Cover

Walter Grond

Drei Lieben

Roman

Sie hat ganz leise gesprochen, und Tonio spürt,
dass sie ihn in eine neue Welt mitnehmen will,
in eine Welt, die für ihn zu groß ist und auch zu
­geheimnisvoll, tiefer als das Meer, und dass er
trotz allem Lust hat, ihr zu folgen.

Hervé Le Tellier, „Neun Tage in Lissabon“

Jale

Sophie

Rita

Sophie

Meine Mutter bewunderte meine Großeltern und wird sie wohl auch beneidet haben. Nachdem mein Vater der engelhaften Frau, die meine Mutter ist, überdrüssig geworden war und sie nach meiner Geburt verlassen hatte, nahmen meine Großeltern sie wie eine leibliche Tochter bei sich auf. Daher lebte ich mit ihr viele Jahre im Haus an der Rue Mouffetard, behütet wie königliche Geschwister, denen beinahe alle Wünsche erfüllt werden.

Für meine Großeltern galt der Schutz der Familie als heilige Pflicht. Alles an ihrem Leben erschien mir fraglos richtig. Die Geschichte, die meine Großmutter Jale so gerne erzählte, klang für mich wie ein Märchen und reichte mir lange Zeit zur Erklärung, warum die beiden derart in sich geruht hatten.

Zwischen den beiden bestand ein festes Band, gleichsam aus sagenhaften Erlebnissen gewoben. Sie waren dem Schicksal für den glücklichen Ausgang ihrer Irrfahrt dankbar und führten ein zufriedenes Leben, sich dessen bewusst, wie groß die Kluft der verschiedenen Herkunft und der gegensätzlichen Ansichten zwischen ihnen war. Es handelte sich um eine besondere Form von Respekt, der ihre Beziehung auszeichnete.

Es muss kurz vor seinem Tod gewesen sein, da sagte mein Großvater: „Beziehungen wachsen oder zerbrechen an katastrophalen Ereignissen. Die eine Beziehung gedeiht, die andere verdorrt.“

Ich verstand damals nicht wirklich, was er meinte. Und beschwor mich umso mehr selbst, meine Großeltern seien nach allem, was sie miteinander erlebt hatten, zu Philemon und Baucis geworden. Jedenfalls stellte ich mir die beiden so vor, verglich sie mit dem mythischen Paar, das für seine Gastfreundschaft von Zeus belohnt wird, daher in einem Palast lebt, anstatt in einer Hütte zu hausen, und sich schließlich, anstatt zu sterben in eine Eiche und eine Linde verwandelt. So musste das auch mit meinen Großeltern geschehen sein. Ihre Verwandlung in zeitlose Gewächse hatte in den Tagen und Nächten der Flucht stattgefunden, denn in Zeiten des Krieges war ihre Liebe gereift und erwachsen geworden.

Vor etwa vier Jahren regte sich in mir ein blinder Fleck in meinem Leben. Längst über dreißig und an der Opéra Bastille beschäftigt, begann ich damit, mir unangenehme Fragen zu stellen. Ich war aus der Wohnung meiner Mutter ausgezogen und schämte mich dafür, sie im Stich gelassen zu haben. Ich lebte allein und hasste meinen Vater, der sich so herzlos von meiner Mutter abgewendet hatte. Und doch war er der Sohn seines Vaters, so wie ich sein Sohn bin. All die Jahre hatte ich mit meiner Mutter wie unter einem Glassturz gelebt, und wenn ich nun ein Gespräch mit meinem Vater darüber suchte, verstand er nicht im Geringsten, was mir fehlte. Er existierte in einer perfekten Selbsttäuschung. Aber auch im Schatten der Großzügigkeit meines Großvaters tat sich längst etwas Mitleidloses auf, diese Unbeirrbarkeit, mit der er Menschen zurückgelassen und nicht danach gefragt hatte, was hinter ihm lag. Niemand von uns kannte sein Dorf. Es drängte mich mehr und mehr, meinen Fuß auf die Erde zu setzen, die er nie mehr betreten hatte wollen, an diesem Ort herumzugehen, an dem er als junger Mann herumgegangen war, seine Luft zu atmen, was immer, mir jedenfalls ein Bild des Dorfes zu machen, in dem er einst eine fremde Frau geliebt hatte.

