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Joseph Zoderer

Lontano

Roman

Für meine Mutter und M.

Ein dritter Brief, den Mena schickte, warf ihn zurück in das Wiederhabenwollen, ein sehr selbstsicherer Brief, in dem sie ihn nicht mehr mit dem Schnurrbartnamen ansprach, hoffentlich, schrieb sie, bist Du nicht mehr im Spital und es geht Dir gut. Sie bat ihn, gleich seiner Mutter zu schreiben, dass sie, Mena, heil bei ihm angekommen sei, ja, am Weihnachtstag habe sie seine Mutter besucht. Zu Neujahr war ich in München, schrieb sie, mir geht’s sehr gut, habe auch schon etwas zugenommen, das heißt, ich wiege vierundfünfzig Kilo, Du brauchst Dich nicht im Geringsten um mich zu sorgen, und schreib mir, wenn Du vielleicht ein Resultat von Deinen Ärzten hast.

Sie hatten sich darauf geeinigt, seine Mutter im guten Glauben zu lassen, ihr wollten sie nicht weh tun. Und doch brachte ihn Menas Brief wieder durcheinander, er vermochte nicht zu fassen, dass sie ihm wie irgendeinem anderen Neuigkeiten mitteilte. Der selbstsichere Plauderton kam ihm vor wie ein Lossagen von der gemeinsamen Vergangenheit, er fragte sich, was daran auszusetzen sei, was er an ihrer Selbstsicherheit auszusetzen hätte, und er antwortete sich: nichts, absolut nichts, und war davon verstört, weil er ihr recht geben musste und doch noch bei ihr sein wollte, auch wenn sie schon ganz woanders war.

Vergessen Sie das alles, Sie haben nichts, absolut nichts, sagten sie ihm bei der letzten offiziellen Kontrolle in der Klinik. In der Tram hatte er die angeklebten Aufrufe an die Arbeitslosen gelesen, sich zum Schneeschaufeln zu melden, er brauchte Geld, zuletzt hatte er als freier Journalist gearbeitet, als freier Mitarbeiter einer Zeitung. Er wurde nicht entbehrt, und doch überkam ihn ein lähmendes Gefühl, wenn er nur daran dachte, wie er täglich aus dem Lift herausgetreten und über den Gang geschlichen war, ein Dieb, der sich Tag für Tag unter die festangestellten Profis gemischt hatte, immer inkompetent, immer uninteressiert an den Geschichten, die er ausschnüffeln sollte, er hatte sich an eine freistehende Schreibmaschine herangemacht und seine Storyzeilen zusammengemogelt. Er war ein perfekter Grüßer, er nickte und grüßte, er wusste, dass ihn keiner als Konkurrenten ansah, die besten Kontakte hatte er auf bedeutungslosen Pressekonferenzen geknüpft, wenn sich die Adabeis mit Aperitifs benebelten, und nicht anders war es auf den Redaktionsparties. In den Monaten vor Menas Auszug war es ihm zunehmend schwerer gefallen, irgendeiner Geschichte, deren Wichtigkeit er erst erfinden musste, nachzuhecheln, mit den Leuten zu reden, deren Pleite feststand, und sich von den Pleitegeiern gnädig einen Whisky eingießen zu lassen. Und zunehmend war es für ihn immer selbstverständlicher geworden, dass er mitten in einem Demonstrationszug marschierte und Slogans schrie, statt mit anderen Journalisten auf der Operntreppe mit Notizblock und Kugelschreiber zu stehen und festzuhalten, warum es angeblich notwendig war, dass die Polizei mit Knüppeln und Tränengas eingriff. Es muss sich was ändern, hatte er zu Mena gesagt und war am Nachmittag nicht mehr in die Redaktion gefahren, sondern hatte sich mit den Freunden am Schillerplatz getroffen, während sie zu Hause das Kleid nähte für eine füllige Kundin.

