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Frank Wiggermann

Vom Kaiser zum Duce

Lodovico Rizzi (1859–1945). Eine österreichisch-italienische Karriere in Istrien

Auf der Suche nach dem verlorenen Protagonisten

Der österreichisch-istrische Italiener Lodovico Rizzi (1859–1945) stellt eine der wichtigsten öffentlichen Figuren im langen 19. Jahrhundert des sogenannten Küstenlandes dar, und sein national-moderates Leben, das in Pola begann und am Ende des Zweiten Weltkrieges schloss, ragt weit in das kurze, aber gewalttätige 20. Jahrhundert hinein.

Private Quellen, die Aufschluss gäben über die Persönlichkeit des Advokaten und Politikers Rizzi, seinen privaten wie beruflichen Werdegang, gibt es kaum. Mariarosa Rizzi, Enkelin und letzte mündliche Tradentin (geb. 1930), verwahrt in Triest wenige Überreste und ein Fotoalbum. Ein persönlicher Nachlass existiert nicht. Ego-Dokumente für die Öffentlichkeit hat Rizzi nicht hinterlassen, Autobiografisches hat er weder vor noch nach 1918 verfasst.

Der Sohn Nicolò (1900–1978) hat die privaten Papiere der Familie, auch die Tagebücher Lodovico Rizzis, nach dem Zweiten Weltkrieg aus Pola mitgenommen. Später ging er vorübergehend nach Venezuela, kehrte zu seiner Familie nach Bozen zurück, wurde aber schließlich von der großen alten Versicherungsgesellschaft Assicurazioni Generali in Triest angestellt. Seinen Wohnsitz hat er gerne in das italienische Triest, in die Nähe der verlorenen (und damals jugoslawischen) Heimat Istrien, verlegt.

Der Historiker und Zeitgenosse Sergio Cella, der im Juli 1945 sein Abitur in Pola abgelegt hatte, veröffentlichte 1958 kommentierte Auszüge aus Rizzis umfangreichem Diarium.1 Um Rizzis Einsatz für die Gründung und spätere Verstaatlichung des italienischen Gymnasiums in Pola (1908–1910) zu würdigen, hat Cella ein Jahr später weitere Zitate aus dem Tagebuch publiziert.2

Lodovico Rizzi hatte sein Tagebuch vom 30. Oktober 1903 bis zum 20. August 1914 (mit einer Unterbrechung von Januar 1912 bis Januar 1914) geführt. Es war offenkundig nicht für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen.3 Die Exzerpte zeigen die politisch-weltanschaulichen Vorstellungen und Mentalitäten der italienisch-liberalen Elite. Nach Cellas Publikation verliert sich in Italien das Interesse an der Biografie des ehemaligen Landeshauptmanns von Istrien.4 Das Tagebuch Rizzis, das Cella (1927–1988) offenkundig vollständig vorgelegen hat, gilt als verschollen.

Während Rizzis Wirken lobende Aufnahme in eine kleine julische Enzyklopädie fand5, die 1959/61 in Fortsetzungen in der italienischen Vertriebenenzeitung L’Arena di Pola erschienen ist, liefert das neueste österreichisch-biografische Lexikon über die Mitglieder des Reichsrats, das 2014 in Wien veröffentlicht worden ist, ein lücken- und auch fehlerhaftes Biogramm Rizzis6:

Lodovico Rizzi, Bürgermeister von Pola, Landtags- und Reichsratsabgeordneter, war zweimal verheiratet (1884 und – nach dem Tod seiner ersten Frau 1885 – im Jahr 1896). Er hatte insgesamt vier Kinder, eine Tochter aus erster Ehe, zwei Töchter und einen Sohn aus der zweiten Verbindung. In den Istrianer Landtag zog Rizzi erst 1894 (und nicht 1889) ein. Als Bürgermeister-Sonderkommissar stellte er sich seiner Stadt Pola noch einmal in faschistischer Zeit 1923 bis 1926 zur Verfügung (aber nicht als Präfekt). Am 1. März (nicht am 8. März) 1945 ist Lodovico Rizzi in Pola gestorben.7

Das österreichisch-istrische 19. Jahrhundert und die italienischen Jahre nach 1918 quellengesättigt zu konstruieren, hat vor allem der polyglotte Historiker Almerigo Apollonio, ein Exulant aus Istrien, seit den 1990er Jahren vorangetrieben – und die Geschichten dieser Zeit auf eine historio­grafisch sichere Basis gestellt.8 Die Jahrzehnte vom langen 19. zum 20. Jahrhundert, Rizzis Lebenszeit, bilden eine ungeheure Spanne der politischen Systeme und Ideologien in Europa. Als Otto von Bismarck das Amt des deutschen Reichskanzlers aufgeben musste (1890), war Rizzi gerade Bürgermeister von Pola geworden. Als Wladimir Iljitsch Lenin 1924 starb, fungierte Rizzi abermals als erster Repräsentant der Stadt. Jenseits der irredentistischen Mythen und der traditionellen italienischen Legendenbildungen setzen Almerigo Apollonios – in erster Linie aus dem Staatsarchiv Triest geschöpfte – Darstellungen chronistische Maßstäbe für die reichlich sprudelnde italienische Literaturproduktion. Ihm, dem 1928 in Pirano Geborenen, und seinem Lebenswerk sei die Rizzi-Biografie gewidmet.

Auch neuere südslawische Literatur widmet sich Pola und Istrien in österreichischer und italienisch-faschistischer Zeit.9 Gleichwohl ist die kroatische Geschichtsschreibung derzeit stark darauf konzentriert, die ersten Jahre nach 1945 aufzuarbeiten.10 Eine polnische Monografie geht – aus deutlich slawischer Perspektive – der Entwicklung der kroatischen Nationalbewegung in Istrien nach und arbeitet die Differenzen zwischen Kroaten und jenen Slowenen heraus, die sich nicht ohne Weiteres für einen „Anschluss“ Istriens an Kroatien hergeben wollten.11

Rizzis lange Lebensphasen lassen sich allerdings anhand von Dokumenten nachzeichnen. Diese reichen Bestände liegen in den Archiven von Wien (österreichische Zentral­behörden im Österreichischen Staatsarchiv), Triest (k.k. Statthalterei im Staatsarchiv Triest), Mitterburg / Pazin (staatliche und kommunale Akten aus Pola), Capodistria / Koper (Schulakten des Gymnasiums), Fiume / Rijeka (istrische Landesverwaltung), Rom (italienische Akten nach dem Ersten Weltkrieg) und Graz (Universitätsarchiv). Allen Archivaren, den wahren Hütern des Tartarus, sei Dank! Weitere Entwicklungen der Rizzi’schen Karriere können aus zahlreichen zeitgenössischen Zeitungen und Büchern gebildet oder gegebenenfalls imaginiert werden. Das Quellen- und Literaturverzeichnis sowie die Endnoten weisen die Fundorte der kommunalen, Landes- und staatlichen Akten im Einzelnen nach. Manchmal ließ sich im Dunkeln nur ein Lämpchen anzünden. Andererseits geben gerade die Akten des Staatsarchivs Triest ganze Lebensgeschichten frei und zeigen (für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg) politische Verlaufsprozesse, die rekonstruiert werden können.