Auf der Suche nach der Jugend meiner Großmutter Jale war ich schon mehrmals in Baku gewesen und wusste, wie zugleich vergeblich und trügerisch es ist, an einem fremden Ort zu stehen und sich vorzustellen, dass hier vor vielen Jahren ein geliebter Mensch geatmet und gelacht und geweint hat. Und trotzdem drängte es mich, das Verlorengegangene, Unwiederbringliche, ja das oft Abwesende im Blick meines Großvaters, das mir in Erinnerung geblieben war, aufzuspüren.

Im Winter 1998 fuhr ich also nach Österreich, erzählte meiner Mutter nichts von meiner Reise. Ich kam an einem trüben Novembertag in diesem fremden Dorf an. Mein Deutsch nährte sich einzig aus der Lektüre der Bücher seiner Bibliothek. Noch verlorener als im dichten Nebel, in den die kleine Ansiedlung gehüllt war, fühlte ich mich im fremden, recht groben Klang.

Ich ging zur Dorfkirche, einem gedrungenen Bau mit Zwiebelturm, der mir aufgefallen war, empfand nichts als Tristesse und redete mir ein, geistreich einen Boulevard hinaufzuflanieren, so als erwartete mich ein angeregtes Gespräch im Café. Ich glaube, ich fragte mich, ob nicht die ziellose Suche mit der Flucht vor sich selbst zusammenfalle. Dass ich mich hier in diesem Dorf aufhielt, empfand ich als Zumutung, ja ich ärgerte mich über meine Reise, da drängte sich etwas Unerhörtes in meine Gedanken. Es handelte sich um den ursprünglichen Namen meines Großvaters, Hermann Opitz, er stand auf einer Gedenktafel für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges, die an der Außenseite der Kirche angebracht war.

Nichts war naheliegender, und doch hatte ich nichts weniger erwartet. Ich suchte den Pfarrer auf, der mir erklärte, im Dorf lebe niemand mit diesem Namen, mich aber auf eine Sophie Donauer verwies. Die alte Frau lege regelmäßig Blumen vor dem Denkmal ab und kehre im Sommer den Staub und im Winter den Schnee von den Lettern Hermann Opitz.

Ich erinnerte mich, der Freund meines Großvaters und Liebhaber seiner Frau Maria hatte Donauer geheißen, Leo Donauer. Während ich noch überlegte, hatte der Pfarrer längst mit der alten Dame telefoniert, und diese mich zu sich eingeladen. Ich nahm also den Weg, den er mir vorgab, und stand bald vor einem stattlichen Gebäude, von einem großen Garten umgeben, der nach hinten bis zu einem Hang reichte.

So lernte ich Sophie kennen. Sie kam über einen gepflasterten Weg auf mich zu, erschrak, als sie mich am Gartentor stehen sah, lächelte aber einen Augenblick später wie erlöst. Ich war in ihrem Leben aufgetaucht wie ein ferner Engel, auf den man nicht hofft. Oder besser gesagt, nicht zu hoffen wagt, weil er unmöglich existieren kann, den man aber, sobald er erscheint, umso überzeugter für den Erlöser hält.

Als ich meinen Großvater erwähnte, nickte sie und bat mich ins Haus. Sie lebte allein in diesem großen Gebäude, ihr Mann sei vor Jahren verstorben, und ihre Kinder habe es in die Welt verschlagen. Auf dem Küchentisch stand eine Schatulle, die sie öffnete, und aus der sie nun einen Brief und ein Foto entnahm, und mir beides entgegenhielt. In ihren Augen war der Mann auf dem Bild 1918 an der russischen Front gefallen. Sie bezeichnete ihn als letztes Kanonenfutter. Einzig ein Abschiedsbrief und sein gemeißelter Name auf dem Denkmal vor der Kirche für die Gefallenen der Weltkriege seien von ihm übrig. Mit ihm acht andere Männer, jünger als er, davon zwei noch Burschen, habe er auf dem Weg in den Osten auf eine Schlacht gewartet, für die es keinen Sinn gab, als elendiglich zu Grunde zu gehen.

