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Doris Gercke

Beringers Auftrag

Ein Milena-Proháska-Krimi

1. Beringer * Milena

An dem Morgen, als Beringer beschloss, die Geschichte mit Milena zu beenden, geschahen ein paar Dinge, die ihn daran hinderten, seinen Entschluss sofort in die Tat umzusetzen. Ein Müllwagen beschädigte das Gartentor, für dessen Reparatur wohl die Stadtverwaltung aufkommen würde, das aber, weil es hundert Jahre alt und sehr schön gewesen war, in Wirklichkeit für immer zerstört sein würde. Und Milena, die sich angewöhnt hatte, vor der Öffnung ihres Büros zu ihm zu kommen, um mit ihm gemeinsam zu frühstücken und eine Arbeitsbesprechung abzuhalten, kam nicht. Erst später geschah die Sache mit Walter.

Dem rückwärtsfahrenden Müllwagen hatte Beringer, noch in Schlafanzug und Morgenrock, von der verglasten Veranda aus zugesehen. Dort hatte die Zugehfrau am Abend zuvor den Frühstückstisch für Milena und ihn gedeckt. Er war im Begriff gewesen, Milenas Gedeck zu entfernen, als das Malheur geschah. Ihm war klar, dass er hinauslaufen und mit dem Fahrer sprechen musste, obwohl er nichts mehr ändern konnte. Und er ahnte, dass er, in Schlafanzug und Morgenrock und mit ledernen Pantoffeln an den Füßen, von dem Fahrer des Müllwagens nicht besonders ernst genommen werden würde. Er lief dann doch hinaus, das rechte Bein ein wenig nachziehend, das passierte stärker, wenn er in Eile war, notierte sich die Nummer des Müllwagens und ging wieder ins Haus. Der Fahrer war nicht einmal aus seiner Kabine geklettert. Voller Wut trug Beringer das für Milena bereitgestellte Frühstücksgeschirr zurück in die Küche und kam sich dabei lächerlich vor. Einen Augenblick lang gab er dem ungehörigen Benehmen des Fahrers die Schuld, aber schon, während er neben der Kaffeemaschine stand und zusah, wie der Kaffee durch den Filter lief, waren seine Gedanken wieder bei Milena.

Ihm war klar, dass er sie nicht länger ertrug. Sie mussten sich trennen, je schneller, desto besser. Aber wenn er genauer überlegte, sich intensiv mit der kurzen Geschichte ihres Zusammenseins auseinandersetzte, war da immer so etwas wie Erstaunen. Wie war es möglich gewesen, nichts ahnend ein Verhältnis zu beginnen, das so schnell beendet werden sollte? Was war der wirkliche, der eigentliche Grund dafür, dass er bereits aggressiv wurde, wenn er Milenas Schritte hörte, er, der noch vor wenigen Monaten geglaubt hatte, durch sie aus einer unerträglichen Phase der Depression erlöst worden zu sein? Jawohl, erlöst. Er erinnerte sich gut, nur zu gut, an die ersten Male ihres körperlichen Zusammenseins, an Milenas Hemmungslosigkeit, ihre direkte Art, Lust hervorzurufen und Befriedigung zu finden. Er hatte es sich am Anfang nicht eingestehen wollen, aber sehr bald gespürt, wie sie ihn mitgerissen hatte.

Gemeinsam hatten sie in Frankreich Keizer zur Strecke gebracht, den Mann, dem er sein steifes Knie und seinen vorzeitigen Abschied aus einer erstaunlichen Polizeikarriere verdankte. Mit Milena hatte er sich gesund und stark gefühlt. Er war es gewesen, der ihr vorgeschlagen hatte, ein gemeinsames Anwalts- und Detektivbüro aufzumachen. Er erinnerte sich genau, dass sie am Anfang von seiner Idee nicht nur begeistert gewesen war. Nach ein paar heißen und hemmungslosen Tagen in Frankreich waren sie gemeinsam nach Deutschland zurückgekehrt. Milena war mit ihrer Tochter in das inzwischen leer stehende Haus ihrer Eltern gezogen. Die waren nach Prag zurückgegangen und hatten sich von dort aus zufrieden geäußert, als sie erfuhren, dass Milena erneut ihre Zulassung als Anwältin beantragt und erhalten hatte. Er, Beringer, brauchte keine Zulassung. Er brauchte nur einen Gewerbeschein, den sich jeder für wenig Geld bei der dafür eingerichteten Stelle holen konnte. Er erinnerte sich gut daran, dass ihn die anstandslos erteilte Genehmigung, ein Gewerbe als Detektiv ausüben zu dürfen, eine Weile beschäftigt hatte. Würde denn seine Arbeit so wenig wert sein, dass sie jeder ausführen könnte? Natürlich war es Milena gewesen, ihre Zuversicht auf den Erfolg ihrer gemeinsamen Arbeit, ihre Bewunderung für seine Erfahrungen in der Polizeiarbeit, auch ihre Rücksichtslosigkeit auf seinen noch immer angeschlagenen gesundheitlichen Zustand, wenn sie mit ihm ins Bett wollte, die ihm über diese Grübeleien hinweggeholfen hatte.

Milena, Milena, Milena. Sie hatten sich darauf geeinigt, ihr gemeinsames Büro in Beringers alter Villa einzurichten. Sein Haus lag zentraler als ihres. Für ihn würde die Arbeit so bequemer sein. Außerdem war die Beringer-Villa repräsentativ. Das alles hatte sich ziemlich schnell bezahlt gemacht. In dem Jahr, in dem sie zusammenarbeiteten, waren ihnen so viele interessante und lukrative Fälle angetragen worden, dass sie ihre Mandanten aussuchen konnten. Zweimal war Milena inzwischen als Verteidigerin in Aufsehen erregenden Strafprozessen aufgetreten. Sie hatte den Freispruch für eine Frau erreicht, die ihr Kind zu Tode misshandelt haben sollte. Die Vorverurteilung der Frau durch die Öffentlichkeit war umfassend gewesen. Seiner, Beringers, Ermittlungsarbeit hatte Milena ihren Prozesserfolg zu verdanken gehabt. Sie hatten gut zusammengearbeitet; jedenfalls war das Milenas Ansicht gewesen.