Er musste ernstlich an Geld denken, nachdem er am Morgen seine letzten Schillinge auf den Obst- und Gemischtwarenmarkt getragen hatte. Er ging zur Arbeitsvermittlung, aber als er vor dem Schalter stand, las er auf dem Anschlagezettel neben der Schalteröffnung, dass für eine Arbeitsvermittlung die Gebühr von zehn Schillingen zu entrichten sei, also drehte er sich um und ging, fast glücklich darüber, dass er die zehn Schillinge nicht hatte. Darin waren Mena und er immer einig gewesen, dass Geld für sie nur zum Essen und Trinken und zum Reisen wichtig war, sie hatten ihren Koffer an einem Sonntagvormittag durch halb Paris geschleppt, weil sie außer den Rückfahrkarten nicht einmal genug Münzen für die Metro hatten. Den Nachmittag brachten sie im Wartesaal zu mit der Bewachung des Koffers, der Koffer zwang sie, nacheinander und nie gemeinsam die Häuserblöcke um den Bahnhof zu umrunden, was sie noch am Abend, als der Zug abfuhr, so zum Lachen reizte, dass er lange Zeit nicht imstande war, den Koffer ins Gepäcknetz hinaufzustemmen. Und dies alles nun weggewischt, vergessen, ausgelöscht. In Wutanfällen schrie er ihr noch immer Vorwurfslitaneien ins Ungewisse nach. Ja, ich habe Hanna geliebt und ich habe Ursula geliebt und ich habe mit Irmgard geschlafen, und wie ist es mit dir, Heilige? Er verkaufte einen Akt, den einer seiner Freunde gemalt und ihm geschenkt hatte, und überquerte mit zweitausend Schillingen den vereisten Schneebelag des Schillerplatzes. Er wollte sich berühren lassen, ganz gleich, ob dieses Mädchen, das ihn berühren würde, quallig oder spindeldürr war. In der Mensa der Akademie trank er einige Flaschen Bier, auf den Tischen standen leere Flaschen herum, der oft so laute, überfüllte Saal war heute fast leer, nur da und dort hockte jemand an einem Tisch. In Abständen ging ein Flügel der Tür auf und zu, Gesichter kamen und verschwanden, an seinem Tisch blieb er nicht allein, zwei Mädchen setzten sich ans andere Ende, und obwohl er sich nicht mehr erinnern konnte, wie er mit ihnen zu reden angefangen hatte, wusste er noch, dass er gedacht hatte: Sie ist es, aber sie interessiert mich nicht, weder ihr Äußeres noch ihr Inneres, Fleisch, Haare, Brille, nein, nicht ganz so, sie hatte gewelltes schwarzes Haar, halblang, beinahe lockig, sie schien neugierig zu sein, er sah auf ihre großen kurzsichtigen Augen. Sie trank in langsamen Schlucken Tee, er hatte ihre kurzen Fingernägel gesehen, als sie den papierenen Teebeutel aus ihrer Tasse fischte. Mehr als ihr Gesicht blieben ihm die vielen leeren Tische in Erinnerung, pausenlos hatte er auf sie und ihre Freundin eingeredet und von allem Möglichen gesprochen, vom Stundenlohn der Schneeschaufler und von John Steinbecks Tortilla Flat, von Flugpreisen und eigentlich von allem, alles ist Politik, hatte er gesagt und auf stichhaltige Zweifel gehofft, die die seinen, die er allerdings nicht für stichhaltig hielt, hätten bestärken können. Vielleicht trug sie hellblaue Jeans und eine mantellange Strickweste. Er roch nicht ihren Atem, auch nicht in dem Weinkeller, in dem sie ihm sagte, dass sie sich noch bei keinem Fremden so wohl gefühlt habe wie bei ihm. Er sog das Gemisch aus Moder und Ziegelnässe, Weindunst und Zigarettenschmauch ein, es reizte ihn, mit den Fingernägeln an den Mauern zu kratzen, zwei Stockwerke unter dem Asphalt. Er scharrte mit einer Schuhspitze über die glitschige Kellererde und neigte ihr die Stirn zu, und indem er die Unterlippe über die Oberlippe stülpte und gleichzeitig die Wangen zu einem Lachen breitzog und seine Augen zusammenkniff, konnte es hier zwischen den nassen Trägersäulen und dem auf ihrem Tischchen flackernden Kerzenlicht so scheinen, als sei er glücklich und traurig zugleich, jedenfalls sagte er kein einziges Wort.