Der Mann auf dem Foto war mein Großvater.

In ihrer Hand lag sein Abschiedsbrief aus fernen Tagen. Der Brief war an Sophies Mutter gerichtet. Meine liebe und werte Maria. Ich warf einen Blick auf das Ende, Du spendest mir Leben und du nimmst es mir. Die Liebe kann nicht anders, dann las ich den ganzen Brief.

Das weißt Du ja alles, Maria.

Das Wenige, das von meinem Großvater geblieben war, verwahrte Sophie in einer grünen, mit rotem Samt ausgelegten Schatulle. 1918 geboren, war Sophie zehn Jahre älter als mein Vater, der wiederum zehn Jahre älter als meine Mutter ist. Wie sie ständig mit den Augen zwinkerte, leicht, als ticke eine Uhr, ganz so, wie ich es von meinem Großvater kannte, und wie es mein Vater tut! Sophie war nicht die Tochter Leo Donauers, jenes Mannes, den ihre Mutter nach dem Tod meines Großvaters geheiratet hatte, und das wusste sie.

So wie dieser Brief vor mir auf dem Tisch lag, in jenem österreichischen Dorf, während es draußen dämmerte und in der Küche dunkler und dunkler wurde, erschien er mir wie ein menschliches Relikt, das wieder lebendig wird. An jenem Wintertag, als ich Sophie zum ersten Mal gegenübersaß, erfasste ein Druck meine Schläfen. Vielleicht war es zuerst Mitleid, dann doch Entsetzen über die unüberwindbare Kluft zwischen Sophie und meinem Großvater, eine Kluft, die einen Namen trug, den seiner Tochter, die er nie kennengelernt hatte.

In Sophies Augen lag er irgendwo unter russischer Erde, kein Kreuz würde ihm von dort den Weg ins Paradies weisen. Sie war einige Monate nach seinem Abschied aus dem Dorf zur Welt gekommen. Mein Großvater hatte sich von seinem ersten Leben abgewandt und nicht mehr zurückschauen wollen. Aber da war ein Kind, später ein Mädchen, das heranwuchs, schließlich eine Frau, die ihn für tot und die sich selbst ihr Leben lang für unvollkommen gehalten hatte.

Ihre Mutter, erzählte Sophie, habe im Urteil über meinen Großvater sehr geschwankt. Einmal wollte sie, dass er sich herzlos nach Russland davongemacht habe, ein Mann, der sich gerne als Opfer inszeniert und damit arme Seelen in die Falle lockt. Manchmal habe sie ihn sogar als gefühlstot und grausam bezeichnet. Dann wieder sollte sich Sophie ein versöhnliches Bild von ihm machen. Sie bestand darauf, dass Sophie viel über ihn wusste. Zeigte ihr Fotos von ihm, übergab ihr seinen Abschiedsbrief und bemerkte immer wieder, er wäre bestimmt ein liebevoller Vater gewesen.

Sobald ich das Offenbare aussprechen wollte, wandte Sophie ihren Blick von mir ab. Irgendetwas in ihr wollte die Verhältnisse so bewahrt wissen, wie sie nun einmal in ihrem anstrengenden Leben geworden waren. Zur ersehnten Ruhe zählte der Besuch am Familiengrab, in dem ihre Eltern bestattet lagen. Für sie bedeutete dieses Grab das einzig Unzweifelhafte. Ich glaube, die Idee, nicht in Ruhe vor dem Grab ihrer Eltern auf den Tod warten zu können, beunruhigte sie in fast panischer Weise. Mein Großvater war für sie nur ein Name auf einem Denkmal. Er existierte nicht, und war doch in diesen goldenen Buchstaben auf der Marmortafel verewigt.