Ihn selbst hatte sehr bald ein merkwürdiges Gefühl der Unzufriedenheit beschlichen, von dem er am Anfang nicht gewusst hatte, wodurch es begründet wurde. Das war ihm erst später klar geworden, bei der Arbeit an einem Fall, der mit Drogenkonsum zusammenhing. Ihr Mandant war angeklagt, im Rausch seine Freundin getötet zu haben. Natürlich war es selbstverständlich, dass Milena als Verteidigerin auf der Seite des Mannes stand und dass sie von ihm, Beringer, erwartete, entlastendes Material zu finden. Er war ja auch bereit dazu gewesen. Aber während er Recherchen anstellte, Nachbarn befragte, von ehemaligen Kollegen Informationen einholte, hatte sich bei ihm mehr und mehr das Gefühl eingestellt, als sei er ein Teil des unerfreulichen Milieus, in dem sich Milenas Mandant bis vor Kurzem bewegt hatte. Und nicht nur er, nein, auch Milena schien ihm plötzlich in seinen eigenen Augen an Ansehen zu verlieren. Wer waren sie denn? Kleine, von einem Verdächtigen mit viel Geld aus undurchsichtigen Quellen bezahlte Handlanger? Menschen, die ihre Fähigkeiten dazu benutzten, Mitgliedern der Gesellschaft zu helfen, die er, Beringer, lieber nicht kennengelernt hätte. Was taten sie anderes als jene sogenannten Star-Anwälte, die von aller Welt, jedenfalls von der Welt, der er bisher angehört hatte, als Teil des kriminellen Milieus angesehen wurden, das sie zu bekämpfen öffentlich und laut vorgaben? Von solchen Überlegungen, die ihn zu quälen begannen, bis dahin, Milenas hemmungslose Lust auf Sex, an der er am Anfang so deutlich Gefallen gefunden hatte, mit dem Milieu in Verbindung zu bringen, das er mehr und mehr zu verabscheuen meinte, war es nur noch ein kurzer Weg.

Aber da war noch etwas anderes, das ihm, wenn er sich selbst gegenüber aufrichtig gewesen wäre, hätte bewusst werden müssen. Beringers Familie hatte, seit sie vor 250 Jahren aus Frankreich vertrieben worden war und sich in Preußen niedergelassen hatte, immer dem Staat gedient. Der Staat war den Hugenotten damals freundlich entgegengekommen. Und weder er noch seine Väter und Vorväter hatten später einen Grund gehabt, dem Staat gegenüber ablehnend zu sein. Im Gegenteil: Auch wenn Beringer sich, anders als vielleicht noch die Generationen vor ihm, nicht mehr als Teil des Staates begriff, so war doch das Gefühl, eine Macht im Rücken zu haben, auf die man sich im Notfall verlassen konnte, immer ein besonderes Gefühl gewesen, das ihn aus der Masse herausgehoben und vielleicht seiner Arbeit einen besonderen Sinn, seinem Leben eine besondere Festigkeit gegeben hatte.

Ja, Festigkeit, das war durchaus das richtige Wort. Er aber hatte diesen Rückhalt freiwillig aufgegeben, als er seinen Dienst aufgekündigt hatte. Er hatte damals die Festigkeit, die er brauchte, in sich selbst gehabt; in seinem Hass gegen Keizer und in dem unbedingten Willen, ihn zur Strecke zu bringen. Dann, nachdem er sein Ziel erreicht hatte, war Milena über ihn gekommen. Und mit ihr alles Hemmungslose, Weiche, Uneingegrenzte, alles, was er in Wirklichkeit als kriminell empfand, unabhängig davon, ob es das war oder nicht.

***

Auch als Waller Minister gewesen war, hatte er seine Wohnung in einem abseits liegenden Stadtteil beibehalten. Er blieb dort, wo er geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen war. Verwurzelt sein machte sich gut in der Politik. Und es war sicher nur ein Zufall, dass die wichtigen Leute der Partei, denen Waller sein Ministeramt verdankte, aus demselben Stadtteil gekommen waren. Waller war nie ein Mensch für Empfänge und Partys gewesen. Deshalb war die Vierzimmerwohnung, die er von der Baugesellschaft gemietet hatte, deren Häuser seit hundert Jahren zum Stadtbild von Wallers Wohngegend gehörten, wie die alte Fachwerkkirche und das Schloss, für ihn immer groß genug gewesen. Dass die Chefs der Baugesellschaft derselben Partei angehörten wie Waller, war nur ein Zufall. Dass Wallers Wohnung an diesem Morgen einen, sagen wir vorsichtig, ein wenig heruntergekommenen Eindruck machte, war keiner; jedenfalls dann nicht, wenn man davon ausgeht, dass Wohnungen so etwas sein können wie ein Spiegelbild derer, die darin wohnen. Waller war heruntergekommen. Daran hatte zumindest er selbst keinen Zweifel.

Der strenge Geruch, der, aus welchen Gründen auch immer, vielen Junggesellenwohnungen anhaftet, war auch in Wallers Wohnung vorhanden. Seine Putzfrau kam einmal in der Woche. Sie hatte es bisher nicht fertiggebracht, den Geruch länger als zwei Tage nach der Beendigung ihrer Arbeit aus den Räumen fern zu halten. Waller schien gegenüber Gerüchen unempfindlich zu sein. Ein kluger Kopf, aber unempfindlich gegenüber Gerüchen; auch das eine Voraussetzung für Erfolge in der Politik, Erfolge, die für Waller allerdings nur von kurzer Dauer gewesen waren. Bei seinen Partei­freunden, die ihn selbstverständlich auch jetzt nicht im Stich ließen, bestand Uneinigkeit darüber, weshalb Waller nicht in der Lage gewesen war, die Hoffnungen, die man in ihn gesetzt hatte, zu erfüllen. Manche meinten, man habe ihm zu jung Verantwortung aufgebürdet. Waller war der jüngste Minister gewesen, der jemals auf einem Regierungssessel gesessen hatte. Andere meinten, er sei einfach nicht hart genug für die Politik. Und wieder andere, die, die ihn noch nie gemocht hatten und möglicherweise auch neidisch auf seine Anfangserfolge gewesen waren, hielten ihn einfach für ungeeignet. Sie sagten „ungeeignet“, weil sie es vermeiden wollten, „zu klug“ oder „zu intelligent“ zu sagen, was in ihren Augen einer unzulässig positiven Beurteilung gleichgekommen wäre. Letztere kamen vielleicht Wallers Problem am nächsten. Er war tatsächlich ein ungewöhnlich intelligenter Mann, dabei aber von bemerkenswert unverbindlichem Wesen und von kleiner, schmaler Statur, und deshalb, weder durch sein Aussehen noch durch sein Auftreten, dazu in der Lage, Menschen für sich zu gewinnen. Vor sich selbst hatte Waller sich damit abgefunden, ein Verlierer zu sein. Geld hatte er genug. Er war nicht besonders anspruchsvoll, außer, was einen bestimmten Kleiderstil betraf, und er hatte seine verschiedenen Ämter lange genug innegehabt, um Versorgungsansprüche aus ihnen herleiten zu können. Er war nacheinander Minister, Chef der größten Wach- und Schließgesellschaft und Vorsitzender des reichsten Fußballclubs der Stadt gewesen.

Waller liegt im Bett. Es ist elf Uhr morgens, und er studiert den Sportteil der Bild-Zeitung. Er hat sich nicht wieder zugedeckt, nachdem er die Zeitung aus dem Briefkasten geholt hat. Waller trägt eine hellblau-weiß gestreifte Schlafanzughose. Sein schmaler Oberkörper ist hellbraun und unbehaart und wirkt beinahe rührend jugendlich. Lange, blonde Haare fallen unordentlich in sein Gesicht. Unter den Augen hat Waller tiefe, braunblaue Ringe, die ihn ein wenig krank aussehen lassen. Die Augenringe hat er übrigens immer; ein Vorteil, findet Waller, weil nie jemand weiß: Hat der Mann die Nacht durchgezecht oder sieht er einfach so aus?

