dose zu mir, unterdrückt ein Lächeln. Er schielt, seine Klamotten sind schäbig.

„Wer bist du heute?“, frage ich.

„Puskás.“

„Du bist immer Puskás.“

„Ferenc Puskás war der Beste“, sagt Fonso.

„Hast ihn doch nie spielen gesehen.“

„Opa sagt, er war der Beste!“

„Na, wenn’s dein Opa sagt, wird’s schon stimmen … Gab ne Zeit in Deutschland, da hat man besser nicht drauf gehört, wen Opa für den Besten hält.“

„Wir haben n Bild mit Autogramm von ihm an der Wand in der Küche. Er war der Beste.“

„Ich hab immer gedacht, ihr seid Rumänen, keine Ungarn.“

„Wir sind Deutsche!“ Der Kleine wischt sich den Rotz von der Nase. „Was denkst denn du?“

„Der Typ in dem BMW, war das deine Mutter oder dein Zuhälter?“

„Mein Cousin“, sagt Fonso, nicht ohne Stolz.

„Wohnt der auch in unsrem Block?“

„Nö, der ist immer am Cruisen. Von einer Bitch zur nächsten.

„N richtiger Straßengangster, hm?“

Die Rotznase glotzt auf den Ball, nickt. „Von dem kriegst du alles“, meint er. „Wenn du Geld hast, beschafft er dir Waffen, Drogen, Frauen …“

„Du kaufst doch hoffentlich nichts von ihm?“

„Nö. Ich krieg alles geschenkt.“

„Du kriegst Frauen geschenkt?“

„Schokolade“, antwortet der Junge. „Ibo schenkt mir Schokolade.“

„Oh Mann, das ist jetzt nicht dein Ernst. Dein Cousin ist Ibo? Der Ibo?! Der schwarze Teufel?“

Der Kleine grinst. „Ich sage doch, wenn du Waffen brauchst … Der schwarze Teufel besorgt sie dir.“

„Na, da hast du ja nen feinen Cousin“, sage ich und werfe den Ball hoch in die Luft. „Los geht’s, kleiner Ferenc! Enttäusch dein’ Opa nicht!“

Fonso zieht aufgeregt seine Schuhe aus, markiert damit ein Tor, ich mache dasselbe, wir spielen auf dem immer noch warmen Asphalt. Der Junge ist ein leidenschaftlicher Kicker, aber ohne Talent, es fällt mir sogar schwer, ihn gewinnen zu lassen, ständig schießt er am leeren Tor vorbei. Nach einer halben Stunde ist er glücklich, strahlt über das ganze Gesicht. Ich fahre ihm durch das Haar, das lange kein Wasser und Shampoo mehr gesehen hat. „Muss jetzt was essen, Kleiner.“

„Hast du auch was für mich?“, fragt er.

„Kriegst du nichts zu Hause?“

Der Junge zuckt mit den Achseln. „Schon gut.“

„Ich hab nicht viel eingekauft“, sage ich, „aber n paar Spaghetti könnte ich dir anbieten.“

„Schon gut, sag ich doch.“

Der Kleine läuft davon, ich rufe ihm hinterher. Er dreht sich um, schüchtern nähert er sich mir wieder. Ich greife in meine Trainingshose, ziehe eine Schachtel Zigaretten und einen Zehner heraus. Ich gebe ihm den Schein.

„Krieg ich die Zigaretten auch?“, fragt er.

„Kriegst den Ball.“

„Den Ball? Nicht wahr!“

Ich werfe ihm das Ding zu, er fängt es ungeschickt, hält es mit beiden Armen an der Brust. „Zerdepper aber bloß kein Fenster damit, hörst du? Der alte Andlinger, der schießt dich sonst tot mit seiner Jägerflinte.“ Er grinst und läuft mit dem Ball zu einem geöffneten Fenster im Erdgeschoss. Zwei Autoreifen liegen getürmt davor, der Junge nutzt sie, um in die Wohnung zu steigen, Ball, Kopf und Rumpf voraus, die Beine für einen Augenblick zappelnd in der Höhe. Sein Großvater erscheint am Fenster, ein Berg von einem Mann, über 1,90, schätze ich, großer Kopf, großer Bauch, wallende weiße Haare, steht da leicht gebückt. Er winkt mir zu, seine Miene bleibt ernst.

