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Jeannine Meighörner

Das fliehende Herz

Sisis Schicksalstage in Tirol
Ein historischer Roman

„Es gibt keine bösen Menschen – nur unglückliche.“

Felix Mitterer

I.

Innsbruck, 15. Juni 1848, im Adeligen Damenstift vor dem Morgengrauen

Noch schläft die Stadt, noch sind die Augen der Häuser geschlossen.

Moment! Dort huscht eine Gestalt durch ein Stiegenhaus – blind für die Ornamentik des Geländers, die Beschwingtheit des Treppenstocks. Die Kapuze eines Capes verhüllt das Gesicht und das Wesen setzt seine Schritte in die Dunkelheit. Erstaunlich trittsicher, eigentlich …

Vor den Mauern des herrschaftlichen Gebäudes gerät nichts weniger als die Welt aus den Fugen. Nur gut, dass diese Mauern dick sind. Was stört sie eine Zeiten­wende, was stört sie all die Unordnung draußen in der Welt? Und bitte, was soll das sein: eine Revolution?

Zudem ist das Schattenwesen – und dies sehr leidenschaftlich – in sein eigenes kleines Ungemach verstrickt. So ist es nun einmal bei uns Menschen.

„Ich bin verflucht! Da schläft selbst der Hahn noch, und ich soll den Teufel suchen? Der frühe Vogel fängt vielleicht den Wurm, aber niemals den Teufel! Der Teufel soll zum Teufel gehen“, schimpft es unter der Kapuze.

„Halt! Wer da? Zeig dein Gesicht!“, tönt es aus dem Foyer. Es gleicht einem See aus nachtblauer Tinte, und diese Donnerstimme gehört bestimmt dem Meister der Dunkelheit.

Die verhüllte Gestalt zuckt zusammen. Stiefelschritte pochen auf Steinstufen, ein Docht glimmt auf, in seinem Schein blitzt eine Klinge metallisch. Sie ist auf unsere Gestalt gerichtet.

„Willst du mich abstechen? Abstechen wie eine Sau?“, kreischt es unter der Kapuze. Sie wird heruntergerissen, das Licht einer Laterne erhellt schreck­geweitete Augen.

Es ist das Gesicht eines Mädchens.

„Ha! Schau an, die Pauline schleicht wieder durch die Nacht! Ja, ja, die Katz lässt das Mausen nicht.“ Die männliche Stimme ist voll vom Triumph der geglückten Überraschung, und doch schwingt in ihr ein erheiterter Singsang. Der Wächter trägt einen rötlichen Bart, er reicht ihm bis auf die Brust, im Lichtkegel der Laterne flackert er wie ein brennender Dornbusch. Ein dunkler Umhang und ein gefilzter Schlapphut verraten jedoch, dass diese eindrückliche Erscheinung lieber ungesehen die Nacht durchstreift.

„Schleich dich, du Glühwurm! Fang lieber Räuber, als Frauenzimmer zu erschrecken!“, zetert das Mädchen selbstbewusst und will sich an dem kolossalen Kerl vorbeidrängen. Der richtet energisch den Spieß seiner Hellebarde auf sie.

„Pauline mit dem Schandmaul. Nachtschwärmen ist dir verboten. Ich bin hier der Nachtwächter!“

„Ach Sepp, du Depp. Ein Auftrag jagt mich aus dem Bett“, widerspricht das Mädchen und winkt ab.

„Bist wieder einmal im falschen gelegen? Wir Nachtwächter kennen eure Geheimnisse. Wir lesen die Dunkelheit, spüren jeden Hauch, erschnuppern jeden Duft. Eure Schatten sind unsere Verbündeten. Wir kennen die Taten der Sünder, ja, selbst die Sehnsüchte der Aufrechten …“

„Bei dir steht nichts mehr aufrecht“, unterbricht Pauline. „Und einen Dreck weißt du. Ich suche den Teufel!“

„Pauline, mir graust vor dir!“ Sepp leuchtet mit seiner Laterne erneut in das schmale Gesicht.

„Dir graust es? Vor mir? Schau …“ Sie gurrt plötzlich und löst ihre hochgesteckten blonden Zöpfe, sie sinken ihr auf die Brust. Dann öffnet sie ihr Cape, reckt ihr Dekolletee in die Richtung des Betrachters, stemmt die Fäuste in ihre Taille und lässt die Hüften kreisen, als sei die graue Tracht der Dienstboten ein Tanzkleid.

Als wäre dies noch nicht genug, um einen Mann zu verwirren, singt sie mit leiser Stimme.

„Ein Täubchen? Ha! Die ist ein Habicht“, murmelt Sepp. Dann lehnt er seine Hellebarde an das Geländer und platziert die Laterne auf einem Treppenabsatz – und zwar genau so, dass der Lichtkegel Paulines entblößte Knöchel und Waden beleuchtet. Versonnen zupft er an seinem Bart, während sie weiter Tanzschritte andeutet – begleitet vom Lied des Papageno aus ihrem Mund.