Das Ziel der vorliegenden Biografie ging dahin, die langen Zeiten und die gesellschaftlichen Umbrüche Istriens in die biografische Darstellung einzuflechten. Dabei wollten damals viele Austro-Italiener ihre Sprache und ihre Gebräuche im eigenen Haus Istrien bewahren, als ob Österreich nicht existierte. Aber galt – in der Zeit vor 1914 – nicht dasselbe für die Polen in Galizien, für die Slowenen in Laibach ­(Ljubljana), für die Kroaten in Agram (Zagreb) und erst recht für die Ungarn in Budapest? Und die Tschechen träumten von einem rein slawischen Prag.

Verschiedene Fragen an Rizzis Lebenslauf stellten sich während des Schreibens der Biografie ein: Wie hat er in den Jahrzehnten bis zum Ersten Weltkrieg seine Rolle zwischen italienischer Nationalität und österreichischem Staat praktiziert? Welche Handlungsspielräume hatte Rizzi, und welche davon hat er letztlich genutzt – kommunal (seit 1889 als junger, mehrfach wiedergewählter Bürgermeister der boomenden Militärstadt Pola, deren Infrastruktur mit der demografischen Explosion im 19. Jahrhundert nicht Schritt gehalten hatte); provinziell (als Landtagsabgeordneter und seit 1903/04 als Landeshauptmann inmitten des italienisch-slawischen Nationalitätenkonflikts, der die Modernisierung der österreichischen Markgrafschaft Istrien in den Hintergrund drängte) sowie reichspolitisch (im cisleithanischen Abgeordnetenhaus und in den Antichambres der k.k. Ministerien in Wien)?

Und schließlich hat Lodovico Rizzi sich – nach dem epochalen Wendepunkt und Untergang Österreich-Ungarns 1918 – bereitgefunden, der faschistischen Regierung Mussolinis als Sonderkommissar für die italienische Stadt Pola 1923 bis 1926 zur Verfügung zu stehen. Welche Motivation hat ihn zu diesem Schritt bewogen?

Am 1. März 1945 ist Rizzi gestorben. In seiner Heimatstadt Pola wurde der Altbürgermeister am folgenden Tag auf dem bürgerlichen Friedhof des Monte Ghiro begraben. Der Hügel liegt hinter dem Eisenbahnhof, einen kurzen Fußweg von der Arena entfernt. Den Scherbenhaufen der faschistischen Gesellschaft musste Rizzi nicht mehr zusammenkehren.

I
Die Anfänge

Kindheit und Jugend

Im Jahr 1859, als der gewaltige Bau des Suezkanals in Angriff genommen wurde1 und das Kaiserreich Österreich einen Krieg gegen das Königreich Sardinien-Piemont führte2, gebar Maria Teodora Rizzi, geborene Cuizza, in Pola ihren zweiten Sohn Lodovico Rizzi.3 Der Tradition folgend, bekam stets der Erstgeborene den Vornamen des Großvaters väterlicherseits: Lodovico. Aber das erstgeborene Brüderchen war bereits 1858 gestorben. So wanderte der Name Lodovico am 20. Februar 1859 zum zweiten Sohn, unserem Protagonisten, über.

Die Vorfahren stammten aus Capodistria. Und verwandtschaftliche Bande mit Capodistria hielten sich jahrzehntelang.4 Aber schon der Vater Nicolò, 1818 im Nordwesten Istriens zur Welt gekommen, verbrachte seine Jugend an der Südspitze der Halbinsel, in Pola. Hier kaufte der Großvater Lodovico damals Grund und Boden. Mit dem österreichischen Kataster (Gemeinde Pola) lässt sich der Rizzische Erwerb immobiler Güter auf die 1830er Jahre datieren.5 An Gemüsegärten, Weiden mit Olivenbäumen und Ackerflächen kamen im Jahr 1837 rund vier Hektar zusammen6, an Bauparzellen, also Ställen, Wirtschaftsgebäuden und einem zweistöckigen Wohnhaus in der Stadt, etwas über 700 m2.7 Ein Anfang war immerhin gemacht. Östlich der Stadt entstand aus den Agrarflächen allmählich die Stanza Rizzi8, das landwirtschaftliche Rückgrat der Familie.9

Im verwaisten Pola, weitab vom expandierenden Handelshafen Triest10, lebten im Jahr 1815 gerade einmal 600 Menschen. Der unglückliche Ort war ein Schatten seiner selbst. Obwohl der Boden in der Umgebung der Stadt Pola sehr fruchtbar war11, zählte man in der menschenleeren Gegend nicht mehr als 40 Bauern.12 Nach der Auflösung der stolzen Seerepublik Venedig13 und infolge der napoleonischen Kriege fiel die exvenezianische Küste Istriens samt Pola im Jahr 1815 endgültig an die österreichische Krone.14 In Italien war Sardinien noch schwach, und Österreich war jetzt, jedenfalls in der Wahrnehmung der europäischen Zeitgenossen, „allmächtig“15. Aus der althabsburgischen, ganz überwiegend slawisch besiedelten Grafschaft Mitterburg (Pisino) im Landesinnern, den Quarnerischen Inseln und dem exvenezianisch-italienischen Westen der Halbinsel mit seiner üppigen Vegetation fügte das Kaisertum Österreich künstlich die neue Markgrafschaft Istrien zusammen.16

Abb_1.jpg

Markgrafschaft Istrien bis 1918

Aus: Wiggermann, Frank, K.u.k. Kriegsmarine und Politik. Ein Beitrag zur Geschichte der italienischen Nationalbewegung in Istrien, Wien 2004, 10.

Dürre und Hagel peinigten die Menschen, diese seit Jahrhunderten „Gefangene[n]“17 des Klimas und der schwach entwickelten Bodennutzung, und setzten dem neu eingeführten Kartoffelanbau zu.18 Manchmal machte die Trockenheit (­siccità) alle Produkte der Äcker zunichte: Weizen, Mais, Wein und Gemüse.19 Vielleicht blieb ein wenig Öl übrig 20, oder die Steinbrüche, die früher schöne weiße oder rötliche Brocken, dann aschgrauen Marmor von den Brionischen Inseln und aus dem Südosten von Pola an die meisten Paläste Venedigs geliefert hatten, warfen etwas Gewinn ab.21

Schiffe und – Jahrzehnte später – die Eisenbahn brachten Wasser nach Istrien – manchmal nur einen Tropfen auf den heißen Stein. Die k.u.k. Kriegsmarine schickte in Trockenzeiten eine nave cisterna, ein Tankschiff, nach Parenzo, ­Rovigno, Cherso oder Lussinpiccolo.22 Das Trinkwasser wurde der Wasserleitung (dem Acquedotto) von Pola entnommen. Zehn Tankwaggons hatte die k.k. Staatsbahn während des schlimmen Dürrejahres 1903 im Einsatz, des trockensten Sommers seit Beginn der Marine-Messungen im Jahr 186823; sie brachten Wasser von Triest nach Istrien.24 Diese vagoni cisterna reichten aber bei Weitem nicht aus.