Baba öffnet die Tür, als ich mir die Schuhe ausziehe. Sein Anblick lässt mich jeden Tag aufs Neue erschrecken. Er ist so blass und abgemagert, hat tiefe Schatten unter den Augen. Auf den ersten Blick erkennt er mich nicht einmal, schaut mich bloß fragend an. „Hey Baba“, begrüße ich ihn und will ihm auf die Schulter klopfen, aber aus irgendeinem Grund ist es mir peinlich, ihn zu berühren.

„Auweia“, sagt er. „Hast du nen Schuhlöffel?“

„Nen Schuhlöffel?“, frage ich und schaue auf seine nackten Füße.

„Auweia … Was für nen Schlamassel!“

„Was ist los, Baba?“

„Ich brauch nen Schuhlöffel für die Kloschüssel …“

Ich gehe an ihm vorbei in die Wohnung, es ist finster drinnen. „Du musst lüften, Baba. Wie oft hab ich dir gesagt, du musst untertags lüften!“

„Das Klo ist kaputt!“, sagt er. „Da geht nichts mehr!“

„Krieg ich schon hin, hab ich noch jedes Mal, oder?“

Baba steht hilflos in der Tür. „Ich hab gedacht, du kommst heut gar nicht mehr.“

„Ist grad eben dunkel geworden“, sage ich und klatsche in die Hände, als Baba sich wieder ins Bett legt. „Lüften, Baba! Lüften!“

„Ist zu heiß den ganzen Tag, unerträglich heiß. Mach ich das Fenster auf, drückt’s noch mehr rein. All die Abgase …“

„Es wird noch viel heißer im Juli und August.“ Ich reiße das Fenster auf.

„Wer weiß, ob ich da überhaupt noch lebe.“

„Hör auf, das zu sagen.“

„Wenn’s doch wahr ist“, sagt der Alte.

Der Alte ist mein Großvater, aber ich nenne ihn Baba, weil keine andere Bezeichnung zutreffender wäre. Baba hat mich nach Deutschland geholt, während meine Eltern in einem Kaff in der Türkei zurückgeblieben sind, unfähig, sich ein weiteres Kind aufzubürden.

Ich bleibe am Fenster stehen, bis der Geruch nach Furz und Schweiß und krankem, altem Mann ein bisschen verflogen ist. Ich knie mich auf den Boden, taste unter der Kommode mit meiner rechten Hand nach dem Plastiksäckchen mit Gras, dann setze ich mich auf den alten Sessel, den Baba in den Siebzigern in einem VW-Bus aus der Türkei nach Deutschland gebracht hat. Der Alte hat sich einen Fußballschal um seinen Hals gelegt. „Was ist n das?“, frage ich, während ich Tabakpapier aus meiner Hosentasche hole.

„Na, nach was sieht’s denn aus?“, sagt er. „N Fener-Schal ist das, mein Sohn!“

„Das seh ich, aber den kenn ich ja gar nicht.“

„Schau erst mal, was an der Wand hängt!“

Er macht Licht, aber ich baue mir erst in Seelenruhe eine Tüte. Als ich mich umdrehe und sehe, was der Alte mir zeigen will, fällt mir der Joint wieder aus dem Mund. „Leck mich“, sage ich. „Das darf doch nicht wahr sein …“

Baba lächelt. Ich habe den seit Monaten nie mehr so glücklich gesehen. Ein riesiger Flachbildfernseher hängt an der Wand.

„Jetzt sag mir bitte, deine Firma hat dir doch noch ne Entschädigung bezahlt.“

„Nein, nein. Wo denkst du hin? Deine Jungs haben mir den geschenkt! Und den Schal dazu!“

Ich nicke mit offenem Mund. „Ach, du Scheiße …“

„Ich hab sie erst gar nicht erkannt“, erzählt der Alte. „Standen vor der Tür. Bisschen betrunken, glaube ich, vielleicht auch … Naja, du weißt schon … Bisschen zu gut drauf waren sie. Aber ich will nicht schlecht über sie reden nach so einem Geschenk.“

„Mensch, Baba, das Teil ist geklaut!“

Geklaut?!“, sagt er und spuckt in den Napf auf dem Nachtkästchen. „Nein, nein, das glaube ich nicht.“

„Natürlich ist der geklaut! Glaubst du, Doogie, dieser Geizhals würde für irgendwen Geld ausgeben? Der hat regelmäßig ne Magen-Darm-Grippe, wenn seine Mutter Geburtstag hat. Nur damit er ihr nichts kaufen muss!“

„Vielleicht ernährt er sich nur ungesund, n bisschen Übergewicht hat er doch, darum ist ja auch das Klo verstopft. Dein Doogie hat da reingeballert.“

„Weißt du, was das Scheißding da kostet?!“, frage ich ihn. „Dafür blechst du zwanzig-, dreißigtausend Euro!“

„Das hätte ich deinen Freunden nicht zugetraut, dass sie so großzügig sind.“

„Großzügig? Die haben den Fernseher hier geparkt, den holen sie wieder ab! Meine Jungs, die klauen schlimmer als die Zigeuner!“

Ich hebe die Tüte auf, puste den Staub weg, stecke sie in den Mund und zünde sie an.