Plötzlich strauchelt sie und rudert wirr mit den Armen. Sepp fängt sie auf, einen Sturz in die Tiefe vermeidend.

„Mir’s schwindelig, ’s is noch zu früh“, japst sie.

„Ich kann dir den Vogelhändler machen“, säuselt Sepp und hält die Gerettete in seinen Armen.

„Du rotbärtiger Saufkopf? Bäääh!“ Angewidert verzieht sie den Mund, verpasst Sepp mit dem Ellenbogen einen Knuff und entwindet sich seiner Umarmung.

Der Traktierte fasst sich stöhnend an die Rippen. Nächte ohne Schlaf, die Kälte der Berge und wärmender Schnaps benagen seine Statur. Doch wenn er die Sterne erblickt, die nur im Gebirge so rein und so zahlreich aufblitzen, und beobachtet, wie das Morgenrot die Spitzen der Nordkette und die der Serles vergoldet, dann erscheint ihm sein schweres Amt als das schönste auf der Welt.

Doch nun hält er Pauline eine Faust vors Gesicht. Vor ihrer Nase – eine entzückende Stupsnase, die sie gerne rümpft und in fremde Angelegenheiten steckt – schwebt eine riesige, geballte Männerhand.

„Riech mal daran!“ So von unten beleuchtet gerät die Szene zum Kriminalstück.

„Igitt, mir reicht’s, deinen Atem zu riechen. Und dein Bart stinkt nach Ziegenbock. Ein Bock, der Branntwein säuft“, ächzt sie und deutet ein Würgen an.

„Dass eine wie du so dreist ist! So eine Dahergelaufene aus dem Schmirntal. Gott sei Dank hat der Schöpfer dich hübsch gemacht. Sonst …“

„Sonst was?“, zischt Pauline angriffslustig.

„Sonst würd dich der Teufel holen, du Berghexe.“

„Dummer Ziegenbock, ich suche den Teufel! Ich!“

„Lüg nicht, du kommst von einem Mannsbild. Soll dich der Ziegenbock untersuchen? Ich darf alles Verdächtige untersuchen – auch Frauenzimmer. Ha!“

Sepp zieht an einem von Paulines Zöpfen, wenn auch eher sanft und zum Spaß. Sie wiederum tritt ihm ohne Sanftmut auf die Zehen. Er heult auf und lässt von ihr ab.

„Du Tollpatsch, geh heim zu deiner Frau!“, muss er sich anhören, dabei stolpert er über den Holzschaft seiner Hellebarde. Unter lautem Gepolter rutscht sie die Steinstufen hinab.

„Sauvolk! Gleich rufe ich die Wache!“, kreischt eine Frauenstimme aus dem Obergeschoß. Und dann: „Pauline, bist du das?“

Sepp packt die Gescholtene am Handgelenk und zerrt sie hinab in das dunkle Foyer, dort schiebt er sie unter den Treppenstock. Dann schleicht er auf Zehenspitzen die Stufen wieder hinauf und löscht das Licht. Er, der gelernt hat, die Dunkelheit zu lesen, bringt die Laterne in das Versteck zu einer verstörten Pauline.

„Nun ist auch die alte Meindl wach, die Kammerzofe. Sepp, du musst mir helfen!“, jammert sie.

Er entzündet die Laterne auf kleiner Flamme. „Sonst was?“, brummt er, während er mit dem Docht hantiert.

„Sonst schickt sie mich heim zur Mutter. So hoch am Berg hockt die Not mit am Tisch. Acht Geschwister hab ich, und bei jedem Besuch greint ein neuer Fresser in der engen Stube. Die Meindl schert das nicht, sie ist eine G’stopfte aus der Stadt. Du weißt ja, wie hochnäsig manche Innsbrucker tun. Für die sind wir Schmeißfliegen vom Land.“

„Schickt dich nicht die Meindl nach dem Teufel?“

Pauline schüttelt den Kopf.

„Dabei hockt der Beelzebub doch bei der Giftspritz’n unterm Rock!“, kichert Sepp. „Sag schon, wer hat dir den Auftrag gegeben?“ Er packt Pauline am Arm.

„Ein Kind“, sagt sie kleinlaut.

„Du lässt dir von einem Kind befehlen? Du Berghexe mit Haaren auf den Zähnen?“ Sepp wird laut.

„Pscht!“ Pauline legt einen Finger auf ihre Lippen. „Das Kind ist eine Herzogin, und sie war hysterisch“, flüstert sie.

„Wieso wohnt die nicht in der Hofburg, sondern nächtigt im Damenstift?“

„Für die Hofburg sind diese Leute nicht fein genug.“

„Und so eine jagt dich herum?“

„Lieber Sepp, ein guter Nachtwächter wie du, der findet doch auch Teufel?“ Pauline schmiegt sich an Sepps breite Brust, wendet dabei jedoch den Kopf ab und hält sich mit zwei Fingern einer Hand die Nase zu.