Durch das Einbahnnetz gelangten sie über den Donaukanal und über den Praterstern zu seinem Häuserblock und in den neunten Stock. Sie setzte ihre Winterschuhe auf den mazedonischen Läufer, und er streichelte ihr Haar und hakelte ihre Brille ab. Auf dem straffgepolsterten Klappbett berührte er ihre bleiche Haut wie ein vorsichtiger Chirurg, er wollte sie nicht verletzen, sie war keineswegs erschrocken, aber auch nicht raffiniert, und doch war sie viel stärker als er, sie durchschaute ihn und lief nicht davon, er verlor seine Verkopftheit und wurde skrupellos wie ein Komplize, zusammengebuckelt kniete er über ihr auf diesem blauen Bett, zeitweilig drückte seine Stirn gegen ihren Cowboyhut, sie war dahergekommen mit dieser schwarzweißgefleckten Kuhhaut auf dem Kopf, und er hatte sie, während sie aus der Strumpfhose schlüpfte, gebeten, den Cowboyhut nicht abzunehmen. Später lag er mit einer Schläfe auf ihrem weichen Bauch, und sie verstand nicht gleich, was er in ihr Fleisch hineinnuschelte, erst allmählich spürte er an der Arbeit ihrer Fingernägel, die sich in seine Haare krallten bis zur Kopfhaut durch, dass sie den Abflugtermin verstanden hatte, die genaue Uhrzeit seines Abfluges, sie riss an seinen Schläfenhaaren, und er versuchte sie zu beruhigen mit sanft streichender Zunge, Krista, sagte er und nannte ihr auf die Minute die Ankunftszeit in New York.

Er hätte schon einen Flug für die übernächste Woche haben können, einen Charterflug, dreißig Schneeschauflernächte bei Hunger und Durst und du kannst über das Große Wasser fliegen, verschnürt mit Sicherheitsgurten und verwöhnt mit vorgekochten Fleischhappen und Fruchtsaft. Ihn erregte die Schnelligkeit, mit der er seine Nacht- und Straßenträume wahr machen konnte, und doch suchte er unwillkürlich nach Bremsmechanismen, er konzentrierte sich auf Verzögerungsgründe, auf Möglichkeiten, das eine vor sich und das andere hinter sich noch immer haben zu können. Er schickte sogar diesen einzigen Brief an Mena, schrieb, dass er der Mutter geschrieben habe, dass sie, Mena, wohlbehalten bei ihm eingetroffen sei, er genoss es, diese mit ihr vereinbarte Lüge hervorzuheben. Es war ein ausgeklügelt sachlicher Brief, dessen Unterton sie anrühren sollte. Er sei aus dem Spital entlassen, habe nichts gehabt, nichts von dem verschiedentlich Befürchteten. Das ist das eine, schrieb er, das andere ist, dass ich nach Amerika fliege. Diesen Brief kopierte er für sich, und er war nicht einmal sicher, ob es gut war, das Geschriebene abzusenden.

Er goss von Zeit zu Zeit eine Tasse Tee in den Topf des Gummibaumes, und wenn es auf seinen Speichel angekommen wäre, hätte er die Sanseverien zu Tode gespuckt. Zwischendurch war er selbst wie begossen von dem Gefühl, verlassen zu sein, praktisch vogelfrei, er lief herum, sich anzubieten. Wenn er sich nicht mit Krista traf oder mit Edi und Schorsch, stand er in Kellern herum, am Rande der spiegelnden Tanzfläche, unter zuckenden Regenbogenspots, ringsum hockten oder lehnten Paare und Einzelne, kaum auszumachen, an den Wänden. Über dem Tanzpodium blitzte es gelbrotblau, man tanzte um den anderen oder vor den anderen, vergaß ihn oder tanzte seine Gefühle für ihn heraus; er fand keinen Sinn darin, jemanden anzusprechen, und so tanzte er manchmal allein und wie wild am Rande der Plattform.

In seiner Wohnung wanderte er über die Parkettbrettchen, über die sich verfilzenden Teppiche, er ließ sich von Krista berühren und behielt eine glatte Haut, er hätte sogar liebenswert sein können, aber sein Blick war nicht harmlos genug.

Der Wagen war verkauft, das Geld lag auf dem Konto, auf seinem und ihrem Namen. Ich freue mich, dass Du Dich entschlossen hast, bitte, verstehe mich richtig, antwortete Mena auf seinen Brief, ich freue mich, weil Du etwas ganz Neues erleben wirst, und ein wenig macht es mich traurig, dass ich es nicht miterleben kann, doch wer weiß, vielleicht komme ich nach, nur jetzt ist es nicht möglich, auch wenn ich wollte, könnte ich jetzt nicht mit Dir fliegen, aber Du wirst mir einmal davon erzählen, denn ich denke nicht, dass Du mit dem Gedanken wegfährst, nicht mehr zu kommen. Und er dachte, ich fliege, und du fliegst nicht.