Industrielle Düngemittel für die häufigen Monokulturen standen nicht zur Verfügung oder wurden – aus Gewohnheit und Vorurteilen heraus – einfach ebenso wenig genutzt25, wie Ackerflächen nicht von Steinen freigeräumt wurden, nicht tiefer gepflügt und zu wenig Mist ausgetragen wurde26, während Grundsteuer, Steuerzuschläge und später die Ablösung der Feudallasten27 viele Landwirte in den Ruin trieben.28 Die größte Plage, die auf dem landwirtschaftlichen Boden Istriens lastete, waren die Schulden (debiti d’imposte und debiti d’esonero).29 Kleine Bauern, seit Mitte des 19. Jahrhunderts befreit von den feudalen Fesseln, wurden gleichzeitig Besitzer ihrer Äcker und Schuldner gegenüber dem Staat.30 Mit den Zahlungen an den Staat war die Bevölkerung um Jahre im Rückstand. Die Armut legte die Wirtschaft der Dörfer und Städtchen über Jahrzehnte weitgehend lahm. Sogar Großgrundbesitzer nahmen Kredite unter Schwierigkeiten auf. Aber Großvater und Vater Rizzi wuchsen in die provinzielle italienische Elite hinein, deren Familien es sich leisten konnten, in den kompakten italienischen Städten an der Westküste zu wohnen.

Während Nicolò seine Energie auf die italienisch-liberale Kommunalpolitik verwendete und im europäischen Revolutionsjahr 1848 – wenn auch nicht in der ersten Reihe der italienischen homines novi – mit dem antihabsburgischen Aufstand Venedigs sympathisierte31, musste die Familie sich doch mit der österreichischen Gegenwart arrangieren. Auf dem Papier zählte die Halbinsel Istrien nach dem Zensus von 1857 immerhin 21 Städte, aber die meisten verdienten ihren Namen nicht – schon gar nicht das malariaverseuchte Nest Pola, dessen Bevölkerung in den 1840er Jahren etwa 1.00032, im Jahrzehnt danach vielleicht 2.000 Seelen erreichte.33 Es waren Ackerbürger, die verstreut in den wenigen Agglomerationen wohnten. Der einzige Verkehr ergab sich aus dem Handel mit Wein, Öl und Holz. Allenfalls Rovi­gno, Capodistria und Pirano, die sich aus etwa tausend Häusern zusammensetzten, konnten den Rang einer wirklichen Kleinstadt beanspruchen.34 Die Familie Rizzi kam mit dem Ende des venezianischen Aufstandes gegen Österreich im Jahr 1849 zu einigem Wohlstand: Das reaktionäre Kaisertum, das seit den 1820er Jahren neue Befestigungsanlagen und eine Garnison in Pola errichtet hatte35, wollte sich militärisch nicht mehr auf das rebellische Venedig verlassen; es entwickelte das „Aschenbrödel“ Pola, das über einen großen und sicheren Naturhafen verfügte36, dessen Gewässer nicht einmal der Ost- und Nordostwind (die stoßweise hereinbrechende Bora) aufzuregen vermochte, systematisch zum zentralen Marinestützpunkt der Monarchie. Von einer gewissen Anzahl umliegender Inseln geschützt und geräumig genug für eine große Flotte, zog die neue Kriegsmarinestation seit 185637 ununterbrochen Kapital und Menschen aus Österreich und Ungarn an. Anfang der 1860er Jahre hauchten ca. 4.000 Soldaten und eine Menge Arbeiter aus Istrien und Dalmatien dieser Stadt neues Leben ein. Im Urbanisierungsprozess der österreichisch-ungarischen Monarchie nahm Pola eine Sonderrolle ein. Als Zentralkriegshafen erfüllte die Stadt eine gesamtstaatlich einzigartige Monofunktion. Weder Industrie noch Eisenbahn verstärkten oder beflügelten das exorbitante Wachstum der Stadt. Es waren die Garnison und der Hafen, die nach Soldaten und Arbeitsmigranten verlangten.38 Unter den militärischen Dienstleistungsstädten ragten Pola in Istrien und Przemyśl in Galizien heraus.39 Die Modernisierung Polas hielt mit dem überproportionalen Wachstum und der sensationellen quantitativen Verstädterung nicht Schritt.

Aber die Marine brauchte Grund und Boden, die Preise stiegen plötzlich. Davon profitierten einige Italiener, die in der Stadt Pola und in den Dörfern Gallesano, Fasana und Sissano lebten, so auch die Rizzis.40 Das österreichische Kaiserreich gebar die Neustadt Pola, und die Familie Rizzi lebte als Nutznießer des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs an der Südspitze Istriens.41 Und dann heiratete die zweite Tochter Maddalena, eine von Lodovico Rizzis älteren Schwestern, auch noch einen österreichischen Seeoffizier, Giuseppe Afan De Rivera (1841–1905).42 Der spätere k.u.k. Fregattenkapitän entstammte einer adlig-neapolitanischen Familie andalusischen Ursprungs. Giuseppes Vater hatte in Süditalien für die Bourbonen gekämpft, also gegen Giuseppe Garibaldi und die Einigung Italiens, und das österreichische Exil in Triest gewählt. Wie aber hat der liberale Nicolò Rizzi über diese Ironien der Familiengeschichte gedacht?

Ausgedehnter Land- und Forstbesitz gestatteten ihm ein ebenso unabhängiges wie auskömmliches Leben auf dem fruchtbaren Ackerboden Südistriens, und der philologische Autodidakt, „wenn schon wohlhabend doch keineswegs im Ueberfluße“43 schwimmend, beteiligte sich über Jahrzehnte an der Besorgung der Polaer Gemeindeangelegenheiten und fand Zeit, um sich breite archäologische und kunsthistorische Kenntnisse anzueignen. Schon frühzeitig, am Anfang der 1850er Jahre, wurde er, wenn auch nur vorübergehend, mit der Leitung weiterer Ausgrabungen in Südistrien betraut. War das Altertum, wie der Preuße Wilhelm von Humboldt um 1806 in Rom schrieb, die „bessere Heimath“, zu der auch Nicolò jedes Mal gern zurückkehrte?44

Im angenehm milden Mittelmeerklima überstrahlte die römisch-venezianische Vergangenheit nämlich alles, was die österreichische Gegenwart der folgenden Jahrzehnte zu bieten hatte − jedenfalls aus italienischer Perspektive.45 Die Denkmäler der römischen Kolonie Pietas Julia brachten die Augen der wenigen Touristen zum Staunen, und man kann sich lebhaft vorstellen, wie das Rizzische Kindermädchen den kleinen Lodovico im heißen Sommer, den allenfalls die Winde mäßigten, und im milden Winter durch ungepflasterte und dreckige Gassen der Stadt zu den Überresten der Antike führte.46 Im Leben des Kindes überwogen sicherlich die Dinge der langen Dauer, die sich wiederholten oder kaum veränderten. Die Jahreszeiten, religiöse Feste und Feiern kamen und gingen, und das kulturelle Gedächtnis der römischen Antike speiste die Erzählungen der erwachsenen Italiener. Die etwas schnelleren Rhythmen in Ökonomie und Gesellschaft Istriens wird der Knabe kaum wahrgenommen haben.