„Falsche Schlange du, den Leibhaftigen suche ich nicht.“ Sepp schubst Pauline von sich und bekreuzigt sich.

„Wir suchen ja eine Teufelin.“

„Eine Teufelin? Hat der Teufel ein Weib? Wohl, wohl … es ist die Meinige!“ Er bekreuzigt sich erneut.

„Hör mir zu, ein Weibsstück suche ich. Die jüngste dieser Herzoginnen aus München“, räumt sie ein.

„Münchner Teufelsbrut? Bayern? Die muss man vom Berg stoßen! Frag den Hofer!“

„Herrje, lass mich mit dem Hofer in Ruh. Lass den besser in seiner Marmorgruft“, stöhnt Pauline.

„Die Teufelsbrut fürchtet sich eh und kriecht bald weinend zurück ins Bett. So sind sie, die Bayern“, knurrt er.

„Sepp, das ist kein gewöhnliches Mädchen. Es ist erst im elften Jahr, heckt aber wilde Streiche aus. Bubenstreiche. Stell dir vor, sie hat mir eine tote Eidechse ins Schnäuztuch getan. Mit ist fast das Herz stehengeblieben, wie ich mich geschnäuzt hab. Und ihre Füße hält sie nicht still. Ein Gerenne und Gepolter ist das! Und daherreden tut die wie ein bayrischer Bierkutscher! Dabei nuschelt sie auch noch.“

Pauline wirft beschwörend die Arme in die Luft. „Hat dieses Volk keine Erziehung?“

„Frag halt den Hofer!“, raunzt Sepp.

„Du und dein Hofer, papperlapapp! Weißt du nichts Gescheites?“

„Deine Herrschaft war ja auch nicht gescheit, als sie die Teufelsbrut ins Damenstift gebracht hat. Gerade dort, wo diese steinalten Weiber …“

Pauline versetzt Sepp einen Knuff.

„… Damen“, korrigiert er sich, „wie Porzellanpuppen herumhocken oder Schläfchen machen. Mitten im Gebet schlafen sie ein …“

„Gott sei Dank hören die meisten Damen schlecht“, unterbricht Pauline. „Denn dieses wilde Kind hat etwas Unglaubliches gesagt. So etwas darf eine Dame nicht einmal denken!“ Pauline zieht ihre graue Stoffschürze vors Gesicht.

Sepp zuckt mit den Schultern. „Mir kannst du’s verraten.“

Pauline jedoch verharrt schweigend in ihrer Pose.

„Ich lach auch nie mehr über das Schmirntal“, sagt Sepp plötzlich zuckersüß, tritt dabei jedoch ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

„Du kommst ja selbst nur aus der Koatlackn. Aus der schmutzigsten Stelle des Inn hat man dich gezogen. Aus dem Dreckwasser!“ Pauline lässt die Schürze sinken und streckt Sepp die Zunge heraus.

„Immer noch besser als …“, murmelt Sepp.

Pauline verhüllt erneut ihr Gesicht.

Er besinnt sich und sinkt auf die Knie – seinen Kopf an ihren Schoß pressend. Als sie abrupt zurücktritt, strauchelt er und kippt mit dem Oberkörper vorn­über.

„Prinzessin Pauline, geboren im Atem des ewigen Schnees. Was hat die Bayrische gesagt?“, ächzt er auf seine Ellbogen gestützt.

„Wer sagt, nur Weiber seien neugierig, der kennt dich nicht.“ Sie stellt Sepp einen Fuß auf den Rücken.

„Kruzifix, ich bin Nachtwächter! Muss alles sehen, alles hören, alles wissen. Von bayrischem Gesindel sowieso.“ Sepp beherrscht sich nur mit Not. „Werte Schneeprinzessin Pauline, biiiitte!“

„Versprich mir, mich in Ruhe zu lassen, wenn ich nachts umherschweife.“

„Umherschweife? Bist du ein Nachtfalter? Mit Burschen triffst du dich!“

„Mit einem feinen Herrn“, gibt Pauline kokett zurück.

„Unterschätze keinen Nachtwächter. Mich dumm stellen, das fällt mir leicht.“

„Das merkt man.“ Sie tritt nach Sepp, der sich aufrappelt.

„Hüte dich, sonst verrat ich dich. Deine Kavaliere umfassen eine ganze Kompanie! Und Kammer­zofen lieben Beichten. Selbst die Porzellanpuppen im Damen­stift lieben sündige Geschichten, auch wenn sie davon in Ohnmacht fallen – nur so zum Schein.“ Sepp steht wieder auf zwei Beinen und reibt sich verschwörerisch die Hände.

Pauline stampft zornig mit einem Fuß. „Na gut, du neugieriger Bock“, schnaubt sie. „Das bayrische Kind sagt, es möchte im Zirkus auftreten!“

„Im Zirkus?“ Sepp beißt sich in den Handrücken – ein Lachen unterdrückend.