Sein Verein steckt noch immer in der Krise. Noch immer oder schon wieder, jedenfalls ist die Lage kritisch. Niemand weiß besser als Waller, was das bedeutet. Die Sponsoren, in diesem Fall hauptsächlich Bordellbesitzer, Luxuswagen-Händler, Grundeigentümer und zu Geld gekommene Kneipiers, drohen damit, ihre segensreichen Hände abzuziehen. Seit seiner Zeit als Vorsitzender hat Waller gute Beziehungen zu einigen von ihnen. Er nimmt sich vor, ein paar informelle Gespräche zu führen. Das Schicksal des Vereins liegt ihm noch immer am Herzen. Und gegen eine besonders zärtliche Massage nach einem gemeinsamen Sauna-Besuch ist ebenfalls nichts einzuwenden, auch wenn, vor sich selbst gibt er es zu, die Art und Weise, wie seine Gesprächspartner ihre Sätze formen, nicht immer seinen Ansprüchen an eine gepflegte Sprache genügt.

Waller legt die Zeitung beiseite und überlegt, wen er anrufen soll. Das Telefon klingelt, bevor er einen Entschluss gefasst hat. Er lässt es ein paar Mal klingeln, bevor er den Hörer abnimmt. Während er sich meldet, sieht er aus dem Fenster. Die Ringe unter seinen Augen sind wirklich sehr tief und sehr dunkel.

„Ja“, sagt er und dann eine Weile nichts mehr. Seine Stimme klingt untertemperiert, was nicht daran liegt, dass er schon eine Weile nicht mehr zugedeckt ist. Sie hat ihre gewöhnliche Tonlage. Auch dies übrigens eine Tatsache, die manche Menschen, die mit Waller zu tun haben, irritiert. Hat der Mann kein Temperament oder tut er nur so?

„Haltet ihr das für eine kluge Idee?“, sagt Waller. „Ausgerechnet dieser Querkopf?“

Wieder hört er eine Weile zu, ohne etwas zu sagen. Die Worte seines Gesprächspartners scheinen ihn nicht sonderlich zu beeindrucken. Er beobachtet ein Elsternpaar, das in der Baumkrone vor seinem Schlafzimmer herumturnt. Elstern sind seine Lieblingsvögel, so wie Schwarz und Weiß seine Lieblingsfarbkonstellation ist, weshalb er sich manchmal in selbstzweiflerischen Phasen, denen er unterworfen ist, wie jeder intelligente Mensch, für undifferenziert hält. In dem Versuch, sich das Gegenteil zu beweisen, wandern seine Augen zu der Sammlung von Grafiken hinüber, die die Wand nahe dem Fußende seines Bettes beinahe ganz bedecken. Es sind wirklich sehr schöne Stücke darunter, und die Bilder machen nur einen kleinen Teil seiner Sammlung aus, die über die Wände der ganzen Wohnung verteilt ist.

„Wird schon über Geld geredet?“, fragt er irgendwann und hört wieder eine Weile zu. An den Bewegungen seiner linken Hand ist zu sehen, dass er beginnt, sich bei dem Gespräch zu langweilen. Dann, plötzlich, bleibt die Hand bewegungslos neben seinem flachen Bauch auf der Bettdecke liegen. Waller lächelt. Das ist selten und soll hier ausdrücklich festgehalten werden. Politik ist ohne Freundlichkeit, und sei es auch nur eine ­aufgesetzte, angelernte, eingeübte, festgefrorene Freundlichkeit, nicht zu denken. Waller hat sich immer geweigert zu lächeln, wenn ihm nicht danach war; auch das sicher ein Steinchen in dem Mosaik von Gründen, die ihn zu einem Verlierer gemacht haben. Nur Waller selbst weiß, dass es seine Intelligenz war, die ihn nur selten lächeln ließ. Wallers Lächeln, in Verbindung mit den dunklen Ringen unter seinen Augen, ist durchaus geeignet, bei empfindsamen Menschen den Eindruck von Verzweiflung und Tod hervorzurufen, der nur selten willkommen ist. Ihm selbst ist diese fatale Wirkung schon als Schüler bewusst geworden. Er hat sich das Lächeln, zu dem er durchaus hin und wieder geneigt gewesen wäre, schon seit dreißig Jahren abgewöhnt. Wobei es eine Ausnahme gibt. Bei bestimmten Frauen, die sein Lächeln mögen, und in intimen Situationen, die Waller selbst gelegentlich herbeiführt, ist dieses Lächeln durchaus angebracht. Diese Gelegenheiten nutzt er selbstverständlich ausgiebig. Er holt dann nach, sozusagen, denn ihm ist durchaus bewusst, dass ein Mensch ohne Lächeln nicht leben kann. Selbstverständlich lächelt er manchmal, wenn er allein ist, allerdings selten. Man kann Gewohnheiten, die zur zweiten Natur geworden sind, nicht mehr an- oder ablegen, wie es einem gefällt.

„Ich melde mich“, sagt Waller und legt den Hörer auf.

Eine Weile bleibt er regungslos auf dem Bett liegen. Seine Augen sehen hinüber zu den kahlen Zweigen vor seinem Fenster. Die Elstern sind verschwunden. Ein sehr kleiner Vogel, er kann nicht erkennen, um welche Art es sich handelt, sitzt bewegungslos auf der Spitze des höchsten Zweiges.

Ein schönes Ziel für einen Scharfschützen, denkt Waller. Er denkt das automatisch zwischen den Gedanken, die ihn wirklich beschäftigen. Er weiß, dass er eine vernünftige Strategie entwickeln muss, wenn er Beringer dazu bringen will, einen Auftrag anzunehmen, der für empfindliche Gemüter durchaus illegale Aspekte haben könnte.

Was hat der wohl inzwischen gemacht, dieser Beringer?

Waller rollt sich mit einem plötzlichen Ruck aus dem Bett und geht ins Bad. Sein Gang ist kraftvoll und bestimmt, beinahe, als gehöre er nicht zu der Person, die bis eben noch kindlich-schmal und sinnend auf dem Bett gelegen hat. Unter der Dusche versucht er sich zu erinnern. Er selbst war schon nicht mehr Innen­minister, als damals die Sache mit Beringer passiert ist. Aber selbstverständlich hat er noch immer genügend Informanten im Amt gehabt, die ihn mit interessanten Neuigkeiten versorgten. Über den Fall Beringer – wie hieß doch gleich der Kerl, der ihn angeschossen hat? – war er auch deshalb informiert worden, weil seine Freunde glaubten, der Mann könnte in der Wach- und Schließgesellschaft ein neues und besseres Wirkungsfeld finden. Er, Waller, sah das damals nicht so. Er kannte Beringer aus seiner Zeit als Innenminister. Seine fachlichen Qualitäten standen außer Zweifel. Aber charakterlich? Man hatte dann gehört, Beringer habe sich verbittert zurückgezogen. Manche behaupteten, er sei besessen von Rachegedanken. Waller hatte ihn aus den Augen verloren. Für seine Freunde gab es keinen Grund, länger über Beringer zu berichten, nachdem feststand, dass Waller ihn nicht haben wollte. Und nun war er also Privatdetektiv geworden, ein Schnüffler.