„Och, das sind auch keine schlechten Menschen, die Rumänen“, meint der Alte. „Haben’s auch nicht leicht.“

„Ich hab nix gegen Zigeuner. Ich spiel doch mit dem Kleinen immer Fußball. Aber weißt du, was ich eben erfahren habe? Der Cousin von dem Buben ist Ibo, und Ibo, ich sag dir …“

„Ibo?“, sagt Baba. „Ist das nicht so ein Schlagersänger?“

„Das ist n Gangster.“

„Ein Gangster? Deshalb hat man von dem so lange nichts mehr gehört. Hat doch schöne Musik gemacht, dieser Ibo, warum muss man da auf die schiefe Bahn geraten? Hat der nicht Ibiza gesungen?“ Ich gebe keine Antwort, widme mich meinem Joint. „Ich glaube, sie sind Taugenichtse. Aber sie haben ein gutes Herz, deine Freunde.“

„Ich bin auf Bewährung“, sage ich. „Wenn jemand den Fernseher hier findet, geh ich in den Knast.“

Der Alte greift nach der Fernbedienung und zappt durch die Programme. Es tut mir weh, den uralten Schwarz-Weiß-Fernseher ramponiert in der Ecke stehen zu sehen, der Bildschirm demoliert, wahrscheinlich, weil die Jungs unvorsichtig bei der Demontage gewesen sind. Aber ich verspüre keinen Ärger, als Baba mit dem Fener-Schal um den Hals seine Kissen bettet, um einen perfekten Blick auf den Fernseher zu haben. „Setz dich zu mir. Schau mit mir das Derby, Anatolischer Panther.“

Ich seufze. „Der Anatolische Panther ist ausgestorben.“

„Alles muss einmal sterben“, sagt Baba. „Aber vielleicht kommt alles eines Tages zurück. Vielleicht feierst auch du einmal ein Comeback.“

„Ich bin 24, Baba. Das wird nichts mehr mit der Fußballkarriere.“

Er fuchtelt mit seinen Händen, als der Qualm zu ihm zieht. „Was hätte aus dir werden können? Du bist auf einem guten Weg gewesen. Werde ich nie verstehen. Ich werde vieles nie verstehen, aber dass du den Sport aufgegeben hast, am wenigsten.“

Er rappelt sich auf, setzt ein Bein auf den Boden, hustet eine Weile, ehe das zweite folgt. Wie alt er geworden ist, denke ich mir. Und alles in so kurzer Zeit. Er steht auf, bückt sich, ich frage mich, was er vorhat, beobachte, wie er sich in Zeitlupe was unter dem Bett hervorholt. Dann steht er wieder aufrecht, lässt seine Hose runter. „Sag mal, Tarik, rauchst du schon wieder diese lustigen Zigaretten?“

„Sag mal, Baba, scheißt du jetzt hier in die Bude oder was?“

„In den Nachttopf“, antwortet er. „Ich habe dir doch gesagt, das Klo ist kaputt.“

„Seit wann hast du nen Nachttopf, Baba?“

Der Alte setzt sich auf das Ding, das er für einen Nachttopf hält, und ich zwinge mich genau hinzuschauen, weil es in der verdammten Bude garantiert keinen Nachttopf gibt. „Fuck“, sage ich. „Das ist Doogies Motorradhelm, in den du da scheißt.“

„Doogies? Ist das nicht deiner?“

„Ich hab kein Motorrad.“

„Du hast auch kein Klo“, sagt Baba. „Deshalb muss ich da reinballern, verstehst du? Oder willst du, dass ich vom Balkon mache?“

„Hätte nichts dagegen, hätten wir nen Balkon.“

„Soll ich auf den Balkon, hm? Soll ich das?“

„Wir haben keinen Balkon, Baba“, werde ich laut. „Wir haben nur ne Balkontür. Der Balkon ist schon seit zehn Jahren futsch.“