„Wo es im Zirkus nur schamlose Weiber gibt! Amüsierweiber. Dann behauptet die Bayrische noch, ihr Vater träte im Zirkus auf. Seinem eigenen Zirkus!“

„Maria und Jesus! Solche Leute sind niemals von Adel!“, entfährt es Sepp.

„Diese Bayrische sieht auch anders aus. Hat dunkle Augen und einen Zopf, lang und dick wie der Schweif eines Rappen.“ Pauline schmiegt sich an Sepp. „Sicher Zigeuner“, flüstert sie.

„Alle Bayern sind Zigeuner! Frag den Hofer“, juchzt er.

„Es ist auch nichts Schönes in ihrem runden Gesicht. Die ältere Schwester ist hübsch und blond. Das ist die, die mich jetzt herumjagt, weil die Jüngere aus der gemeinsamen Schlafstube verschwunden ist“, ergänzt Pauline.

„Vielleicht hat ja ein Kuckuck dieses Ei ins Nest gelegt?“ Erneut reibt Sepp sich die Hände. „Und als was, bitte schön, will die im Zirkus auftreten?“, gluckst er noch.

„Zirkusreiter möchte sie werden …“

„Ein Weib? Niemals!“

„Nun, sie kann auf einem Pferd stehen – auf einem Pony im Galopp. Und sie kann mit nach rückwärts gewandtem Körper galoppieren. Und so verkehrt herum springt sie über Hindernisse.“ Pauline klingt über ihre eigenen Worte erstaunt.

„Hast du’s gesehen?“

Sie schüttelt den Kopf. „Eine bayrische Zofe bezeugt es. Jene, die die Pferdehaare des Kindes bändigen muss. Sie sagt, der Vater des Mädchens lehrt sie die Kunststücke. Und es kommt noch schlimmer!“ Pauline schraubt ihre Stimmlage ins Theatralische.

Sepp beißt sich wieder in den Handrücken.

„Die Zofe sagt auch, er geht als Spielmann verkleidet zu Jahrmärkten. Er singt, spielt Zither, und sein Zirkuskind tanzt dazu. Tanzt mit wehenden Haaren und sammelt Geldstücke, die Bauernburschen ihr zuwerfen. Wenn das keine Zigeuner sind, dann heiße ich Frau Hanswurst!“ Ihre Worte bekräftigend verdreht Pauline die Augen.

„Frau Hanswurst, habe die Ehre!“ Sepp zieht seinen Hut.

„Du bist noch dümmer, als ich gedacht hab“, schimpft Pauline und will ihm den Hut entreißen. Er hält ihn mit ausgestrecktem Arm hoch in die Luft. Sie bekommt ihn nicht zu fassen, obwohl sie auf Zehenspitzen herumhüpft und ihren Unmut in Flüchen kundtut.

„Uh! Diese Bayern erregen dich? Erregung muss so schlecht ja nicht sein“, lacht Sepp. „Was schert dich die Zirkusbrut überhaupt? Die reisen eh bald ab, so sagte man es uns Wachen.“

„Aber, aber … es kommt noch schlimmer“, schnauft Pauline. Im Laternenschein leuchten ihre Wangen stark gerötet.

„Schlimmer als eine blutjunge Zigeunerin, die im Zirkus auftritt und behauptet, eine Herzogin zu sein?“ Sepp pfeift durch die Zähne.

„Ja, stell dir vor, die soll heiraten! Einen der Unsrigen!“, japst Pauline und beendet ihre glücklose Jagd nach Sepps Hut.

„Einen Unsrigen? Juche! Ich bewerbe mich. Frau Hanswurst, ich halte um die Hand der jungen Zigeunerin an. Legen Sie ein gutes Wort für mich ein!“ Sepp wedelt mit seinem Schlapphut und verneigt sich, als mache er der Luft einen Antrag.

„Sepp, du Depp. Ich habe gelauscht. Sie wollen sie und ihre Schwester den Wiener Prinzen anhängen. Die Wiener bleiben ja länger auf Sommerfrische in unserer guten Bergluft.“

„Sommerfrische? Dass ich nicht lache!“ Sepp schlägt mit dem Hut auf seine Brust. Staub wirbelt auf, Pauline muss niesen.

„Eine feine Sommerfrische ist das. Du Hascherl aus dem Schmirntal liest keine Gazetten?“

Sie schüttelt den Kopf und schiebt schmollend ihre Unterlippe vor.

„In Wien herrscht Revolution! Vor der Hofburg sind Barrikaden, selbst in Schönbrunn. Ja, in Wien wird geschossen“, Sepp klingt gleichermaßen zornig und aufgeregt.

„Geschossen? Was wollen diese garstigen Leut?“

„Die haben nix zu fressen! Der Winter war hart. Ein Hungerwinter. Und die Studenten lärmen, der Kaiser hätte ausgedient.“

„A… a… ausgedient? Und … und was sagt der Kaiser dazu?“ Sie wirkt nun gänzlich verwirrt.