Passt im Grunde gar nicht zu ihm, denkt Waller, während er sich abtrocknet und dabei in den Spiegel sieht. Vielleicht kann man da ansetzen?

***

Ehrlich gesagt hörte ich die Worte des Richters mit großem Vergnügen:

„Ich habe den Eindruck, Sie können sich kurz fassen, Frau Proháska. Der Herr Staatsanwalt scheint nichts dagegen zu haben, oder?“

Der Staatsanwalt schüttelte den Kopf und sah dem Richter dabei tief in die Augen. Ich dachte: Was bleibt ihm auch anderes übrig? Er hat ziemlich lächerlich ausgesehen in der letzten halben Stunde.

„Mein Mandant hat ein Recht darauf, vor der Öffentlichkeit rehabilitiert zu werden“, rief ich und wusste im selben Augenblick, dass ich die falschen Worte gewählt hätte, wenn ein anderer Richter Vorsitzender gewesen wäre. Im Allgemeinen haben es Richter nicht gern, an ihre Aufgaben erinnert zu werden. Den Angeklagten zu rehabilitieren ist Aufgabe des Gerichts, nicht des Anwalts. Der hat nur die entlastenden Tatsachen zu liefern. Aber Richter Weiß mag mich. Er überhört auch vorschnelle Bemerkungen. Dafür fasste ich mich kurz, was er gern hatte, ich aber sowieso vorgehabt hatte, denn ich war mit Beringer verabredet.

Mein Mandant wurde freigesprochen. Er verließ den Verhandlungsraum so schnell, dass er beinahe nicht die Zeit fand, sich von mir zu verabschieden. Es war, als hätte er Angst, wieder festgenommen und doch noch verurteilt zu werden.

Ich sah ihm nach. In Wirklichkeit hatte ich den Mann von Anfang an für schuldig gehalten, deshalb verstand ich nun sehr gut, weshalb er so schnell davonlief. Und wenn Beringer nicht drei verschiedene Arbeitsweisen bei den Einbrüchen in der Gartenkolonie entdeckt hätte, von denen keine unserem Mandanten eindeutig zuzuordnen gewesen war, wäre der Prozess wohl anders für ihn ausgegangen.

„Na, zufrieden, Frau Anwältin?“

Der Staatsanwalt war neben mir aufgetaucht. Ich wusste, was nun kam. Dass diese Kerle eine Niederlage nie einfach akzeptieren konnten!

„Selbstverständlich“, sagte ich und lächelte mein schönstes Lächeln.

Eigentlich hatte ich große Lust, mich auf eine Diskussion einzulassen, aber die Verabredung mit Beringer wartete. Er hasst es, wenn ich unpünktlich bin.

„Tut mir leid“, sagte ich deshalb schnell, „aber ich bin verabredet.“

Noch einmal ein Lächeln, ein kurzer, freundlicher Gruß zum Richtertisch hinüber, und ich verließ den Raum. Unterwegs zum Ausgang nahm ich das Handy aus der Aktentasche, um Ronny anzurufen.

„Kannst du die nächsten Stunden den Bürodienst übernehmen?“, fragte ich ohne Einleitung, als er sich meldete.

„Ist klar“, sagte Ronny. „Irgendwas Besonderes, das ich beachten muss?“

„Nein“, sagte ich. „Notier die Anrufe und sag, ich melde mich, sobald ich kann.“

Ich wusste genau, dass Ronny mehr machen würde, als nur die Anrufe zu notieren. Er ist so neugierig, dass er die Leute, die anrufen, eiskalt und raffiniert nach der Geschichte ausfragt, die sie bewogen hat, sich an ein Anwalts- und Detektivbüro zu wenden. Damit überschreitet der Junge natürlich seine Kompetenzen, aber bisher haben wir ihn von dieser Marotte noch nicht abbringen wollen. Das Ganze hat nämlich auch entschiedene Vorteile. Bevor ich zurückrufe, habe ich schon eine sorgfältig zusammengestellte, kleine Fallgeschichte auf dem Schreibtisch, bis hin zu Vorschlägen, wo, an welchem Punkt, Ermittlungen angebracht wären. Beringer hat einmal eine solche, von Ronny verfasste Vorlage zu Gesicht bekommen. Er hat sich sehr darüber aufgeregt, unangemessen, wie ich fand. Seit damals verberge ich Ronnys Schilderungen vor ihm und weise Ronny halbherzig darauf hin, seinen Bürodienst auf das Entgegennehmen von Namen und Adressen zu beschränken.

Es regnete, als ich das Gerichtsgebäude verließ. Ich ärgerte mich, denn ich hatte keinen Schirm, und für die kurze Strecke zu dem Restaurant, in dem Beringer auf mich wartete, würde ich kein Taxi finden. Ich begann zu rennen und kam nass und außer Atem vor der Tür des Restaurants an. Ich war wütend. Es kommt nicht oft vor, dass wir uns in der Mittagszeit zum Essen treffen. Die Verabredung war auf Beringers Drängen zustande gekommen. Ich hatte zu wenig Zeit gehabt zu überlegen, was wohl der Grund für unser Treffen sein mochte. In Situationen, in denen man unter Umständen in Schwierigkeiten geraten kann, ist man besser perfekt angezogen. Ich schüttelte die Regentropfen aus den Haaren und setzte mein schönstes Lächeln auf, während ich die Tür öffnete. Ich fand mich, trotz alledem, hinreißend. Und außerdem: Welche Schwierigkeiten konnte es geben? Liebten wir uns nicht? Arbeiteten wir nicht ausgezeichnet zusammen?

Beringer saß am Ende des langen, schmalen Lokals. Über zwei Reihen von Tischen, die mit weißen Tischdecken bedeckt und mit silbernen Leuchtern dekoriert waren, sah er mir entgegen. Die Tische waren noch nicht besetzt, trugen aber alle ein „Reserviert“-Schild. In den nächsten Minuten würden die Mittagsgäste kommen, und es würde unruhig werden. Schade, dachte ich.

Langsam ging ich über den mit roten und weißen Fliesen belegten Fußboden, zwischen den beiden Tischreihen hindurch, auf Beringer zu. Ich ging ein wenig übertrieben, so, als ginge ich über einen Laufsteg, vielleicht um auf diese Weise von meinen durchweichten Kleidern abzulenken. Ich fand mich hinreißend, erfolgreich und klug genug, es mit allen Beringers der Welt aufzunehmen.

Und außerdem ist er in mich verliebt, dachte ich beschwörend, also kann mir doch überhaupt nichts passieren.

Beringer stand auf, als ich den Tisch erreichte, und wartete, bis ich Platz genommen hatte. Er sprach nicht, aber ich war daran gewöhnt, dass er wenig redete.