Wie ein Spinnennetz legten sich Straßen und Plätze um den alten Haupthügel Polas mit dem venezianischen Kastell aus dem 17. Jahrhundert.47 Von der Festung aus konnte man einen schönen Rundblick auf alle Stadtteile genießen, die sich – wie in Rom – über sieben Hügel erstreckten. Einen einheimischen Reisebegleiter brauchten in dieser übersichtlich angelegten Siedlung selbst die ausländischen Gäste nicht – so jedenfalls der stets zur Sparsamkeit anhaltende Reiseführer Baedeker, laut dem man freiwillig keine Trinkgelder hergeben sollte.48 Wie viele Auswärtige werden Pola in diesen Jahren des historischen Wandels einen Besuch abgestattet haben? Das Reisen war in der Mitte des 19. Jahrhunderts immer noch etwas exklusiv Adlig-Bürgerliches und ziemlich zeitraubend. Das Reisehandbuch im roten Einband mit Goldprägung – der zum Klassiker sich entwickelnde Baedeker – zeigte Pola von seiner besseren Seite. Lärm, Elend, Gestank und Prostitution in der Altstadt verschwieg der unbestechliche Reiseführer aus Deutschland beharrlich. „Gibst Du mir, geb ich Dir“ – so lautete das ungeschriebene Gesetz zwischen den um ihre Lichtseite besorgten Städten, die in den Baedeker aufgenommen werden wollten, und dem seine Auflage steigernden bürgerlichen Reisehandbuch.49 Die lokalen Zeitungen zogen den deutschen Baedeker gelegentlich als Referenzwert heran. Das Polaer Tagblatt drohte 1906 mit schlechten Noten im Reiseführer, sollten sich die hygienischen Verhältnisse in der Stadt, insbesondere die Fäkalienabfuhr, nicht bessern.50

Wohl das großartigste architektonische Werk war das – in seinem äußeren dreistöckigen Bau fast unversehrte und in den Jahren vor Lodovico Rizzis Geburt Restaurationen unterzogene – römische Amphitheater.51 Die Arena blickte „über den hart angränzenden weiten Hafen“52; sie lag damals noch näher am Meer als heute: „L’anfiteatro! … Il mondo intero non tiene un suo pari!“53 – rief der Advokat und Historiker Pietro Kandler im Jahr 1845 begeistert aus. Und er hat Recht. Seit Jahrhunderten flößt einem dieser kolossale Bau aus istrischen Kalksteinen Ehrfurcht vor der römischen Antike ein. Die ellipsenartig geformte Arena, deren massive äußere Ringmauern besser erhalten sind als jene in Rom oder Verona, lehnt sich landschaftlich reizvoll an eine Erderhebung an, und Erzählungen über einen schweißtreibenden Tag im antiken Kampfrund, über todesverachtende Gladiatorenkämpfer oder gnadenlose Tierhetzen54 dürften unzweifelhaft die Fantasie des heranwachsenden italienischen Kindes beflügelt haben. Oder doch nicht?

Geschichtsvergessen ließen die Einwohner Polas das Innere der Arena verwahrlosen.55 Von der eigentlichen Arena oder den Zwingern für die wilden Tiere war keine Spur mehr zu sehen. Disteln und Kräuter bedeckten den Boden.56 Für die Erhaltung des Monuments wurde in Lodovicos Kindertagen so gut wie nichts getan.57 Mit einer ersten kostspieligen Mauer und Eisengitter abgesperrt wurde das Amphitheater erst Mitte der 1870er Jahre.58 Damals war Lodovico Rizzi bereits 16 Jahre alt. Der österreichische Staat und Bürgermeister Angelo Demartini wollten das altehrwürdige Monument vor Vandalismus und grasenden Tieren schützen. Bis dahin taten sich Schafe und Ziegen, Ochsen und Esel im verschmutzten Innern der Arena, aber auch auf dem römischen Forum oder auf der Piazza Port’Aurea gütlich.

Die Zeitung La Provincia dell’Istria richtete 1868 einen flammenden Appell an die Verantwortlichen in Staat, Land und Kommune, indem sie forderte, das römische Pola, „il panteon d’ogni istriana grandezza“59, zu konservieren. Immer wieder klagte das Blatt in den folgenden Jahren über den unschönen Anblick der vernachlässigten und zunehmend verfallenden Arena.60 Es waren Lodovico Rizzis Schuljahre. Auch wenn die Stadt Pola einen Konservator für die antiken Stätten ernannt hatte, so stand doch der österreichische Staat, der Eigentümer der Arena61, in der Pflicht. Eine Petition des Istrianer Landtages von 1868, die Altertümer vom Schutt freizuräumen62, ließ die k.k. Regierung liegen.63 Bis zur Ordnung und Katalogisierung der römischen Überreste im musealen Provisorium des Augustustempels, einem wahren „Trümmermagazin“64, gelangten die Italiener nicht65; inventarisiert wurden die Gegenstände erst Anfang der 1890er Jahre.66 Vernachlässigt lagen die antiken Inschriften im Augustustempel herum, einige auch im Amphitheater, im bischöflichen Garten oder in Kirchhöfen und drohten mit der Zeit verlorenzugehen.67 Pläne für ein echtes archäologisches Landesmuseum wurden jahrzehntelang gewälzt. Für größere Veranstaltungen verwendeten die Einheimischen die gut erhaltene Fassade des Amphitheaters damals auch nicht, obwohl der Ausblick durch die steinernen Bögen auf das Meer von stupender Wirkung war.

Grafiken der 1850er Jahre verklären die hügelige Landschaft und das friedlich eingebettete Amphitheater zu einer bukolischen Welt von Hirten, Reisenden und Ammen.68 Während die europäischen Künstler diese rein römische Idylle schufen, waren zeitgleich in den 1850er Jahren Tausende von Händen damit beschäftigt, die Befestigungen und das große kaiserlich-königliche Arsenal an der Südseite des natürlichen Hafens von Pola zu bauen, für das ganze Hügel geebnet werden mussten.69 Die österreichisch-ungarische Kriegsmarine zog in Pola ein. Das antike römische Munizipium verwandelte sich in eine große, multilinguale Kaserne. Indessen demolierte in Wien ein Heer von Tagelöhnern die militärisch obsolet gewordenen Befestigungsanlagen und machte den Weg frei für die repräsentative Ringstraße.70

Eine lange Straße führte in Pola Einheimische wie Flaneure von alters her von der Arena zu Markt und Hafen zurück. Aber seewärts hielt die kaiserlich-königliche Marine die Stadt Pola im eisernen Griff. Zwei feste Türme überwachten seit 1872 den Hafen, der als Flottenstation immer wichtiger wurde.71 An der Oberfläche der österreichischen Gegenwart wogten die Ereignisse ruhelos. Während die anderen Städtchen an der Westküste Istriens, in denen das kommerzielle und politische Leben der Halbinsel stattfand, ihren italienischen Charakter bewahrten, schob sich in Pola, seitdem man die Stadt zum zentralen Stützpunkt der österreichisch-ungarischen Kriegsmarine erhoben hatte, ein Neu-Pola aus Magazinen und Werkstätten, Wohnblocks und Parks an die römisch-italienische Altstadt heran.72 Südwestlich vom Handelshafen wurde der große Kriegshafen ausgebaut, im Norden begrenzt von der – in eine militärische Schiffswerft verwandelten – früheren Oliveninsel, im Südosten vom k.k. Seearsenal eingefasst. Eine gewaltige, kilometerweite Mauer trennte das Seearsenal von der italienischen Kommune, nahm der Stadt den Blick auf das Meer und hielt die lokale Politik im Stadthaus (Municipio) auf Distanz. Ein trostloses Bild muss die Arsenals(ring)straße73 wegen der langen kahlen Mauer geboten haben.