Sie schien fasziniert von meinem Auftauchen zu sein. Und doch wollte sie aus der Welt verschwinden, und nichts hatte das mehr garantiert als ein Flecken Erde, in dem neben ihrer Mutter ein Mann begraben lag, den sie ihren Vater nannte. Das Grab der Donauers, so vermute ich, bedeutete für sie das Schlusskapitel eines Buches, das nach ihrem Tod zugeschlagen und in Vergessenheit geraten würde. Im Schatten der Hölle sei nämlich jeder dazu verdammt, nie mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen zu können.

Als wir uns verabschiedeten, blickten wir beide zu Boden, und mir fiel auf, die Finger ihrer linken Hand rollten nervös einen Rosenkranz auf und ab.

Auf dem Heimflug litt ich unter starken Kopfschmerzen. Zu viele Vorstellungen waren auf mich eingestürzt, die zwar offenkundig ein und dasselbe Leben betrafen, die ich aber nicht aufeinander beziehen konnte. Und doch waren sie wie auf eine Kordel eins nach dem anderen geknüpft und hatten etwas vom Geschmack einer sehnsuchtskranken Kindheit.

Wieder zurück in Paris, hatte sich etwas in mir verändert. Nicht einmal die Musik beruhigte mich, nicht die Opéra Bastille, nicht die neue Orpheus-Produktion, an der wir gerade arbeiteten. Sophie war für mich längst ein Wort für Warum-bist-du-noch-immer-allein? Für dieses Fegefeuer könnte ein Cineast rund um die Welt reisen und Momente größten Elends wie sonderbarsten Glücks festhalten. Und doch gäbe es keine Bilder für all die Brüche und Verwandlungen, die mit der Zugfahrt meines Großvaters nach Brzeżany beginnen und bis heute in unserer Familie anhalten. Sophie sollte einmal vom Wunsch sprechen, in einer Zeit leben zu wollen, in der Geschichte gemacht wird. Meinem Großvater war dies auf den Leib geschrieben. Mir ist der Gedanke unheimlich, dass sich dieses Fatum als unstillbare Sehnsucht auf seine Nachkommen übertragen hat.

Meine Mutter belastete ich damit nicht. Zwar reiste ich abermals nach Österreich, es wäre mir aber nicht in den Sinn gekommen, von Sophie zu erzählen, oder sie gar nach Paris einzuladen, die Hasanows sollten nicht mit der Vergangenheit meines Großvaters belangt werden.

Bei meinem zweiten Besuch im Dorf bildete ich mir ein, mit Holzschindeln gedeckte Häuser vor mir zu haben, Holzverschläge und bröckelnde Mauern von ein paar herrschaftlichen Gebäuden, ganz so wie auf den alten Fotos von Sophie. Dabei war alles modern und gepflegt, nicht nur die Straßen, auch die Trottoirs, ja die kleinsten Wege, Hauseinfahrten und Unterführungen waren asphaltiert, und von noch so kleinen Gässchen wurde das Regenwasser in Kanäle abgeleitet. Strommasten und Antennentürme säumten die Hügelkämme, und der Lärm von Traktoren, Motorsägen und Mähmaschinen brachte die Vögel zum Verstummen. An jeder Ecke entdeckte ich Hydranten, entlang der Wege ungewöhnlich viele Laternen, und bei jeder Sitzbank, die zur Rast einlud, Müllkörbe. Neben zahllosen Verbotstafeln fielen mir die vielen neuen Häuser auf, die auf noch so schmalen freien Grundstücken zwischen den verfallenden alten Gebäuden errichtet worden waren. An einen Bungalow grenzte ein Alpenhaus mit Balkon, an den hohen Giebel das Flachdach. Pompöse Zäune trennten die kleinen Festungen, schlossähnliche Mauern neben Holzläufen, Gitterzäune neben Hecken. Am auffälligsten waren die grellgelben Fassaden, türkise, grau rosa und auch orange farbene, himmelblau schreiende und auch dunkelviolette. Unter den Fenstern hingen Blumenkistchen, und Koniferen spendeten Motorrädern und Autos in den Hauseinfahrten Schatten. Noch die kürzesten Strecken zwischen den Häusern wurden motorisiert zurückgelegt. Ich sah niemanden zu Fuß gehen. Vielleicht als Tribut an die Geschwindigkeit, mit der man unterwegs war, erklärten Plakatwände im Abstand von ein paar hundert Metern wieder und wieder, was zu kaufen, wer zu wählen und welche Zeitung zu lesen sei.