„Ich hab einen Riesenhunger“, sagte ich. „Können wir uns dies Restaurant überhaupt leisten?“

„Du“, sagte Beringer, „du kannst dir hier alles leisten.“

Ich fasste seine Antwort als Kompliment auf und dachte nicht weiter darüber nach. Auch nicht über den Ton in seiner Stimme, der mich, wäre ich aufmerksamer gewesen, an die Zeit hätte erinnern können, als wir uns kennenlernten. Damals hatte Beringer schon durch die Art, wie er sprach, sehr lange zu verhindern gewusst, dass wir uns näherkamen.

Ein Kellner erschien, und ich bestellte zwei Pernod. Seit wir zusammen in Frankreich gewesen waren, hatten wir uns angewöhnt, vor dem Essen Pernod zu trinken.

„Für mich nicht“, sagte Beringer.

Ich sah ihn an.

„Bringen Sie trotzdem zwei“, sagte ich und lächelte dem Kellner zu. „Ich weiß, was für ihn gut ist.“

Einen Augenblick lang sah Beringer so aus, als müsste er sich beherrschen, um mich nicht zu schlagen. Wahrscheinlich sah er mein erschrockenes Gesicht. Er nahm sich zusammen.

Der Kellner lächelte mir zu und vermied es, zu Beringer hinüberzusehen, während er sich abwandte und ging. Beringer versuchte, eine freundliche Miene aufzusetzen. Er schob die Speisekarte beiseite.

„Wahrscheinlich hast du recht“, sagte er. „Ich werde etwas trinken. Ich hab überhaupt keinen Hunger.“

Ich machte ein Friedensangebot, obwohl ich keine Ahnung hatte, weshalb Krieg war.

„Du hättest dabei sein sollen, als der Richter über die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gesprochen hat“, sagte ich. „Er hat dich gelobt.“

„Mich?“

„Na ja, unsere Ermittlungen, die Beweise, die die Verteidigung angeschleppt hatte.“

„Er hat dich gelobt. Wahrscheinlich war er scharf auf dich. Du solltest dich mit ihm treffen“, sagte Beringer.

Ich versuchte, die Sache ins Lächerliche zu ziehen.

„Aber weshalb denn? Der Mann ist über fünfzig, viel zu dünn und verheiratet.“

„Ach. Das weißt du also schon?“, antwortete Beringer.

Ich schwieg.

„Entschuldige“, sagte er. „Ich weiß nicht, weshalb ich das gesagt habe. In Wirklichkeit ist es nämlich so –“

„Ja?“

„Haben die Herrschaften etwas ausgesucht?“

Der Kellner stand neben dem Tisch. Weder Beringer noch ich hatten ihn kommen sehen. Sein Gesichtsausdruck war aufmerksam. Er sah von einem zum anderen.

„Ich nehme noch einen Pernod“, sagte Beringer, „einen großen.“

„Ich kann mich nicht entscheiden“, sagte ich. „Irgendetwas Leichtes, Kleines?“

„Lachstatar? Wir haben eine ganz wunderbare Soße dazu und zwei entzückende kleine Reibeplätzchen.“

„Ja, ich nehme die Entzückenden“, sagte ich, „und eine Flasche Weißwein, trockenen, französischen, bitte.“

„Zum Weißwein zwei Gläser?“, fragte der Kellner.

Niemand antwortete ihm, sodass er sich abwandte und ging. Das Restaurant war noch immer leer, bis auf einen Herrn, der vor ein paar Minuten hereingekommen war und sich an dem Tisch niedergelassen hatte, der von unserem am weitesten entfernt war. Beringer hatte ihn beobachtet, als er hereinkam. Er schien zu überlegen, ob er den Mann kenne, sagte aber nichts.

„Ich war im Gericht“, sagte ich. „Es war keine schwierige Verhandlung, auch, weil du gute Vorarbeit geleistet hattest. Aber ich musste mich trotzdem heute früh auf die Verhandlung vorbereiten. Ich musste die Stunde überstehen, die die Verhandlung gedauert hat. Ich musste das Geschwätz des Staatsanwaltes ertragen, der lauter wird, je weniger er in der Hand hat. Ich hab’s einfach heute Morgen nicht geschafft, vorher noch zum Frühstück zu kommen. Als du mich angerufen hast, da hab ich mich gefreut. Ich hab mich richtig gefreut, dich hier zu treffen.“

„Es tut mir leid“, sagte Beringer.

„Was heißt das: Es tut dir leid? Sag endlich, weshalb du so eine fürchterliche Laune hast, dass du dir selbst das Essen verdirbst. Ist etwas geschehen, das ich wissen sollte?“

„Ich will, dass wir uns trennen“, sagte Beringer.

Der Satz klang wie auf ein Brett genagelt und auf den Tisch gestellt. Er stand da. Er war nicht zu übersehen. Ich musste irgendetwas mit ihm anfangen. Es hätte ruhig etwas lauter sein können in dem verdammten Restaurant. Aber es gab nur leere, weiß gedeckte Tische, rot-weiße Fliesen und am anderen Ende des Raums einen kleinen, blonden Mann, der eine Zeitung las, während er auf sein Essen wartete. Mir fiel ein, dass ich wusste, wer er war.

„Das ist es?“, fragte ich.

„Ja“, antwortete Beringer.

Ich hatte damit gerechnet, dass er irgendwann so reagieren würde. Ich ahnte, dass ich ihn manchmal überforderte. Ich hatte für diese Gelegenheit einen Plan gemacht. Wie war dieser verdammte Plan? Wie wollte ich reagieren, wenn es so weit gekommen war? Es gab ein paar Sätze, sorgfältig zurechtgelegte Sätze, die die Lage entspannen sollten. Der erste Satz, wie hieß der erste Satz, der Satz, der das Gespräch sicher in die richtige Bahn lenken würde? In die Bahn, die Beringer dazu bringen würde, sich erneut für mich zu entscheiden. In die Bahn, die seine Bedenken, seine Ängste, seine Konkurrenzprobleme beiseiteschieben würde. Nichts fiel mir ein, gar nichts.

„Entschuldige mich einen Augenblick“, sagte ich und stand auf.

Ich fühlte, dass Beringer mir nachsah, während ich zwischen den Tischen hindurch zur Toilette ging. Der Mann am anderen Ende hatte die Zeitung beiseite­gelegt und sah mir aufmerksam entgegen. So groß war der Raum nicht, dass Beringer das besondere Interesse des Mannes an der Person, die auf ihn zukam, nicht erkennen konnte. Damals hat er überlegt: Woher kenne ich den Mann? Den, der, als ich an ihm vorübergegangen war, die Zeitung wieder zur Hand nahm, so, als hätte er sie ausdrücklich zur Seite gelegt, um mich anzustarren.

Als ich zurückkam, hatte ich meine Fassung einigermaßen wiedergewonnen. Der Kellner brachte das Essen für mich, den Wein und den Pernod. Er sprach nicht und sah Beringer nicht an. Beringer nahm ihn kaum wahr. Er sah aus dem Fenster, während ich zu essen begann.