Es musste in diesen Tagen gewesen sein, früh am Abend, Krista war bei ihm, sie lagen auf dem Klappbett, als es an der Wohnungstür läutete. Er holte den Schlafmantel aus dem Bad, schlappte in den Vorraum und nahm durch den Türspalt einen Eilbrief entgegen. Im Zimmer streifte er den Mantel ab und legte sich wieder auf das Bett. Das Kuvert war mit drei Sondermarken der Alpinen Skiweltmeisterschaften in Gröden frankiert, er betrachtete die in helldunklem Blau und eingesprengtem Rot stilisiert dargestellten Dolomiten und ließ sich und Krista Zeit, ehe er mit dem Zeigefinger den Brief aufschlitzte. Sei mir nicht böse, schrieb seine Schwester, wenn ich Dir erst jetzt schreibe, aber leider hat das Jahr ziemlich schlecht angefangen. Mama ist schon vier Wochen im Spital, zuerst mit Lungenentzündung und dann mit Rippenfellentzündung, das heißt, mit beidem zugleich, sie hat das alles überstanden, jetzt ist jedoch etwas Schlimmeres dazugekommen, man hat sie von der Medizinischen in die Chirurgische verlegt, wahrscheinlich wird sie operiert, auch wenn ohne Aussicht auf Besserung, also glaube ich, es ist besser, Du kommst auf einen Sprung zu ihr. Sie ist schon sehr mager, achtunddreißig Kilo, momentan wird sie mit Flebo behandelt, also schau, wie und wann Du kommen kannst.

Als Krista gegangen war, versuchte er, auf den Sondermarken die Randschrift zu entziffern, die von zwei Stempeln überdeckt war, Campionati del Mondo Alpino, zwischen dem Absenderstempel und dem Ankunftsstempel waren ein Tag und vier Stunden vergangen. Er hätte nicht sagen können, warum, aber er sah seine Mutter ohne Humpelschritt vor sich, kurz vor der Hauptbrücke des Flusses, wie sie ihm, der in Sandalen nach der Aufnahmeprüfung ins Gymnasium heimwärtsschlappelte, unerwartet zwischen den drängelnden Menschen auf dem Trottoir entgegenkam, schon von weitem sah er, dass ihn auch seine Mutter sah, und mitten unter den vielen, in beide Richtungen drängenden fremden Menschen hörte er sie fragen: Ist es gutgegangen?

Als er zum ersten Mal mit Mena in seine Geburtsstadt gekommen war, um Mena herzuzeigen und ihr seine Heimat zu zeigen, diese giftbesprühte zweisprachige Äpfel- und Weingegend, wohnte seine jüngere Schwester mit ihrer Familie und der Mutter in einem kleinen gemieteten Haus, nicht weit vom Fluss und der Eisenbahnbrücke, an der sich, wenn die Schranken niedergingen, mehrmals am Tage der Verkehr staute. Seine Mutter, die damals schon alles anlächelte, was er anlächelte, war auf Mena zugehinkt und hatte einen Arm um ihren Hals gelegt und den Kopf zu ihrem Gesicht heruntergezogen. Sie bewegte sich geschickt nur noch mit dieser einen Krücke unter der rechten Achselhöhle. Er fühlte sich so sehr angekommen daheim, dass er Maurizio, den Mann seiner Schwester, in dessen eigener Wohnung wie einen Gast behandelte, er war froh, dass seine Mutter, die in einer Gehschule hatte wieder gehen lernen müssen, so munter mit einer einzigen Krücke auskam, aber er hätte sie auch getätschelt, wenn sie auf zwei Krücken auf ihn zugekommen wäre, und auch Mena musste sich nicht verstellen. Sie saßen um den Tisch in der Wohnküchenecke und wickelten Spaghetti auf die Gabeln, Maurizio rieb Parmesankäse und rief von Zeit zu Zeit in seinem paduanischen Dialekt, manja manja und bevvi bevvi, und immer wieder füllte er die Gläser mit Wein nach. Die Mutter beobachtete alles mit vergnügten Augen. Es war leicht, mit ihr, und es war leicht, mit Mena auszukommen. Mena nähte ihr eine Schürze und später zu jedem Besuch ein Kleid, er kaufte Bonbonnieren. Er glaube, sagte er zu Mena, seine Mutter spüre, dass sie wie etwas Unwichtiges geliebt werde und deshalb wichtig sei. Er winkelte seinen Arm, und seine Mutter hängte ihre Hand in diese Schlaufe, er spazierte mit ihr und Mena zur Passerpromenade, sie gingen der sprudeligen Strömung entgegen, die linke Uferseite aufwärts, am Postamt vorbei und über die Kreuzung, mitten durch Urlauberpaare und Urlaubergruppen hindurch, die pietätvoll sich teilten. Die Mutter trug ein Wollkleid, das Mena geschneidert hatte, er genierte sich vor diesen fremden Leuten, genierte sich neben dem Zufriedenheitsgesicht seiner Mutter, genierte sich wegen dieses kurzbeinigen Gehschritts, der ihm abverlangt wurde. Er kannte kaum jemanden in seiner Geburtsstadt, in der er immer nur zu Besuch war seiner Mutter wegen, und trotzdem konnte er keinen Schritt tun, ohne diesen Schritt wie fotografiert und sich selbst von allen Seiten beobachtet zu fühlen. Seine Mutter redete zu ihm, zu seinem Gesicht herauf, er sah ihren verschmitzten Blick, sie schaute ihn fast kokett oder zumindest übermütig an, als wollte sie sagen: Wir zwei sind ein schönes Paar, und er zerrte sie mehr voran, als dass er mit ihr irgendetwas gemeinsam gedacht, gesehen oder gesprochen hätte, er zerrte sie zum Ende des Spazierganges hin, sein Besuch musste erledigt werden, und so bemühte er sich um einen gelassenen Schritt, und sie versuchte, ebenso vergeblich, ihren Humpelschritt seiner nervösen Gangart anzupassen.