„Weiß man nicht. Geflohen ist er – eine Spazierfahrt vortäuschend. Und die ganze Wiener Bagage ist mitgekommen zu uns. Wir Tiroler sind treu. Wir sterben freudig für Kaiser und Vaterland. Frag den Hofer. Ist der Kaiser auch noch so ein Trottel …“

Pauline schlägt Sepp mit dem Handrücken auf den Mund, wenn auch nur leicht.

Er schnappt ihre Hand. „Mach das nie wieder! Und ich weiß, was dich ärgert“, knurrt er.

„Waaaas?“, jammert sie unter Sepps hartem Griff.

„Du bist eifersüchtig! Das Zirkuskind kann Sachen, die kein anderes Weib kann. Nicht einmal die Habsburgerprinzen. Ha! Und der Kaiser schon gar nicht …“

„Was kann die denn?“, zischt Pauline.

„Hervorragend reiten und etwas riskieren, ihr junges Leben riskieren. Und Geld verdienen kann sie. Nur schad, dass sie eine Bayrische ist. Aber deine Wiener – die können gar nichts.“

„Sepp, du bist gemein. Die echten Prinzessinnen sind so gescheit!“

„Gescheit daherreden tun die. Und ausschauen wie das Leiden Christi in Schmalz ausgebacken“, ereifert er sich.

„Schwimmen tut die Bayrische auch. Was sagt man dazu? Ist eine Dame etwa ein Fisch?“, ächzt Pauline.

„Deine feinen Prinzessinnen ersaufen halt, wenn’s drauf ankommt“, frotzelt er, lockert jedoch seinen Griff.

Pauline reibt sich das Handgelenk und stößt einen neuen Redeschwall hervor: „Die Mutter von dem Mädel ist auch seltsam. Soll in der Jugend schön gewesen sein und die Tochter des bayrischen Königs. Das glaub ich aber nicht, selbst wenn die Lakaien es daherreden. Die Eskapaden ihres Zigeunerehemannes haben ihr dann das Herz gebrochen. Einen Stall Kinder soll der noch haben – mit anderen Frauen. Kinder, die er nicht einmal verleugnet. Und allen zeigt er Kunststücke. Doch der junge Saufratz ist seine Meisterschülerin …“

„Pauliiiine! Bring das Mädchen!“, tönt es einmal mehr aus dem Obergeschoß. Laut und herrisch.

„Gott, steh mir bei, wieder die Meindl. Wenn die erfährt, dass ich noch nicht einmal gesucht habe, kann ich mein Bündel packen“, jammert Pauline. „Herrje, wo fang ich nur an?“ Den Tränen nah betupft sie mit ihrer grauen Schürze ihre Augenwinkel.

„Na, wo sucht man eine Zirkusreiterin?“, fragt Sepp betont heiter.

„Im Zirkus? Wir haben keinen Zirkus“, seufzt sie.

„Schon an den Pferdestall gedacht?“

Pauline schüttelt den Kopf.

„Auf geht’s. Du trägst meine Laterne. Möge dir ein Licht aufgehen, das bis ins Schmirntal leuchtet“, poltert er und bückt sich nach seiner Hellebarde. „Wie heißt das Zirkuskind überhaupt?“, will er wissen.

„Die Bayrischen rufen sie Siesie.“ Pauline dehnt die Vokale.

„Siesie? Ha! Aber besser als NoNo bei den Walschen“, lacht er.

„Ihre Schwester, die heißt eigentlich Helene, rufen sie Néné. Und ihre Brüder nennen sie Gackel und Lulu. Komische Leut sind das.“

„Bayrische halt!“, lacht er erneut.

„Siesie klingt nach einem Gaul, einem Zirkusgaul!“, empört sich Pauline. Dann kichert sie über ihren eigenen Einfall. Und kichert noch mehr, als Sepp das Geschnaufe eines Pferdes und Hufgetrappel nachahmt.

So verschwinden die geschwätzige Dienstmagd und ihr Helfer in der Nacht.

Das Kind spürt sie kommen. Ein Lichtschein, Keuchen, Stimmen.

„Puh, hier stinkt es grausig.“

„Geh, Ställe riechen fein!“

„Immerhin stinken sie weniger als du.“

„Du glaubst, du riechst gut, weil du den Geruch der Reichen kennst? Nach Duftwässerchen. Sind eh nur tote Blumen. Und nach Puder und kaltem Schweiß. Der Geruch der Faulheit.“

„Sepp, du bist grob.“

„Dann such sie doch allein, die bayrische Hex.“

Diese Menschen suchen mich? Diese Krachmacher? Ihr Gerede lässt mir viel Zeit, um mich zu verkriechen, denkt das Mädchen und duckt sich dabei tiefer ins Heu. Es duftet nach Sonne, nach Bergkräutern. Noch besser riechen die Rösser. Sie liebt den Geruch von ihrem Gustl. Zwischen seinen Hufen saß sie schon als Krabbel­kind. Der Schimmel ist ihr Freund. Da sie sich nicht von ihm trennen mochte, führte man ihn auf der Reise hinter den Kutschen her.