Sophie, die mich in die Küche gebeten hatte, war wie ausgewechselt. Eine selbstbewusste Person musterte mich. In ihren Augen blitzte etwas Arrogantes auf. Sie bot mir Kaffee an, und ich bemerkte, mit welch schlichter Eleganz sie das Kännchen Milch anfasste. Sie war korpulent, und doch hätte es mir auffallen müssen, dass ihre Hände sehr gepflegt waren, und sie mehrmals ihre Haushälterin erwähnte, auf die sie heute verzichten müsse.

Ich schämte mich plötzlich. Ein spöttisches Grinsen blitzte in ihren Mundwinkeln auf, dann schlug sie mir aber versöhnlich vor, in das Wohnzimmer zu wechseln, dort sei es bequemer.

Was für eine Welt sich dort auftat! Das ganze Leben einer alten Dame, wie ich ihnen so oft in der Oper begegne, und von denen ich mir vorzustellen versuche, wie es bei ihnen zu Hause aussieht. Es ist der Schmuck, den sie tragen, der elegante Pelzmantel, auch die hohen Absätze, auf denen sie mehr wanken als schreiten, die meine Fantasie so beflügeln. Diese ihnen eigene Schönheit, die nur das hohe Alter ermöglicht, verwelkende Körper, aus denen wie in einem Vexierbild die aufreizenden ihrer Jugend hervorleuchten. Die ihnen eigene Melancholie, etwas endgültig Vergebliches, das sie ausstrahlen, und das erst das Wesen der Schönheit, die wir so leichtfertig anhimmeln, verstehbar macht.

Im Wohnzimmer fielen mir die Bücher und Schallplatten auf. Sophie verehrte einen korpulenten Opernsänger, ein Stapel von Schallplatten und auch Büchern lag auf dem Sekretär. Sie sei schon als junge Frau eine leidenschaftliche Operngängerin gewesen, erklärte sie mir, und dass ein Busunternehmen in der nahen Stadt Pensionisten ermögliche, zehnmal im Jahr die Oper in Wien zu besuchen.

Ein Universum aus Erinnerungen, penibel arrangiert, ein Mix aus Epochen und Stilen, das Beste von allem, auch das Quälendste, oder einfach alles, wohin sie zu flüchten beschlossen hatte. Dunkle Möbel, schwere Brokatvorhänge, stumme Diener, Kristallgeschirr, Silbervasen, Stillleben, gestickte Deckchen und samtene Pölster, und eine Unzahl von Fotos, eine Galerie ihrer Lieben, die vor ihr die Bühne des Lebens verlassen hatten, und unter deren Schutz sie von sich zu erzählen begann.

Sophie erzählte lange von der Familie ihrer Mutter. Obwohl sie auch oft auf ihren Vater zu sprechen kam, verlor sie über dessen Herkunft kein Wort. Die Familie war für sie immer nur jene ihrer Mutter gewesen, im Übrigen seit langem im Dorf ansässig, nicht unbedingt reich, aber doch bemittelt. Nicht nur hatten ihre Großeltern bei jeder Gelegenheit betont, von besserer Herkunft zu sein, sondern es jedem zu spüren gegeben, wenn er von niederem Stand war. Für sie galt es als Pflicht, patriotisch gesinnt und katholisch zu denken. Ressentiments gehörten zum guten Ton, und ebenso wichtig schien es, nicht nur für andere, sondern auch vor sich selbst als eine respektable Person zu gelten.