„Keinen Balkon?“, sagt er. „Was redest du da, Tarik? Wo bitte habe ich denn heute Morgen gefrühstückt?“

Ich nehme einen tiefen Zug, schließe die Augen und drifte davon. Mein Leben mit Baba wird jetzt, wo Nteba weg ist, noch härter. Nicht falsch verstehen, ich liebe den Alten, ich würde töten, ich würde sterben für den Alten, aber ich denke mit Wehmut zurück an die Zeit, als er noch gesund war, stark war, und vor allem: seine eigene Wohnung hatte. Jetzt gibt es Tage, da treibt er mich in den Wahnsinn. Und wenn dann die Nacht hereinbricht und ich ihn schwer atmen höre, habe ich manchmal Angst, die Dunkelheit könnte mich verschlingen, mich verschlucken, sodass nichts mehr von mir übrigbleibt.

***

Als ich aufwache, weiß ich sofort, dass etwas nicht stimmt. Es ist noch nicht Morgen, aber alle Lichter sind an, nicht nur Babas Nachttischlampe, wenn er in der Nacht rausmuss oder vor der Glotze eingeschlafen ist. Ich höre fremde Stimmen, sehe, dass die Wohnungstür offensteht, und will nach dem Baseballschläger greifen, der für alle Fälle in Reichweite an der Wand lehnt, aber da ist kein Baseballschläger.

Ich richte mich auf, da kommt Beer zur Tür rein, den Schläger an der Schulter. Er trägt eine schwarze Trainingshose mit silbernen Streifen, ein ärmelloses T-Shirt und weiße Sneakers. Der Typ hat Oberarmmuskeln, dass man vor Neid erblassen könnte. Er streicht sich über den dünnen Oberlippenbart, und als wär das nicht genug, trägt er auch noch eine goldene Kette um den Hals.

Fuck.

Ich lasse mich zurück auf die Luftmatratze fallen. „Der Schwulenporno wird nebenan gedreht“, murmle ich und lege den linken Arm über meine Augen, da mich die nackte Glühbirne an der Decke blendet.

„Hätte dich beinahe nicht mehr erkannt mit dem Vollbart“, sagt Beer in breitestem Giesinger Dialekt. „Siehst besser aus damit.“ Ich blinzle kurz, um zu sehen, ob er es ernst meint, aber seine Miene verrät nichts. „Ich habe auf dich gewartet, vor der Frauenkirche.“

„Magen-Darm-Grippe“, stöhne ich und lege eine Hand auf meinen Bauch. „Kam richtig flüssig.“

„Wenn ich nicht wüsste, dass du ein notorischer Lügner bist, würde ich dir das sogar glauben, so wie’s hier drinnen stinkt.“

„Hast du nen Durchsuchungsbefehl?“, frage ich.

„Wozu? Dein Opa war so nett, mich reinzulassen.“

Ich bin froh, dass ich die große Packung Gras gut verstaut und den Rest vom Joint aus dem Fenster geschmissen habe. Beer kann die ganze Wohnung auf den Kopf stellen, er wird nichts finden.

Er schubst mit dem Baseballschläger den Arm von meinem Gesicht. „Wenn ich sage, wir treffen uns vor der Frauenkirche, dann treffen wir uns vor der Frauenkirche. Ich bin kein Bajazzo.“

„Bajazzo?“

Beer berührt mit der Spitze des Baseballschlägers die Unterseite meines Kinns. „Du gehst doch in die Moschee beim Einkaufszentrum, oder?“

„Nein“, sage ich. „Gehe ich nicht.“

Er schmeißt den Baseballschläger auf den Boden. „Aber früher warst du dort, stimmt’s?“

„Das ist lange her. Jetzt treiben sich dort nur mehr Knallköpfe mit langen Bärten und weißen Gewändern rum. Das ist keine Moschee mehr. Das ist ne Klapsmühle.“

„Aber du kennst den Derwisch.“

„Ich kenn den nicht.“

„Einigen wir uns darauf, dass du das Haus findest.“

„Ja, und jetzt?“, will ich wissen.