Der Dualismus zwischen österreichischer Marine und italienischer Bürgerschaft prägte die konfliktreichen Jahrzehnte bis zum Ersten Weltkrieg. Wann hat Lodovico Rizzi zum ersten Mal ein Kriegsschiff besichtigt? Und wie hat der Vater, ein liberaler Sympathisant des Risorgimento, seinem Sohn die Proklamation des Königreichs Italien 1861 – und dann auch noch auf Österreichs Kosten in Oberitalien (Lombardo-Venetien) – vermittelt? Die österreichische Regierung weigerte sich vorläufig, den neuen territorialen Status quo in Italien, insbesondere die Annexion eines großen Teiles der päpstlichen Provinzen an das neue Königreich Italien, anzuerkennen.74 Die diplomatischen Beziehungen ruhten einige Jahre lang.

In erster Linie musste Pola damals um seinen guten Ruf als Stadt kämpfen. Ihm eilte in den 1860er Jahren die üble Fama eines malariaverseuchten Nestes voraus.75 Auf den ungepflasterten engen Gassen sammelte sich der Schmutz in stinkenden Pfützen.76 Ganz anders der glückliche Freihafen Triest. Haben Nicolò und Lodovico Rizzi, die an mehreren Tagen in der Woche mit dem Dampfer verreisen konnten, den klimatischen und zivilisatorischen Vorsprung Triests neidlos anerkannt? Die kosmopolitische Stadt der Händler, Philanthropen und Religionen erfreute sich, anders als die vernachlässigten venezianischen Flecken Istriens, eines guten Klimas, einer sauberen Luft und einer lieblichen Lage. Und endemische Krankheiten waren in Triest Fehlanzeige, wie der Historiker Pietro Kandler und der Financier Pasquale Revoltella stolz in ihrem zeitgenössischen Führer durch Triest vermerkten.77

Doch hatte auch Triest seine Schattenseite, nämlich die jahrzehntelang verwahrloste Altstadt oberhalb des Domplatzes, „ein häßliches Labyrinth enger und schwarzer Gassen, die einen anmuten wie eine Höhle oder ein unterirdischer Keller, den man von fröhlichen Sonnenhügeln her betritt“78. Diese Metaphern ließen sich ohne Weiteres auf Polas altrömischen Stadtkern übertragen. Im Jahr 1902 veröffentlichte die Augenzeugin Ricarda Huch diese autobiografisch gefärbte Schilderung der ziemlich elenden Proletariergassen in Triest. Immerhin: Seit die Eisenbahn direkt zwischen Triest und Wien verkehrte79, nahm im 19. Jahrhundert auch die Zahl der Karren ab, die auf der Straße von Triest hinauf nach Opicina viel Staub aufwirbelten. Und das Aschenputtel Pola? Erst in den 1880er Jahren stand der Ort schließlich besser da als manche andere Stationen an der Adria. Aber während Rizzis Kindheit überfiel die Schlafkrankheit regelmäßig Hunderte von Marineangehörigen.

Zwischen Borawetter und Sciroccowinden verbrachten die Menschen in der südeuropäischen Küstenstation Pola zwar winterliche Tage mit milden Temperaturen und strahlend klarem Himmel, und die Palme gedieh in Pola so gut wie in Nizza80; den „Tribut der Armut“ 81, nämlich Tuberkulose und Typhus, zahlte die notleidende Stadt aber trotzdem, denn das Klima konnte die mangelhafte Ernährung breiter Bevölkerungskreise nicht wettmachen. Mit dem Proletariat kam Lodovico wohl kaum in Berührung. Die armen Menschen hausten, wie eine marinenahe, gleichwohl den statistischen Tatsachen Rechnung tragende Studie noch 1886 monierte, im „Gerümpel und Gewirre von unsauberen, licht- und luftarmen Häusern und Häuschen mit höhlenartigen Eingängen“82. Und das Seearsenal, mittlerweile wichtigster Brotgeber Istriens, machte keine Anstalten, die Beseitigung der Wohnungsnot in die ärarische Hand zu nehmen oder die unkontrollierte Bautätigkeit irgendwie zu regulieren.83 Wenn es regnete und Fußgänger ganz nah an den Häusern der Altstadt entlangliefen, um nicht allzu nass zu werden, mussten sie sicherlich aufpassen, dass sich nicht der Inhalt eines Nachttopfes über sie ergoss.

Nennenswerte andere Industrieansiedlungen besaß Pola nicht.84 Die Stadt selbst umgaben bis zum 20. Jahrhundert riesige unkultivierte Flächen.85 Die krisengeschüttelten landwirtschaftlichen Betriebe, die sich überhaupt halten konnten, wurden zwischen 1860 und 1870 von mehreren Trockenperioden heimgesucht, die ihr Übriges zur sozialen und ökonomischen Unterentwicklung der Halbinsel beitrugen und keinen Boden für Arbeitsplätze bereiteten.86 Auf direkte und indirekte Steuern des Staates Österreich legten Land und Kommune hohe Zusatzabgaben (Addizionali), die viele Einwohner Istriens an die Wand drückten. Wenn das Erheben dieser äußerst hohen Umlagen nicht funktionierte, engten Schuldenlast und geringe staatliche Hilfen den finanziellen Spielraum des Istrianer Landtags weiter ein.87

Gewohnheit, Brauchtum und die öffentliche Meinung formten das italienische Bewusstsein der Familie Rizzi bis ins Innerste. Den Lebenslauf des Sohnes legten die bürgerlichen Konventionen der tonangebenden Schicht fest. Diese italienischen Clans tradierten die Passion für romanische Vergangenheit und pflegten einen ausgeprägten bildungsbürgerlichen Ehrgeiz. Der Vater Nicolò verkörperte die konservativ-liberale Elite einer Agrargesellschaft, die dem jungen Nationalstaat Italien huldigte und keine Sympathien für die Verwandlung Polas in einen Kriegshafen empfand. Allerdings wussten die Rizzis ihre privaten Interessen gegenüber der österreichischen Verwaltung zu schützen und profitierten – wie oben erwähnt – von der Wertsteigerung ihres Grundes und Bodens.88