Speck oder Kuchen? fragte er, magst du eine Schwarzwälderschnitte? fragte Mena seine Mutter, oder ein Stück von der Nusstorte oder eine Cremeschnitte? Er suchte immer einen Fensterplatz aus, am liebsten fuhr er in Richtung Fragsburg und parkte auf halbem Wege vor einer Jausenstation mit Holzveranda, er stellte den Wagen unter einen Baum, und die Mutter ließ sich schelmisch zwinkernd aus dem Autofond ziehen, gerne hakte sie sich bei Mena ein, er ging in einigem Abstand daneben her oder verkürzte seine Schritte und scharrte hinter ihnen im Kies. Über der Stadt brütete die Sommerhitze, er freute sich auf fast alles, was hier nicht sein konnte, vor allem auf den Abend, den Mena und er wieder in Stefans Glasveranda verbringen würden. Er starrte durch das Fensterglas hinunter auf die Stadt, von der er nur die Ränder sehen konnte, Neubauten, Reihenhäuser, immer flacher werdende blassrote Dächer. Seine Mutter liebte Erdbeerschnitten mit Schlagobers oder Cremetorte, aber sie ließen auch eine Speckplatte auftragen und dazu roten Küchelberger, und je mehr er trank, desto bereitwilliger wurde er, seine Mutter in die Welt einzubeziehen, aus der er sie schon immer ausgeschlossen hatte, er schwärmte ihr von den Edelkastanien vor und den Nussbäumen, die er pflanzen würde rund um das Haus, das er kaufen wollte auf einem Hügel, wo sie würde schalten und walten können nach ihrem Herzen. Es war dann, als hätten sie dies schon alles, und sie kamen auf den toten Vater zu sprechen und redeten von ihm, als hätten sie ihm Haus und Hügel auf irgendeine Weise vorenthalten, als hätte er erst jetzt mit ihnen ein erträgliches Leben leben können, bei Speck und Wein und Cremeschnitten. Da wurde ihm die Mutter fast wieder vertraut, fast wie sein Freund unten in der Glasveranda, und Mena plauderte und tratschte mit ihr in dem ihr fremden Dialekt, sie tat so, als sei seine Sprache ihre Sprache, und er hörte jeden falschen Ton, jeden falsch herausgekehlten Konsonanten und sagte Mena nichts davon, sagte ihr nicht, dass sich alles so anhörte, als wollte sie die Mutter und ihn ausspötteln mit dieser Hemdsärmelsprache.