„Ich habe einen Auftrag für dich“, sagt Beer und sieht auf. „Springt auch was dabei für dich raus.“

„Bin nicht interessiert.“

„Oh doch, bist du. Du hast gar keine andere Wahl, als interessiert zu sein.“ Er geht in die Knie, fixiert mich und fährt leise fort: „In dem Raum nebenan hängt ein Fernseher für knapp dreißigtausend Euro an der Wand, Diebesgut aus einem LKW. Entweder du hast den geklaut oder dein Opa … Opa habe ich schon gefragt, der war’s nicht. Also, entweder warst es du oder dein Opa ist ein Lügner.“

Als mir langsam dämmert, was hier vor sich geht, setzt ein Dröhnen in meinem Schädel ein. Es macht mich taub, macht mich bewegungsunfähig, ich kann nicht sprechen, nicht denken, mich nicht rühren. Ich liege wie ein Käfer auf dem Rücken, hilflos, lächerlich, alle viere strecke ich von mir.

„Die einzige Wahl, die du jetzt noch hast, ist Gefängnis oder tun, was ich sage. Und bevor du dich entscheidest, sollte dir eines klar sein: Dein Opa schafft’s nicht ohne dich. Gehst du in den Knast, kommt er in ein Heim. Und das wird kein schönes Heim sein.“

„Oh Mann“, sage ich und schlage mir die Faust auf die Stirn. „Ist das jetzt echt? Das kann doch nicht echt sein, oder?“

Beer steckt sich eine Zigarette in den Mund, betrachtet das Riesenposter von 1860 München. Er scheint mich zu suchen, aber nicht zu finden. „Ich wette, du hast noch nie eine Minute an den Gedanken verschwendet, was mit deinem alten Herren wird, wenn du ins Gefängnis gehst.“

„Ich bin sauber“, protestierte ich. „Ich hab mit dem blöden Teil nichts zu tun.“

„Erzähl das nicht mir“, sagt Beer und hebt die Arme. „Erzähl das dem Richter.“

Er steht auf, ich sehe, wie zwei Muskelprotze mit Militärhaarschnitt den Fernseher raustragen, einer der beiden hat den Fenerbahçe-Schal um den Hals.

„Da liegt n Motorradhelm in der Ecke, den könnt ihr auch noch mitnehmen“, sage ich. Beer wirft mir etwas zu, ich fange es mit der rechten Hand. Es ist ein Smartphone – und keins von der billigen Sorte. „Was soll ich damit?“

„Wir kommunizieren nur mehr über dieses Handy“, gibt mir Beer zu verstehen. „Verliere es nicht. Erzähl niemandem davon. Gibt keinen Ersatz. Kein zweites Handy, keine zweite Chance.“

„Oh Mann.“ Ich spüre einen Anflug von Panik.

Er reicht mir ein paar verschweißte SIM-Karten. „Wechsle sie regelmäßig aus, aber lass mich stets wissen, wenn du das tust. Schreib mir sofort eine SMS, wenn du eine neue Nummer hast, ja? Kann das dein anatolisches Kifferhirn speichern? Und lern meine Nummer auswendig, das ist wichtig, wenn du die Karten wechselst. Lern meine Nummer, bis du sie im Schlaf aufsagen kannst.“

„Was soll das?“

„Du gehst in die Moschee von diesem Hassprediger, diesem Derwisch. Sieh dich ein bisschen um. Mehr will ich erst nicht. Schau dir die Bude an, überprüfe, wie gut die Überwachungskameras sind, ob sie aufzeichnen, finde heraus, ob es Bewegungsmelder gibt oder eine komplette Alarmanlage installiert ist. Damit kennst du dich doch aus, das kriegst du hin.“

„Moment, Moment“, sage ich. „Ich gehe lieber für drei Jahre ins Gefängnis, als dass ich auch nur drei Minuten im Gebetshaus des Derwischs bleibe.“

„Jetzt stell dich nicht so an, du bist kein Kind von Traurigkeit.“

„Ey, der Typ hat vielleicht den Anschlag von Hamburg in Auftrag gegeben.“

„Deshalb musst du vorsichtig sein, ja?“

„Wie stellst du dir das vor?“, will ich von ihm wissen. „Und überhaupt! Die lassen mich da doch gar nicht rein. Die haben einmal in der Woche eine öffentliche Veranstaltung, die sowieso jeder besuchen kann, auch du. Wozu brauchst du mich also? Unter der Woche machen die den Laden dicht. Da sind nur seine treuesten Anhänger.“

„Die Freitagspredigt ist öffentlich“, sagt Beer und geht zur Tür. „Und die nächste wirst du nicht verpassen.“

„Ey, wie …“, sage ich noch, aber Beer hört mir gar nicht mehr zu, ist schon zur Tür raus und ich höre ihn noch von draußen rufen: „Und hol einen Klempner für die Sauerei im Klo! Das ist ja unmenschlich, sowas. Wie kann ein Mensch so scheißen?“