Im Stall beim Gustl ist es allemal besser als im Bett bei Néné. Stickig und heiß war es dort und kindisch war das Geschnatter.

„Dieses unbekannte Haus mit seinen düsteren Korridoren ängstigt mich“, hat die Schwester gegreint, dabei ist sie schon im dreizehnten Jahr und tut ängstlich wie ein Kleinkind. Sie, die um zwei Jahre Jüngere, ist furchtlos.

„Du hast das wilde Blut deines Vaters“, meint die Mutter dazu.

Kaum war man in Innsbruck angelangt, hatte sie befohlen: „Sisi, du schläfst bei Néné und beruhigst sie. Unsere schöne Helene braucht ihren Schlaf. Sie muss einen guten Eindruck machen bei der Wiener Verwandtschaft.“

„Und ich?“, fragte das Mädchen.

„Elisabeth Amalie Eugenie – blamier uns nicht gar zu arg“, maßregelte die Mutter. Sprach sie all ihre Vornamen aus, dann war es ihr todernst.

In dieser Nacht klagte Néné zunächst über Heimweh, dann über die fremden Räume, die seltsamen Gerüche, das harte Bett, später erschrak sie über ein Geräusch.

„Ein Untier will mich beißen!“, schrie sie. Es zeigte sich eine Maus, nicht einmal eine Ratte. Das kleine Wesen hatte hübsche Augen wie Granatperlen, verschwand unter Nénés Gezeter aber sofort wieder in der Wand.

Sisi verstopfte das Mauseloch mit Nénés feinen Strümpfen. Die dumme Gans bemerkte nichts, sie hatte das Gesicht unter der Bettdecke verborgen. Ein viel zu warmes Daunenduvet. Dafür würde es dann am Morgen Gezänk geben.

Im Nebenzimmer der rasselnde Atem der Mutter. Litt sie an Kopfschmerzen, dann schnarchte sie. Auf Reisen war die Mutter immer ein Nervenbündel, und so machte sie die Anreise für alle zu einer Tortur.

Zumindest Sisi hatte sich auf das Land im Gebirge gefreut.

„Hoffentlich erbte Sisi nicht auch noch die Reiselust ihres Vaters? Nein, Reisewut. Sein fliehendes Herz“, stöhnte die Mutter angesichts der kindlichen Vorfreude. Dieser jungen Wilden war alles zuzutrauen.

Die Mutter war in eine schwarze Reisepelerine gehüllt, einem Trauerflor gleich, ihr Gesicht ragte wächsern daraus hervor. Sisi musste an eine Totenkerze denken.

Bei Rosenheim kam das Schädelweh, ergriff ganz Besitz von der Mutter – dämonengleich. Sie ließ die Fenster mit dunklem Tuch verhängen. Oje.

„Ich sterbe in der Fremde. Sterbe für meine Kinder“, klagte sie. Nun, es war eine Geduldsprobe, wenn zwei Söhne und zwei Töchter – Heranwachsende, hungrig auf das Leben und auf eine neue Landschaft – und eine reisekranke Mutter eine stramm gefederte, abgedunkelte Kutsche teilten.

In Kufstein dann das Malheur: Die Mutter spie Sisi auf die Füße. Nur Galle, sie hatte sich bei einer Rast zuvor schon gröber erleichtert. Aber nicht etwa Néné oder einen der Brüder traf der gelbliche Schwall. Das war typisch, obwohl die Mutter ja eigentlich nichts dafür konnte.

Sisi wusch ihr Schuhwerk und ihre Strümpfe dann im Inn. Eigenhändig. An dem Fluss mit seinem moosgrünen Schimmer hätte sie gerne länger verweilt, wo sie Wasser doch so liebte. Sie lauschte seinem Säuseln, dem Gurgeln der Stromschnellen. Dabei entglitt ihr ein Schuh, schwamm munter obenauf wie ein Karpfen auf der Jagd nach Insekten. Sie beichtete dies der Mutter, wenn auch wenig schuldbewusst, woraufhin diese noch missmutiger wurde.

„Dann geh ich in Innsbruck halt barfuß, mach ich eh lieber.“ Trotz war erst recht nicht geeignet, um die Stimmung der Mutter zu heben.

Fortan hielt die ihren Hut vors Gesicht, obgleich sie nicht mehr speien musste. War der Hut zu teuer? Ein neues Modell aus Paris, extra für diese Reise gekauft, mit schwarzen Federn obenauf.

„Der Bürzel des toten Raben“, hatte der Vater Mutters Hut verulkt. Der Vater mit seinem Holzhammer-Humor.

Zumindest half der Bürzel des toten Raben der Mutter, ihren Mageninhalt bei sich zu behalten, wenn er auf ihrem Kopf schon keine rechte Zierde war.

Hartnäckig hielt sich jedoch der säuerliche Geruch in der Kutsche.