Der idealtypische istrisch-italienische Bürger besaß Kenntnisse über das antike Istrien und verehrte Dante Ali­ghieri. Im 19. Jahrhundert war der Dante-Kult eine nationalistische Angelegenheit. Die kanonisierte Erinnerung an die Natur und das Mittelmeer, an Kaiser Augustus und die römische Provinzialisierung Istriens, an Dante, den seine Heimatstadt Florenz zu Lebzeiten so schnöde behandelt hatte, und an den Quarnero, den er in seiner Göttlichen Komödie verewigt hatte, speiste das kommunikative Gedächtnis der Italiener bis in die damalige Gegenwart. Jedes Schulkind konnte diese historischen Stichwörter aufsagen und wusste um ihre Bedeutung. Napoleon spielte zwischen 1806 und 1815 eine eher zwiespältige Rolle. War er der Zertrümmerer der Seerepublik Venedig oder der Erneuerer der italienischen Einheit? Eine beispielhafte Geschichtslektion erteilte am Ende des 19. Jahrhunderts das Polaer Blatt Il Popolo istriano:

„Und die Natur, hier bei uns, und das Schicksal und alles will, dass dieses Land italienisch sei. Es nicht so zu wollen, bedeutet, das Land vom Fortschritt auszuschließen, es abzutrennen von der Welt, es für immer umzubringen. Nicht Augustus, der das Land in die elfte89 Provinz seines italischen Reiches einschloss, – nicht Dante, der unserem Quarnero den Auftrag anvertraute, das Ende Italiens zu benetzen, – nicht Napoleon, der nach 18 Jahrhunderten das Werk des Augustus erneuerte, – nicht die Geografen, nicht die Dichter, nicht die Staatsmänner haben die Italianität dieser Provinz erfunden. Sie ist der Provinz angeboren; sie ist eine Notwendigkeit ihrer Existenz geworden, eine unerlässliche Bedingung ihres Wohlergehens. Weder Dichter noch Geografen noch Staatsmänner können die Italianität zerstören. So sieht das Geheimnis aus.“90

Vater Nicolò, der sich seit den 1840er Jahren für die Erforschung und Ausgrabung der römischen Antike in Pola begeisterte und engagierte91, wirkte 1884 im Gründungskomitee der Società istriana di archeologia e storia patria mit. Zusammen mit weiteren profilierten italienischen Köpfen, darunter die Politiker Andrea Amoroso und Felice Glezer sowie die Historiker Bernardo Benussi und Carlo De Franceschi92, berief er die konstituierende Sitzung der Gesellschaft ein. Am 24. Juli 1884 trafen sich 45 Mitglieder in Parenzo.93 Die Liste der Gründungsväter liest sich wie ein Who’s who des italienischen Istrien – ein Lexikon der bürgerlich-liberalen Sippen, Namen und Netzwerke: Camus (Pisino), Costantini (Pisino), De Franceschi (Pisino), Del Bello (Parenzo), Fragiacomo (Pirano), Madonizza (Capodistria), Hortis und Morpurgo (Trieste), Mrach (Pisino), Polesini (Parenzo), Venier (Parenzo), Vergottini (Parenzo), Vidulich (Parenzo).94 Manche dieser Familien, etwa die Polesini, besaßen ihr eigenes Archiv. Diese illustre Gesellschaft gab bis 1914 – und teilweise darüber hinaus – den politischen Ton in Istrien an.

Die Società istriana di archeologia e storia patria verlieh der wissenschaftlichen Erforschung von Geografie und Vergangenheit wichtige Impulse. Der Präsident Andrea Amoroso, der die Geschäfte bis zu seinem Tod im Jahr 1910 leitete, und das Direktorium gaben seit dem Gründungsjahr 1884 die Atti e Memorie heraus; ein schwergewichtiges Jahrbuch, das – fleißig redigiert – von führenden historischen Vereinen und Gesellschaften im Adriaraum rezipiert wurde.95 Prähistorische, römische und mittelalterliche Forschung nahm sich der Verein vor – und nicht zuletzt Storia Patria, also die italienische Vaterlandsgeschichte bis in die Gegenwart.96 Insofern wirkte die istrische Gesellschaft bewusst im italienisch-nationalen Sinne, im Grunde bis heute.97 Auf Archäologie und römisch-venezianische Herkunft gründete sich das italienische Selbstbewusstsein; man war stolz darauf, im Besitz der istrischen Leitkultur zu sein. Die Mitglieder sicherten Inschriften, sammelten Archivalien und führten Ausgrabungen in Istrien durch, die von den italienisch-liberalen Städten des Landes finanziell unterstützt wurden.98

Leuchtendes Vorbild der wissenschaftlichen Arbeiten war der Epigrafiker und Universalgelehrte Theodor Mommsen (1817–1903). Der liberale Titan der deutschen Altertumswissenschaft hatte 1857 und 1866 Istrien bereist99, um Material für sein Corpus Inscriptionum Latinarum (CIL) zu sammeln. Pietro Kandler (1804–1872) und Tomaso Luciani (1818–1894) waren ihm damals in Triest und Albona freundschaftlich zur Hand gegangen. Einige Jahre später (1872) veröffentlichte Mommsen die Ergebnisse seiner epigrafischen Reisen im fünften Band des CIL, in dem er römische Inschriften aus Istrien edierte (Teilband 1). Ob Mommsen, als er 1857 in Pola das Amphitheater aufsuchte, auch Bekanntschaft mit Nicolò Rizzi gemacht hat?

Noch drei Jahrzehnte später, im Jahr 1886, bestätigte das k.k. Ministerium für Kultus und Unterricht den Autodidakten Nicolò Rizzi in seinem Ehrenamt als Konservator für die frühgeschichtlichen und römischen Stätten im Gebiet von Pola.100 Regelmäßig korrespondierte Rizzi senior mit der k.k. Zentralkommission zur Erforschung und Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmale in Wien, etwa über Erhaltungsarbeiten am Augustustempel, am Sergierbogen und dem Amphitheater oder über Funde in der Domkirche zu Pola.101 Interessierten Besuchern gewährte er Einlass in die Arena.102 Eigene wissenschaftliche Beiträge verfasste Nicolò Rizzi, anders als Amoroso oder der fleißige Sammler und Schreiber Benussi, bis zu seinem Tod 1898 nicht.103 Dutzende römischer Inschriften hat der epigrafische Dilettant allerdings entdeckt und gesammelt, etwa beim Demolieren der Polaer Stadtmauern104 seit den 1850er Jahren.105 Oder Nicolò Rizzi hat vielleicht an der Edition von Dokumenten mitgewirkt, die das Direktorium der Società istriana di ­archeologia e storia patria kollektiv besorgte. Frisch promoviert und nach Pola zurückgekehrt, trat wie selbstverständlich der Sohn Lodovico 1885 der historischen Gesellschaft mit Sitz in Parenzo als Mitglied bei.