„Ich möchte, dass du etwas genauer bist“, sagte ich. „Meinst du, wir sollten unsere gemeinsame Arbeit beenden, unsere –“, ich zögerte einen Augenblick, bevor ich das Wort aussprach, „Beziehung, oder beides?“

Der Satz, die Sätze, von denen ich angenommen hatte, sie würden mir helfen, die Katastrophe sicher zu vermeiden, waren mir auch inzwischen nicht eingefallen. Ich wusste nur eins, mein Verstand, mein Körper, meine ganze Person wusste nur: Ich will, dass er zurücknimmt, was er gesagt hat. Ich weiß, dass so ein Entschluss falsch wäre. Ich werde es schaffen, ihn zu überzeugen, irgendwie werde ich es schaffen. Ich muss ruhig bleiben: Das ist wichtig. Ich darf auf keinen Fall aus der Rolle fallen.

„Das weißt du doch“, sagte Beringer.

In seiner Stimme war Erleichterung zu spüren. Sie wird kein Theater machen. In höchstens einer halben Stunde werde ich aufstehen und gehen können, ohne dass es eine Szene gegeben hat. Vor dem Restaurant werden wir uns mit einem freundschaftlichen Kuss voneinander verabschieden. Er wird eine Firma damit beauftragen, die Akten, die Büroeinrichtung in mein Haus zu transportieren. Er wird frei sein. Er wird nie wieder – nein, daran will ich jetzt nicht denken. Ich nahm alle meine Kräfte zusammen.

„Ich bin ein wenig überrascht“, sagte ich. „Das musst du mir schon zugestehen. Vielleicht war ich nicht aufmerksam genug in letzter Zeit. Irgendetwas muss mir entgangen sein. Ich weiß nicht, was du sagen willst. Sag es genauer, bitte.“

Das war’s, genauso hatte einer der Sätze sein sollen. Er war mir wieder eingefallen. Sag es genauer, bitte, freundlich, interessiert gesprochen, so, als hätte ich einen Mandanten vor mir, der mir seine Tat schildern sollte, oder die Umstände, die dazu geführt hatten, dass er einer Tat verdächtigt wird, damit ich Anhaltspunkte für die Verteidigungsstrategie entwickeln kann. Ich bin vorbereitet. Ich bin klüger als er. Ich werde gewinnen.

„Ich möchte, dass wir uns nicht mehr sehen.“

Irgendetwas war mit ihm passiert, etwas, das ich nicht wahrgenommen hatte. Eine Wand stand zwischen uns. Es war nicht möglich, diese Wand schnell einzureißen, ohne ernstlichen Schaden anzurichten. Ich würde nur Geduld haben müssen. Ich würde nur klug sein müssen, dann würde ich das Spiel am Ende gewinnen.

„Wenn ich es mir genau überlege, dann hast du wahrscheinlich recht“, sagte ich. „Obwohl es vielleicht ein bisschen zu früh ist. Wir haben gut zusammengearbeitet. Wir haben gut miteinander geschlafen. Aber man soll wohl aufhören, wenn es am schönsten ist.“

„Gut miteinander geschlafen“, sagte Beringer, „findest du das Wort richtig gewählt?“

Er war erleichtert darüber, dass ich mich einsichtig zeigte, so erleichtert, dass er sich ohne Not auf vermintes Terrain begab. Ich beschäftigte mich damit, das Häufchen Lachstatar auf meinem Teller zu zerteilen. Beringer sah mir zu. Auf dem Teller entstand ein Gebilde, ähnlich der schematisierten Zeichnung, die Kinder vom weiblichen Geschlecht mit Kreide an Hauswände malen.

„Du solltest essen“, sagte er.

Seine Stimme war ein wenig rau, vielleicht wusste er nicht genau, ob er noch sitzen bleiben oder lieber gehen sollte.

Keinen Fehler machen, dachte ich. Ich hab nichts bemerkt. Nicht die Veränderung in seiner Stimme; nicht, dass er schnell nach dem Glas gegriffen hat. Es ist nichts geschehen. Nur ein Häufchen Lachs hat seine Form verändert.

„Du hast recht“, sagte ich, „ich hab wirklich Hunger, jetzt.“

Beringer wandte den Blick von meinem Teller ab und sah zu dem Mann hinüber, der, außer uns, noch immer der einzige Gast war.

„Mir ist schrecklich kalt“, sagte ich.

Ich hatte den Teller beiseitegeschoben und zog die Schultern hoch.

„Du solltest das nasse Zeug sobald wie möglich wechseln“, sagte Beringer nach einem Blick, der, wie ich fand, nicht fürsorglich, sondern nüchtern war. Seiner Stimme war Erleichterung anzumerken. Er hatte einen unverfänglichen Grund gefunden, unser Treffen so schnell wie möglich zu beenden.

„Gib mir deine Jacke, bitte“, sagte ich.

Beringer winkte dem Kellner und zog sein Jackett aus. Er legte es mir um die Schultern.

Und jetzt?, dachte ich.

Unter anderen Umständen hätten wir nach dem Essen gemeinsam ein Taxi genommen und wären in die Kanzlei gefahren. Wir hätten eine Arbeitsbesprechung gemeinsam mit Ronny abgehalten, Ronny hätte Kaffee gekocht, Beringer hätte sich für eine Weile in seine Wohnung zurückgezogen. Er wäre wieder erschienen gegen achtzehn Uhr. Ronny wäre schon weggewesen. Wir hätten Pläne gemacht für den Abend oder für die Nacht. Ich sah Beringer an und folgte dann seinen ­Blicken.

„Was fasziniert dich an dem Kerl?“, fragte ich.

„Ich bin sicher, dass ich ihn kenne“, sagte Beringer.

„Es würde mich wundern, wenn du ihn nicht kennst“, sagte ich. „Er ist zwar nicht unmittelbar dein Vorgesetzter gewesen, aber als Chef hätte man ihn schon bezeichnen können. Ich hab ihn noch nie ausstehen können. Ein undurchsichtiger Mensch, finde ich.“

„Waller?“, sagte Beringer.

Er war über sich selbst erstaunt. Er hatte ein gutes Gedächtnis für Gesichter, weniger für Namen, aber Waller war ihm anscheinend nicht eingefallen. Vielleicht hatte die Umgebung damit zu tun. Wahrscheinlich hatte er den Minister damals nur in dessen Büro oder bei offiziellen Anlässen getroffen.

„Er sieht ziemlich heruntergekommen aus“, sagte ich.

Der Kellner brachte die Rechnung. Wir schwiegen, während Beringer zahlte, und warteten, bis wir wieder allein waren. Das Wort „heruntergekommen“ hing zwischen uns. Es schien Beringer nicht zu gefallen. Wahrscheinlich gefiel es ihm nicht im Zusammenhang mit einem Mann, der einmal sein Vorgesetzter gewesen war.

„Er ist älter geworden, das ist alles“, sagte er.