Das Leben verlangte ein bestimmtes Maß an Besitz, und ebenso an Etikette. Auch wenn man als sparsam gelten wollte, musste der Chauffeur montags nach Wien fahren, um Kolonialwaren zu besorgen. Sophies Großeltern waren wie Städter, die nicht in der Stadt leben. Erfolgreiche Leute im Dorf, die jeden argwöhnisch beäugten, der nicht ein Leben wie sie führte.

Der Umgangston in ihrem Haus war einmal süßlich, einmal schroff, und Mitgefühl zeugte von einem schwächlichen Charakter. Die Sucht nach gutem Ruf bestand ja nicht nur gegenüber Außenstehenden, sondern äußerte sich ebenso als innerer Zwang. Das Leben ließ keinerlei Entspannung zu. Auch der eigenen Familie galt ein Maß an Misstrauen, und doch wurde jeder geächtet, sobald er sich nachdenklich oder gar kritisch über ein Familienmitglied äußerte. Die anderen trugen immer Schuld an allem Unglück.

Vielleicht hatte Sophies Mutter deswegen meinen Großvater, einen zwar gebildeten, aber mittellosen Mann geheiratet, und nach dessen Tod einen zwar bemittelten, aber wenig verlässlichen. Irgendwie schien sie kein glückliches Händchen gehabt zu haben. Sophies Mutter war ein zugleich verwöhntes wie kurz gehaltenes Kind gewesen, trat ruhig und bestimmt auf, aber man wusste nicht recht, was sie wirklich dachte. Sie brachte es zur Schuldirektorin, und wenigstens die ersten Jahre, als Sophie noch klein war, gab es alles im Überfluss. Es gehörte zum Selbstverständnis der Familie, dass sich ein Hausmädchen nicht nur um den Haushalt, sondern auch um das Kind kümmerte. Ohnehin war Leo Donauer, Sophies Vater, kaum zu Hause, und ihre Mutter rieb sich am Ehrgeiz auf, eine gute Schuldirektorin gleichwie eine gute Mutter zu sein.

Sophie blieb das einzige Kind. Seit sie denken konnte, fürchtete und bewunderte sie ihren Vater. Da waren seine Wutausbrüche, die einmal die Mutter, einmal das Kind trafen. Es kam schon vor, dass ein Glas an der Wand zerschellte, oder er zornig in den Garten stürmte und zu seiner Beruhigung Tauben vom Dach schoss. Aber er konnte auch ungemein witzig sein. Es gefiel Sophie, wie er sie umschwärmte und die Mutter eifersüchtig machte, wenn er sich zu ihr ins Kindbett legte, oder sie ärgerte, wenn er beim Essen unmanierlich wurde, das Fleisch vom Teller der anderen schnappte, in einem fort Reden schwang oder Scherze über sein Eheweib machte.

Wie aufregend die Mutproben für Sophie waren! Ihr Vater ließ sie von hohen Ästen springen oder an einer überhängenden Felskante entlangtappen. Dabei war er selbst ungeschickt und hatte schon bei kleinsten Schürfwunden Tränen im Auge, konnte kein Blut sehen und wies doch Sophie an, im Teich Blutegel zu sammeln und sie an ihren Armen und Beinen anzusetzen. Seine Schwächen machten ihn menschlich, weniger fremd, und so verliebte sich das Kind immer wieder aufs Neue in ihn.

Er verwaltete das Vermögen des Gutsherrn. Alles was er tat, lag im Dunkeln. Ja als das Verwirrendste in ihrem Leben beschrieb Sophie die vielen Gesichter ihres Vaters, der einmal Charmeur, einmal Despot, einmal ungezogen und rau, einmal tollpatschig und kindlich, und einmal souverän und arrogant war. In seinen Tischreden kamen lauter bedeutende Männer und schillernde Frauen vor. Er machte sich gerne über andere lustig, traf ihn aber jemand in seiner Eitelkeit, brauste er auf.