Sei mir nicht böse, schrieb seine Schwester, wenn ich Dir erst jetzt schreibe, aber leider. Mit dem Handrücken streifte er an der Wand entlang, und in der Küche hob er den Deckel eines Steinguttiegels und sog den Duft der Gewürznelken ein. Seine Schwester schrieb: Es ist besser, Du kommst auf einen Sprung, und er telegrafierte: Ich komme. Für den Abend erwartete er Schorsch und Edi, und am nächsten Tag wollte er sich die Avantgarde-Retrospektive ansehen, die nur mehr ein paar Tage gezeigt wurde. Er musste auf die Ausstellung verzichten, aber er sah sich mit seinen Freunden einen Bergman-Film an und ließ sich von Schorsch zum Mitternachtszug bringen. Und so war er in die Stadt zurückgefahren, in der seine Mutter ihm dieses Leben vermacht und er ihr eine schönere Zukunft vorgemacht hatte. Er ging durch das Tor, durch das sie ihn drei Tage nach seiner Geburt hinausgetragen hatte, er ging über den neuaufgeworfenen Kies, vorbei an den noch unbepflanzten Blumenbeeten, es war Anfang Februar.

Die Glastüren des Hauptgebäudes öffneten sich vor ihm, und er stieg durch das Duftgemisch von Desinfektions- und Betäubungsmitteln hinauf über die Steintreppen zur Chirurgie, er suchte in den weißen Korridoren nach der Nummer ihres Zimmers und öffnete die Tür Nr. 8, die Polstertür rechts vor der Geburtenabteilung. Er spürte keine Verlegenheit, als er das schmale Zimmer mit drei Betten auf der einen Seite und der nackten Wand auf der anderen betrat. Er ließ sich von der hochgehobenen Hand der Mutter herunterziehen und berührte mit seinen Lippen einige Stellen an ihrem Kopf, ihre Wangen, die Stirn, bestimmt nicht ihren Mund. Mit ihrer knochigen kleinen Hand hielt sie ihn fest, es war wohl die rechte, deren Gelenk schon immer steif gewesen war, seit sie damit, wie sie öfters erzählt hatte, auf dem Lagerplatz ihres Vaters, eines Holz- und Viehhändlers, als Kind beim Spielen unter einen rollenden Baumstamm geraten war. Er nahm diese Hand sehr behutsam, umschloss sie leicht mit beiden Händen, so dass die Finger in dieser Höhle zu krabbeln anfingen, während er auf das Gesicht der Mutter hinunterschaute, später rieb er über die schrundige Haut ihrer Hand, ich fliege nach Amerika, gleich hatte er es ihr wohl nicht gesagt. Ihr Bett war das erste rechts hinter der Tür, auch sie lag in einer Ecke, zu ihrer Linken hatte sie ein Waschbecken und darüber einen Spiegel, er sah sehr oft in diesen Spiegel, während er auf der anderen Seite ihres Bettes stand, sah das Fenster in seinem Rücken am Ende des Zimmers und davor die Hälfte einer blattlosen Baumkrone. Das obere Leintuch, das die Mutter über die Bettdecke geschlagen hatte, war zerknittert, er starrte auf einen länglichen gelbroten Fleck, einen Spaghettifleck. Er hatte seine Hand in ihrer Hand ruhen lassen und eigentlich nichts wahrnehmen wollen, er hatte es für sinnlos gehalten, ihr zu erzählen, wie für ihn ein Tag jetzt ablief, nichts von Menas Weggehen hatte er gesagt, nichts von der Hautklinik, er erzählte ihr von seiner Katze, die den Besuchern, kaum seien sie hinter der Wohnungstür, ins Genick springe, und lachte mit ihr über den Schrecken der Besucher.

Das Zimmer war mit einem ölig glänzenden Weiß ausgepinselt, ihm wurde die weiße Wandfarbe bewusst, als er eine Hand auf die mattgrüne Kunstfaserplatte ihres Bettkästchens abstützte. Ich habe Menas Gefühle abgeschabt wie auf einem Reibeisen, dachte er und schaute auf das Nachbarbett, ich habe alles zerkleinert, alles immer kleiner gemacht. Das Bett neben Mutters Bett war leer, nur in der Ecke zum Fenster stand ein Paravent, eine zusammenschiebbare Plastikwand, die Mutters einzige Zimmergenossin vor Blicken schützte. Die erlebt nicht mehr den Sommer, flüsterte die Mutter in sein heruntergebeugtes Ohr, siebzig, sagte sie, und er dachte, sie, meine Mutter, ist zwei Jahre älter.