Ich stand auf. Mir war wirklich kalt. Ich hatte keine Lust mehr, Beringers Jackett auf meinen Schultern zu haben, wenn ich den Mann dazu nicht haben konnte. Ich hatte keine Lust, mir Gedanken über einen Mann zu machen, dem man so deutlich ansehen konnte, dass er Probleme hatte oder mindestens welche gehabt hatte. Dieser Waller interessierte mich nicht im Geringsten. Trotzdem sah ich verstohlen zu ihm hin, als ich an seinem Tisch vorüber zur Tür ging. War es Zufall, dass Waller gerade in diesem Augenblick die Augen von seiner Zeitung hob und unsere Blicke sich trafen? Ich glaubte, ein verstecktes Lächeln in seinen Augen zu sehen, aber ich war mir nicht sicher. Und dann sah er wieder in seine Zeitung, Beringer hielt mir die Tür auf, wir standen auf der Straße.

Es hatte aufgehört zu regnen. Nebeneinander gingen wir ein kleines Stück die Straße hinunter. Beringer hielt ein Taxi an. Er nahm mir das Jackett von den Schultern, bevor ich einstieg.

„Ich lass von mir hören“, sagte er, und er sagte es so, als hätte er sich damit endgültig verabschiedet.

Der Satz war lächerlich. Beringer blieb am Straßenrand stehen und dachte über den Satz nach, den er gerade gesagt hatte. Die ganze Situation war lächerlich. Sie hatten ein gemeinsames Büro in seinem Haus. Selbst wenn Milena jetzt nicht dorthinführe, weil sie sich umziehen musste, würde sie spätestens morgen jedes Recht der Welt haben, in seinem Haus aufzutauchen und ihre Arbeit zu machen. Er konnte sie nicht einfach vor die Tür setzen, selbst wenn er nun, am Nachmittag, noch eine Firma finden würde, die bereit wäre, Möbel und Akten einzupacken und in Milenas Haus zu transportieren. Er hatte sich etwas vorgemacht. Ihr merkwürdig beherrschtes Verhalten hatte ihn in seinen Illusionen bestärkt. Er war nicht einmal sicher, ob er ihr widerstehen könnte, wenn sie sich vornähme, ihn zu verführen. Er war schwach, verdammt. Er saß in der Falle und fand den Weg nicht hinaus.

„Eine ganz bezaubernde Frau“, sagte Waller neben ihm.

***

Es mag für Menschen, die nicht informiert sind, wie die tatsächliche Zusammenarbeit von Politik und Wirtschaft und Gesellschaft funktioniert, so aussehen, als wäre es mit der Karriere des jungen Waller ständig bergab gegangen, seit er sein Ministeramt übernommen hatte. Und tatsächlich hat es ja auch während seiner Zeit als Innenminister einige Vorfälle gegeben, die, von der Presse aufgebauscht, dann als Skandale bezeichnet wurden und deren Häufung schließlich zu seinem Rücktritt geführt hatte.

Da war die Geschichte mit den übereifrigen Polizisten, die Demonstranten sehr viel länger als erlaubt und unter entwürdigenden Bedingungen festhielten; Frauen und Kinder darunter, die zufällig unter die Festgehaltenen geraten waren und bei dieser Aktion, wie sie auf Befragen von Journalisten anschließend übereinstimmend äußerten, ihren Glauben an die Polizei als Freund und Helfer verloren. In der ständigen Konferenz der Innenminister wurde Waller mit den Sätzen zitiert: „Jeder Trick, und wäre er noch so schmutzig, muss im Verhör erlaubt sein, wenn wir es mit Kriminellen zu tun haben. Oder wollen wir mit der Strafprozessordnung unter dem Arm zusehen, wie unheilbare Triebtäter sich über unsere Frauen und Kinder hermachen?“

Dass diese Bemerkung im Gedächtnis der Anwesenden geblieben ist, hat allerdings nicht so sehr mit dem sachlichen Hintergrund der Veranstaltung zu tun gehabt. In der Diskussion ging es um die Schulung von Kriminalbeamten nach neuen, aus den USA übernommenen Verhörmethoden, gegen die die Anwesenden eher wenig einzuwenden hatten. Lustig daran war, dass Waller weder Frau noch Kinder hatte und sich auch niemand vorstellen konnte, dass er jemals welche haben würde.

Dass während seiner Amtszeit drei unverdächtige Mitbürger, darunter zwei zumindest fremd aussehende junge Männer, aus Versehen erschossen worden waren, hatte dann eine Zeitung in der Sommerflaute groß herausgebracht und damit den Rücktritt des Ministers eingeleitet.

Denkbar ist allerdings auch, dass informierte Kreise den Verlauf von Wallers Karriere ganz anders beurteilen. Was, wenn über die gesetzlich erlaubte Zeit hinaus festgehaltene Demonstranten für diese Kreise längst nicht das gleiche Unglück bedeuteten wie für die Betroffenen selbst? Hätte dann nicht der Minister in ihrem Sinn beide Augen zugedrückt, als er es unterließ, seine Polizei an der Überschreitung ihrer Befugnisse zu hindern? Was, wenn inzwischen amerikanische Verhörmethoden, in diesem Fall die sogenannte Reid-Methode, in den Kripo-Kommissariaten der Länder längst verbreitet sind? Wäre dann Waller nicht eher als Vorreiter für effektive Polizeiarbeit zu würdigen?

Und was, wenn die „Liste der Skandale“, die die Zeitung veröffentlicht und die Wallers Rücktritt eingeleitet hat, nichts weiter gewesen ist, als eine sorgfältig zurechtgelegte Methode, um dem Anwärter auf den Chefposten der größten und in mancherlei interne Vorgänge der ansässigen Industrie-Unternehmen eingeweihten Wach- und Schließgesellschaft ein Renommee zu geben, das ihn für diesen Posten empfahl?

Für den Fortgang der Geschichte wird es nützlich sein, sich, was Waller betrifft, zumindest zwei Perspektiven der Betrachtung seiner Person offenzuhalten. Zumindest zwei, denn dass es noch andere gibt, und möglicherweise interessantere als die, bei deren Betrachtung man nicht umhinkommt, das eher langweilige, zumindest undurchsichtige Gebiet der öffentlichen und verdeckten Politik zu streifen, steht außer Frage. Allein der Blick, mit dem Waller Milena angesehen hat, und den sie auf eine Weise verstand, die sie zugleich abstieß und faszinierte, lässt darauf schließen, dass die Persönlichkeit Wallers unter den Aspekten gelungene oder verpatzte Karriere nicht ausreichend beschrieben ist.

***

Ich fror so erbärmlich, dass ich den Taxifahrer bat, die Heizung hochzustellen. Es wurde sehr schnell warm im Auto, aber meine Knie hörten nicht auf zu zittern. Da wurde mir klar, dass es nicht nur die immer noch nassen Kleider waren, die mich frieren ließen. Es war etwas geschehen, etwas, das mich bedrohte, das ich aber nicht genau fassen konnte. Wovor fürchtete ich mich denn? Unsere Kanzlei war gut im Geschäft. Meine Arbeit als Anwältin machte mir Spaß. Ich hatte das Ansehen, das ich vor Jahren durch unüberlegte Handlungen verloren hatte, längst wiedergewonnen. Überhaupt waren die Kollegen von Anfang an, seit ich zum ersten Mal wieder vor Gericht erschienen war, außerordentlich freundlich zu mir gewesen. Sie waren, mein alter Freund und Gönner, Dr. Renner, hat es mir gesagt, natürlich auch neugierig, wie ich mit der unüblichen Kombination von Anwalts- und Ermittlungsbüro zurechtkommen würde. Einige von ihnen kannten Beringer noch aus der Zeit, als er bei der Kripo gearbeitet hatte. Sie hatten Respekt vor ihm. Und sie trauten mir nicht zu, mich gegen ihn durchzusetzen.