Ein übelriechender, heißer Kerker, ein ruckelndes Halbdunkel.

Sisi war froh, länger am Inn verweilt zu haben, als einer ihrer Schuhe zum Karpfen wurde. Mühelos wäre sie ihm hinterhergeschwommen, hätte sie nur dürfen.

Ob die Mutter ahnte, dass sie den Schuh absichtlich der Strömung übergeben hatte? Als Geschenk für die Flussnixen. Außerdem hasste sie solch feines Schuhwerk. Zehengefängnisse waren das.

Nur Holzschuhe sind fein. Bauernschuhe. Sie ergeben auch taugliche Boote. Darin kann sie ihre zahmen Meerschweinchen in See stechen lassen, wobei diese, unfroh quiekend, wenig Sinn für die Seefahrten zeigen. Ihr Name war eine Lüge.

Daheim in Possenhofen kauern die Berge wie buckelige Zwerge hinter dem See. Das Wasser ist der Hauptdarsteller. Der Starnberger See ernährt seine Fischer und ist Medizin für jeden, der ihn auch nur erblickt. Und ein Spiegel ist er für das Schauspiel der Wolken, für den Lauf der Sonne, das Funkeln der Sterne. Ach, ihr geliebtes „Possi“.

Ab Kufstein schossen die Berge dann in den Himmel. Manche Felswände waren ganz kahl, so steil waren sie. Zornige, graue Riesen.

„Diese Felsen ängstigen mich“, entfuhr es Néné. Sie war blass geworden und wirkte zerbrechlich wie dünnes Porzellan.

„Ich finde es fein in Tirol“, rief Sisi laut und klatschte dabei in die Hände. Allein schon, um die große Schwester zu ärgern.

„In dieser rauen Kulisse wird sich alles für uns entscheiden“, orakelte die Mutter plötzlich.

„Was entscheidet sich?“, wollte die Jugend nun wissen. Am nachdrücklichsten fragte Lulu, mit seinen siebzehn Jahren war er ja schon fast ein Mann, doch auch er resignierte an Mutters ermattetem Schweigen. Ihr Gesicht hatte die Farbe von altem Brei.

Als sie in Innsbruck einfuhren – nach scheinbar endlosen Tagen und Stunden –, fand die Halbtote jedoch ins Leben zurück. Erstaunlich schnell.

„Eine Wunderheilung! Halleluja“, rief Néné. Nun, sie betete gerne und immer voller Inbrunst. Sie, Gackel und Lulu taten dies, da man halt beten musste.

„Lieber angeprotestantelt als den Kopf vernebelt von zu viel Weihrauch“, hatte Sisi den Vater einmal sagen hören. Darüber hatte sogar die Mutter aufgelacht.

Nun war die Reisekutsche plötzlich kein Leichenwagen mehr, sondern das Gegenteil: ein Behältnis, das ihre Zukunft enthielt! Die Mutter verabscheute das Reisen und lebte ganz für ihre geheimen Pläne beim Ankommen.

Kaum waren sie der stinkenden Kutsche entstiegen und betraten knarzende Zimmer, nahm die Mutter sie auch schon ins Gebet: „Das hier ist das Adelige Damenstift, hier hasst man schlechte Manieren. Wir sind bäuerlich, die Wiener Verwandtschaft ist fein. Sisi, das gilt hauptsächlich dir!“

„Frau Mama hätte mich ja in Possi lassen können, dort war es possierlich.“

„Dich den Sommer über mit Bauernlümmeln auf Bäume steigen und Frösche fangen zu sehen? Oder dich im Kot der Ställe zu wissen? Es wird Zeit, dass du deine Wiener Cousins und Cousinen kennenlernst und dich wie eine Dame benimmst. Und schau mich an, wenn ich mit dir red, Elisabeth Amalie Eugenie!“ Die gerade noch kranke Mutter gebärdete sich nun wie eine wütend gackernde Glucke.

All dies ging Sisi im Kopf herum, als sie später mit Néné in der stickigen Kammer lag. Schlaf? Daran war nicht zu denken. So schlich sie davon. Im Nachthemd und ohne Schuhe. Na und? Jene, die sie am Abend bei ihrer aller Begrüßung getragen hatte – man musste bei diesen Wienern ja Schuhe tragen –, waren ein Martyrium. Mörderschuhe. Zwei Blasen hatte sie zurückbehalten.

In Possi verbrachte sie die warme Jahreszeit ganz ohne Schuhe. Glückliche Barfuß-Sommer.

Im Hinausschleichen ergriff sie Nénés rosarote Stola – die feine Seidenstola vom Vorabend in Gesellschaft – und ihre Haarspange aus Horn. Man wusste ja nie, wem man begegnete in der Nacht.

„So ein kleiner Ausflug? Wunderbar!“, sagte sie zu sich selbst. Parieren muss ich hier noch genug. Und charmieren. Das sind Sternstunden für Néné und Kerkerstunden für mich, kam ihr noch in den Sinn.