Vor 1861 hatte der Vater Nicolò keine politischen Ämter innegehabt.106 In der Korrespondenz zwischen dem aristokratischen Großgrundbesitzer Gian Paolo Polesini, dem ersten italienisch-liberalen Landeshauptmann von Istrien 1861, und dem Gelehrten Pietro Kandler hat Nicolò ebenfalls keine Spuren hinterlassen – anders als die illustre Riege um Carlo De Franceschi, Amoroso und Francesco Vidulich.107 Aber die bescheidene Ämterlaufbahn führte den Autodidakten Nicolò Rizzi, der von 1864 bis 1869 Bürgermeister von Pola war, sogar in den Istrianer Landtag. So gehörte er im Jahr 1870 zu jenen italienischen Abgeordneten, die – unabhängig von der österreichischen Regierungsgewalt und Protektion – das Landesparlament in Parenzo bezogen.108 Der landtägliche Sitzungssaal, den die Familie Polesini einst aus dem Schiff der alten Kirche San Francesco gewonnen hatte, blieb in Privatbesitz.109

Die Rizzis, gut bekannt mit den anderen wichtigen italienischen Familien Istriens, waren 1870 endgültig im politischen Establishment der österreichischen Provinz angekommen; sie bewegten sich mittlerweile in einem feinmaschigen Beziehungsnetz, das sich über die städtischen Eliten der Halbinsel legte. Diese bürgerlichen Zirkel gingen ihre eigenen Wege in Österreich und waren bemüht, den spezifisch italienischen Anstrich der Städtchen zu wahren und ihrem Nachwuchs eine klassische Erziehung angedeihen zu lassen.

Der Sohn Lodovico wuchs in diese urban-bürgerliche, in den Küstenstädten politisch-kulturell definierte Sphäre des Italienertums wie selbstverständlich hinein. Zu keinem Zeitpunkt seines Lebens hat er Handlungsspielräume jenseits der väterlichen Tradition ausgelotet. Für die gymnasiale Bildung kam nur das einzige k.k. italienische Ober-Gymnasium (Ginnasio superiore) in Capodistria infrage. Es war die erste Wahl des istrischen Bürgertums. Die staatliche humanistische Lehranstalt, 1852 aus einem kommunalen Unter-Gymnasium hervorgegangen, führte in acht Jahren zum Abitur.110 In der Phase des österreichischen Neoabsolutismus (1852–60) wurde an den nichtdeutschen Gymnasien die deutsche Sprache als obligatorisches Schulfach unterrichtet111, und in Capodistria mussten die Professoren auch das Fach Geschichte bis zum Abitur (Klassen VII und VIII) in der privilegierten Sprache Deutsch übernehmen. Diesen sprachlichen Dualismus hob ein Ministerialerlass mitten im laufenden Schuljahr 1867/68 auf.112 Italienisch wurde zur alleinigen Unterrichtssprache bestimmt und Deutsch der Status einer frei wählbaren Fremdsprache (materia ­libera) zugewiesen.113 Indem sie die faktische Staatssprache Deutsch zum fakultativen Nebenfach degradierte, zollte die österreichische Schulverwaltung der staatsgrundgesetzlichen Neuordnung 1867 und damit dem Ziel eines cislei­thanischen Nationalitätenstaates Tribut.114 Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger entzog der deutschen Sprache die Grundlage, in allen Kronländern der westlichen Reichshälfte zum obligaten Lehrgegenstand erhoben zu werden.115 Allein die – in Capodistria nicht vorhandenen – Schüler deutscher Nationalität mussten infolge des ministeriellen Erlasses weiterhin vier jahrgangsübergreifende Kurse in der Landessprache Deutsch belegen (ebenso wie die slowenischen und kroatischen Mitschüler den slawischen Unterricht besuchen mussten). Allerdings setzte sich das zentralstaatliche Interesse 1873 wieder durch, woraufhin die deutsche Sprache zumindest wieder zu einem Pflichtfach (materia obbligatoria) avancierte.116 Der österreichische Einheitsstaat mit deutscher Einheitssprache kam nicht zustande, aber die überwiegend deutsche Lehrpraxis an den österreichischen Universitäten verlangte zweifellos danach, dass man den Schülern des Küstenlandes mittels der landesfremden Sprache Deutsch einen Zugang zur wissenschaftlichen Ausbildung verschaffte. Um die Gymnasiasten an das neue Obligatorium heranzuführen, richtete die Schulleitung in Capodistria außerordentliche Deutsch­kurse ein.117

Nachdem Rizzi das erste Mittelschuljahr mit Privatunterricht verbracht hatte, wurde er 1870 in die zweite Klasse des k.k. Ober-Gymnasiums von Capodistria eingereiht. Mittlerweile war der Suezkanal, an den sich viele Hoffnungen auf einen maritimen Aufschwung Istriens knüpften118, eröffnet worden. Wie weit entfernt war dagegen der Deutsch-Französische Krieg. Allerdings: Nach Abzug der französischen Soldaten aus Rom, die in den Krieg gegen Preußen zogen, besetzten italienische Truppen die päpstliche Stadt.

Rizzi besuchte die Lehranstalt in Capodistria ununterbrochen bis zum Abitur im August 1877.119 Obwohl der Umzug nach Capodistria den jungen Lodovico von Pola und damit von der engen Bindung an seine Familie trennte, tauchte er in Capodistria in dasselbe bildungsbeflissene italienisch-liberale Milieu ein, dem seine Eltern in Pola angehörten. Leider sind keine unmittelbaren persönlichen Zeugnisse aus seinen Schuljahren erhalten. Seine Deutschkenntnisse hat der Gymnasiast Lodovico perfektioniert. Bis zur Wiedereinführung des obligatorischen Deutschunterrichts 1873 wird er den freiwilligen Kurs in der Hauptsprache Österreichs mit Sicherheit belegt haben. Das schuldete der Sohn den familiären Erwartungen an die künftige akademische Karriere. Die Bedeutung der deutschen Sprache war im Gedächtnis der Italiener fest verankert.120

Im Schuljahr 1874/75 erhielt Lodovico folgenden Stundenplan (Klasse VI): zwei Stunden Religion, drei Stunden Italienisch, fünf Stunden Latein, fünf Stunden Altgriechisch, vier Stunden Deutsch, drei Stunden Geografie und Geschichte.121 Für die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer standen insgesamt fünf Stunden zur Verfügung. Der Jahresbericht verzeichnet Lodovico Rizzi in der Ehrenliste (elenco d’onore) der Lehranstalt – er war also, nach Benehmen und Leistung, unter den Musterschülern.122 Mit Vergil und Homer erwarb der fünfzehnjährige Klassenprimus jene exklusive klassische Bildung, die Vater Nicolò vom intellektualistischen Unterricht eines altsprachlichen Ober-Gymnasiums erwarten konnte. Edoardo Visintini, der naturwissenschaftliche Lehrer, wird Lodovico Rizzi dagegen allenfalls Grundkenntnisse der Anthropologie und Zoologie beigebracht haben. Ganze zwei Wochenstunden wurden ihm dafür eingeräumt. In den Jahresberichten rutschten die scienze naturali nicht zufällig auf den vorletzten Platz der Stundentafeln – gefolgt vom Schlusslicht, der philosophischen Propädeutik, in den beiden oberen Jahrgängen VII und VIII. Die Lerngegenstände am humanistischen Gymnasium wurden augenfällig „hierarchisiert“: Die Bildung kreiste in erster Linie um die philologisch-literarischen Inhalte.123 Kanonisch waren die religiösen Riten: Pflichtgemäß wurde die Schülerschaft zur katholischen Messe geführt. Erstkommunion und Kaisergeburtstag gehörten zum Schulprogramm in der Kirche. Im Unterricht handelten die Jungen Glaube und Religion nicht diskursiv aus, sondern sagten unhinterfragbare römische Wahrheiten auf: „La chiesa cattolica è la vera chiesa di Gesù Cristo.“ (Klasse IV).124 Es zählte die Kultpraxis in der Konkathedralkirche von Capodi­stria, nicht das individuelle Glauben und Verstehen.