„Man kann sich nicht vorstellen, dass Beringer die Seite gewechselt hat“, hatte Renner gesagt. „Er hat sich immer korrekt verhalten, aber eben auf der anderen Seite.“

Ich habe nie Schwierigkeiten mit Beringer gehabt. Weder in der Arbeit noch privat. Gut, er hat sich von Anfang an ausbedungen, die Ergebnisse seiner Ermittlungen nicht selbst vor Gericht vortragen zu müssen. Er hielt das für unklug. Es würde die Staatsanwälte verunsichern und damit die Situation unserer Mandanten nicht gerade verbessern. Unsichere Staatsanwälte neigen dazu, höhere Strafen zu fordern, um ihre Autorität auf diese Weise wiederherzustellen. Für mich ist das nie ein Problem gewesen. Wenn es wirklich nötig war, vor Gericht den persönlichen Eindruck eines Ermittlers darzulegen, konnten wir auf Ronny zurückgreifen. Der Junge macht sich gut. Er hat sich in der Nähe der Beringer-Villa ein Zimmer genommen und begonnen, an den Vormittagen seine Schulabschlüsse nachzuholen. Einmal, kurz nach seinem Auszug von zu Hause, war seine Mutter in der Kanzlei erschienen: betrunken, aggressiv und sehr gewöhnlich. Beringer hat sie einfach hinausgeworfen. Wir haben sie nie wiedergesehen. Auch bei Ronny ist sie nicht mehr aufgetaucht. Beringer hat viel mit ihm zusammengearbeitet. Für Ronny ist er der große Zampano. Beringer hält ihn für begabt. Er sagt, es gebe zu viele Kripo-Beamte, die auch in jedem anderen Beamtenjob ihr Geld verdienen könnten. Jemand, der mit Intelligenz und Leidenschaft dabei sei, sei außerordentlich selten. Aber Ronny habe das Zeug dazu.

Ich glaube, es macht ihm Spaß, den Jungen anzuleiten. Das würde er nicht aufgeben. Er würde überhaupt nichts aufgeben. Nicht seine Arbeit. Nicht Ronny. Nicht mich.

Am wenigsten mich. Was fürchtete ich also?

So weit war ich gekommen, als das Taxi vor dem Haus hielt. Ich betrachte es noch immer als das Haus meiner Eltern, obwohl es inzwischen meiner Tochter gehört und ich bis an mein Lebensende darin Wohnrecht habe. Was ich, hoffentlich, nicht ausnutzen werde. Diese bürgerlichen Villen, die Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre gebaut wurden, haben einen ganz besonderen Charme. Sie strahlen etwas aus, das einen immer ein bisschen frieren lässt, finde ich. Obwohl wir mit diesem Haus noch Glück gehabt haben. Die Gegend, in der es steht, ist schön. Die Gärten sind groß, die Bäume sind alt, die Straßen sind ruhig. Unser Haus ist eines der wenigen neuen. Es fällt ein bisschen aus der Rolle wegen einiger Details, die typisch für den damaligen Baustil sind. Aber der alte Garten unterscheidet sich in nichts von den Gärten unserer Nachbarn.

Am Anfang hab ich gezögert, mit Tita in diese Gegend zu ziehen. Aber wir haben es beide nicht übers Herz gebracht, das Haus zu verkaufen.

Na gut, hab ich gedacht, dann wächst sie eben so auf wie ich. Hat’s mir geschadet?

Ich bin aus dem Taxi gestiegen und durch den Garten gelaufen, immer noch frierend und zitternd. Aber die Ruhe, die einen überkommt, wenn man das Gefühl hat, zu Hause angekommen zu sein, begann sich doch schon bemerkbar zu machen.

Xenia war da gewesen. Mit ihr hab ich Glück gehabt. Sie arbeitet selbstständig, liebt meine Tochter und ist zuverlässig. Es ist schön, in ein aufgeräumtes Zuhause zu kommen, Blumen vorzufinden und in der Küche das fertige Essen für die Tochter im Topf zu haben. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel, der mich daran erinnern sollte, dass Tita erst gegen Abend nach Hause kommen würde.

Ich liebe meine Tochter, aber ich war froh, allein sein zu können. Ich rannte ins Bad, ließ heißes Wasser in die Wanne laufen, holte das Telefon, zog mich aus und stürzte mich in die Fluten. Ich blieb still liegen und spürte die Wärme allmählich in meinen Körper zurückkehren. Muss ich sagen, dass die Wärme kam, aber die Unruhe blieb?

***

Waller hatte wohl damit gerechnet, dass Beringer sich Bedenkzeit ausbitten würde. Er wollte sie ihm gewähren. Aber sie sollte kurz sein. Er war angenehm überrascht gewesen, als Beringer so etwas überhaupt nicht ins Spiel gebracht hatte. Sie trafen sich am Abend desselben Tages noch einmal; diesmal um die näheren Einzelheiten des Auftrags zu besprechen, mit dem Beringer nach Kaliningrad reisen sollte. Als Treffpunkt hatte Waller ein Lokal in einer Vorstadtgegend vorgeschlagen, das Beringer nicht kannte. Als er dort ankam, wurde ihm klar, weshalb. Er stand vor einer unscheinbaren Kneipe in der Nähe eines Friedhofs. Tagsüber, so nahm er an, wären vermutlich Gäste am Tresen, die sich eine größere und teurere Trauerfeier, wie man sie in den Cafés oder Restaurants in der Nähe zelebrierte, nicht leisten konnten. Oder Trauernde, die als Einzige hinter einem Sarg hergegangen waren, einsam, ohne den, der da vor ihnen im Sarg lag, und die dann, ihre Einsamkeit zu betäuben suchend, an einem der Tische saßen und ihr Schnapsglas auf der Häkeldecke hin- und herschoben, bis der Wirt ein Einsehen hatte und ein paar Worte mit ihnen sprach.

„War wohl ein Freund von Ihnen?“, fragte der dann, oder, wenn der Trauernde danach aussah: „Die Mutter, was?“

Sicher waren fast alle dankbar und antworteten mit einem Wortschwall. Das kannte der Wirt bestimmt und hatte eine Technik entwickelt, den Mann reden zu lassen, bis sein Mitteilungsbedürfnis erschöpft war. Kleine Zwischenfragen etwa, wie: „Und die Ärzte?“

Oder: „Damit hat wohl niemand gerechnet?“

Oder: „Hat wohl nicht lange gedauert?“ Oder auch: „Hat wahrscheinlich lange gedauert?“

Bestimmt kommen keine Frauen in dies Lokal, dachte Beringer. Die trauern bei Kaffee und Kuchen.