So hatte sie es ja Stunden zuvor beim Empfang in der Hofburg erlebt. Diese Tante Sophie hatte sie den ganzen Abend gepeinigt mit ihren Blicken. Sie und Néné. Für den Lulu und den Gackel hatte sie hingegen kaum Augen gehabt.

In Possi ginge sie jetzt schwimmen. Das ist ihr Geheimnis. Ach, wie liebt sie den Mondschein auf nackter Haut. Dann werden die Wassertropfen zu flüssigem Silber, und sie verwandelt sich in eine Wassernixe. Die keckste von Neptuns Töchtern.

Doch nun befindet sie sich inmitten einer Stadt und bei feinen Leuten. Wohin also gehen? Zum Stall! Ja, dort ist es zumindest gemütlich. Das vertraute Schnaufen der Rösser, Wärme, Geborgenheit im Heu.

Sisi schreckt aus ihren Gedanken hoch. In die Idylle des Stalls drängen nun Menschen: diese Dummschwätzer! Soll dies etwa ein Suchtrupp sein? Sie hält den Atem an. Hört ein Rascheln, Halme brechen, ein Stoßen. Ja, Stöße ins Stroh. Mit etwas Spitzem, einer Art Klinge, so viel erkennt sie in dem Lichtkegel.

„Siesie!“, ruft es. Diese Frau beherrscht nicht einmal die Aussprache meines Namens, denkt das Mädchen. Dabei ist es wie gelähmt. Ich muss rufen, mich bemerkbar machen, diese Klinge kann mich verletzen. Doch sie duckt sich wie ein Rehkitz, bevor es die Sense des Schnitters trifft.

„Siesie!“ Sie fühlt die Energie eines weiteren Stoßes.

„Bist du sicher, das ist nicht gefährlich?“, fragt die weibliche Stimme.

„Für mich nicht“, antwortet ein Mann. Seine Stimme klingt harsch, auch dieses laute Keuchen kommt von ihm.

„Und wenn sich jemand im Stroh verbirgt?“

„Sich vor einem Nachtwächter zu verbergen, ist verboten. So machen wir das auch mit den Ferkeln, die sich verstecken.“

„Ihr erstecht sie?“

„Geh, ich steche doch nicht fest zu. Ich pieke nur! Frau Hanswurst, kümmere dich um Dinge, die du verstehst.“

„Du bist hier der Hanswurst“, schimpft die Frau.

Die Klinge stößt erneut zu.

Die suchen mich und könnten mich dabei töten. Das sind Idioten, denkt das Kind. In seine Verwunderung mischt sich Wut.

„Ihre Tochter Elisabeth wurde getötet. Ein grausames Versehen!“, tönt es in Sisis Kopf. Sie stellt sich vor, wie man der Mutter die Nachricht überbringt. Die arme Frau stürbe auf der Stelle. Ihr schwaches Herz. Und Néné würde durchdrehen. Was war von einem Mädchen zu erwarten, das eine Maus fast zu Tode erschreckt?

Sie bekommt etwas zu fassen. Ein Stück Holz? Eher ein Holzschuh, so rundlich, wie sich das anfühlt. Vermutlich hat ihn einer der Knechte verloren, die das Heu und die Streu abluden. Sie wirft den Schuh mit aller Kraft von sich. Er landet mit einem dumpfen Aufschlag.

„Hast du das gehört? Dort, Sepp, dort! Jetzt haben wir das Luder!“ Die Frauenstimme lotst den Heu­stecher von ihr weg.

Das Keuchen entfernt sich. Sie hört Gewieher. Das ist ihr Gustl! Sie kennt ihn unter hundert Rössern heraus. Ist der Holzschuh so nah bei ihm gelandet? Das wäre eine Überraschung für diese Leute. Gustl mag Fremde nicht – schon gar nicht in der Nacht.

Sisi kriecht aus ihrem Versteck und hastet davon. Hört hinter sich einen gellenden Schrei, den Schmerzensschrei eines Mannes.

Jetzt ist sie draußen an der frischen Luft. Lautes Vogelgezwitscher verkündet die nahe Dämmerung. Der neue Tag riecht würzig: nach Nadelbäumen, Sommerflieder, Holunder, frisch geschnittenem Gras und ländlichen Ausdünstungen jener Art, die fette Fliegen gedeihen lassen.

Gelb schält sich die Hofburg aus dem ersten Licht. Maria-Theresien-Gelb ist dies, so hat die Mutter erklärt. Alle Jalousien und Vorhänge sind noch geschlossen. Hinter diesen gelb gebutterten Wänden schlafen die feinen Wiener Verwandten noch. Langweilige Bettenfurzer!

„Die Noblesse verschläft die neue Zeit. Sie verschläft faul ihre eigene Absetzung, Kaiser Ferdinand sowieso“, hat der Vater jüngst behauptet.

In München tobt sie ja auch – diese Revolution. Doch die aufgebrachten Horden haben ihr Max-Palais auf der Ludwigstraße verschont.