Im Alltag der italienisch-liberalen Partei, der politischen Heimat des Vaters Nicolò, standen Religion und römisches Papsttum hintan. Hatte die Kurie die italienische Einigung nicht bis 1870 behindert? Die liberale Provinzelite umwarb das katholische Leben in den italienischen Gemeindekirchen nicht, aber sie wetteiferte auch nicht mit dem notorischen Kirchenfeind Giuseppe Garibaldi; sie ließ den römischen Katholizismus auf sich beruhen. Der Mangel an italienischem Priesternachwuchs tat ein Übriges, und der Bischof von Parenzo-Pola, Juraj Dobrila (seit 1857), das vierte kroatische Oberhaupt auf diesem Stuhl, war den Italienern fremd.125 Im Istrianer Landtag optierte er für die Seite der Südslawen. Die führenden italienischen Familien identifizierten sich in erster Linie mit dem Geschick des Königreichs Italien, das mit der Einnahme des päpstlichen Kirchenstaates im Jahr 1870 seine vorläufige Einheit vollendete.126

Das Misstrauen richtete sich insgesamt gegen die ungeliebten slawischen Bischöfe der Diözesen Triest-Capodi­stria, Parenzo-Pola und Veglia.127 Während liberale Italiener und Bischöfe über Schulfragen stritten, fielen 1869 sogar die üblichen religiösen Zeremonien vor dem Zusammentreten des Landtages aus. Wenig später – und kurz vor Lodovico Rizzis Einschulung im Sommer 1870 – ließen sich in ­Capodistria italienisch-konservative Ackerbürger, wohl der Unterschicht, zu Ausschreitungen gegen die angeblich ungläubige liberale Jugend der Stadt hinreißen.128 Auch wenn das ein Ausnahmefall war, dürfte die Familie Rizzi diesen doch mit Staunen zur Kenntnis genommen haben. Und der Sohn Lodovico besuchte später den Religionsunterricht eines Kanonikus, der im Jahr 1869 einen jungen Kollegen hatte daran hindern wollen, eine andere antike Chronologie zu unterrichten als die biblische Geschichte der fünf Bücher Mose.129 Besagter Katechet Giovanni de Favento Apollonio stand politisch auf der habsburgtreuen Seite und war Mitglied des zweiten Istrianer Landtags. Im Unterricht wird der Schüler Lodovico allmählich die Differenzen zwischen römischem Dogma und liberaler Bürgerkultur des Elternhauses wahrgenommen haben. Immerhin: Monsignor Favento hatte sich erhebliche Verdienste um die Neugründung des italienischen Gymnasiums in Capodistria erworben, nachdem die Österreicher das alte deutschsprachige Institut 1842 nach Triest transferiert und Istrien ohne vollständige Mittelschule hinterlassen hatten.130 Bei Don Faventos Tod im Jahr 1890 wählte La Provincia dell’Istria, das gelehrte Blatt der Familie Madonizza in Capodistria (1867–1894), warme Worte des Dankes für den italienischen Priester. Die Mehrheit des istrischen Klerus war slawisch – und dessen geistige Zentrale, wie die Italiener unablässig behaupteten, das kroatische Zagreb (Agram).

Ob Lodovico Rizzi während seiner Schulzeit die frei wählbare Fremdsprache „Slavo“ (oggetto libero) belegt hat? Wir können die Frage ruhig verneinen. Rizzis sechste Klasse absolvierten im Schuljahr 1874/75 zehn Schüler, davon neun Italiener und ein Slawe.131 Dieser Slowene oder Kroate wird als einziger Junge den zweistündigen Aufbaukurs in slawischer Sprache besucht haben. Freiwillige Teilnehmer am Unterrichtsfach Slawisch stellt die Statistik nicht fest.132 Und die Abiturunterlagen des Gymnasiums bestätigen die Annahme. Rizzis italienisches Reifezeugnis besticht durch herausragende fachliche Leistungen, aber die dem slawischen Sprachangebot vorbehaltene Spalte blieb leer.133 Die geschlossene italienisch-liberale Welt zeigte bestenfalls Gleichgültigkeit (noncuranza) gegenüber dem Kroatischen134, und diese Indifferenz gegenüber der zweiten istrischen Ethnie drang verhängnisvollerweise in alle Bevölkerungsschichten ein, wie die folgenden Jahrzehnte unter Beweis stellen sollten.

Indes machte es der muttersprachliche Gebrauch der slawischen Sprachen den Italienern nicht leicht: Eine kleine Minderheit der nordistrischen Bewohner sprach slowenisch, und das Kroatische wurde während Rizzis Schulzeit in den unterschiedlichsten dialektalen Varianten gebraucht und sollte sich langsam zur Schriftsprache entwickeln.135

Kleine Klassen waren am Gymnasium – anders als an vielen hoffnungslos überlaufenen Volksschulen des Landes – die Regel. Selten füllten mehr als 20 Jungen ein Klassenzimmer. Die Mehrheit der 126 Zöglinge rekrutierte sich 1874/75 aus dem größeren Einzugsgebiet von ganz Istrien (59 Buben). Ihnen standen 46 Eleven mit dem Geburtsort Capodistria gegenüber, die zuhause wohnen bleiben konnten. Fazit: Das k.k. Ober-Gymnasium, untergebracht im alten venezianischen Schulgebäude von 1677, zog – auch mangels Alternativen – Gymnasiasten von Pola bis Triest an und wurde nahezu ausschließlich von italienischen Familien gewählt (1874/75: 117 Italiener, sieben Slawen und zwei Griechen). Das war die Regel während Rizzis Schulzeit.136 Die Lehranstalt stand unter der Leitung des Direktors Giacomo Babuder. Die Familie Babuder war slowenischer Herkunft, aber – vielleicht gerade aus diesem Grund – „italianissimo“137. 1834 in Capodistria geboren, hatte Babuder klassische Philologie an der Universität Wien studiert. Seit 1861 unterrichtete er am k.k. italienischen Ober-Gymnasium seiner Heimatstadt, dessen Leitung er 1871 mit „Entschließung des Kaisers“ übernahm.138

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