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Alfred Komarek

Blumen für Polt

Kriminalroman

Kinderglück

Gendarmerieinspektor Simon Polt bremste sein altmodisches Fahrrad ab, atmete tief durch und schaute übers Land. „Grüß dich, Frühling“, sagte er.

Noch waren viele Ackerflächen schwarz, und die Rebstöcke wirkten kahl, obwohl sie schon winzige Blattansätze hatten. Nach einem milden Winter trugen einige Bäume schon frisches Laub, und im weithin gedehnten Schachbrettmuster der Felder schuf die Wintergerste grüne Flächen. Vor allem aber wucherte und blühte das Unkraut an den Wegrändern. Dort, wo das Gelände steiler abfiel, oder auch an Hohlwegen, standen zart begrünte Akazienstauden, bald würden Weißdorn und Flieder blühen.

Die Sonne wärmte schon so richtig an diesem frühen Nachmittag. Polt stand im Schatten einer kleinen Baumgruppe, die eine verwitterte Mariensäule umfing. Hier war der Weg vom Talboden aufwärts zu Ende. Ein paar Meter weiter, in einer kleinen Senke, verlief die Grenze zu Tschechien. Unten, in den Bauerngärten der Dörfer, blühten schon Märzenbecher und Stiefmütterchen. In den Kellergassen, die sich nach Norden hin den Hang hochzogen, waren die Fensterluken der Preßhäuser geöffnet, und Holzgitter ersetzten die festen Türen, damit frische Luft durchströmen konnte. An ihren oberen Enden verloren sich die langen Reihen der kleinen weißgekalkten Gebäude in weitläufiger Stille. Polt mochte diese großzügige Landschaft, in der es weder Haus noch Hütte gab. Nichts verstellte hier den Blick, der Himmel war sehr hoch. Und dann noch Frühling, das war schon was. Eine Zeit schöner Unvernunft, da mußte man einfach seiner Wege streunen, wie ein wohlgelaunter Hund. Schon als Kind hatte Polt diese glückliche Unruhe gespürt und war ihr an die Sonnenseite des Tales gefolgt, wo die Steine um die Mittagszeit schon warm waren wie ofenfrisches Brot. Aufregend roch so ein junges Jahr, nach Gras und Blüten, nach Aufwachen, bettwarm und träge. Oder auch nach warmer Feuchtigkeit, auf halbem Weg zwischen Kastanienblüten und nassen Socken. Und wenn man seine Nase ins Fell einer Katze steckte, roch es nach Sünde und Zigeunerleben.

Polt war ganz einfach guter Dinge an diesem dienstfreien Tag. Im Gasthaus Stelzer in Brunndorf hatte er ein Brathuhn mit flaumiger Semmelfülle verzehrt und ein Glas Bier dazu getrunken. Jetzt ließ er sich vom Wind der Laune tragen, und der große, nicht eben schmächtige Mann fühlte sich erstaunlich leicht. Als er sein Fahrrad wieder in Bewegung setzte, bog er in den schmalen Güterweg nach Burgheim ein. Erst einmal ging es ziemlich steil bergab. Simon Polt verschwendete keinen Gedanken daran zu bremsen und fuhr mit rasch zunehmendem Tempo talwärts. Jetzt pfiff ihm die Luft ja doch wieder recht kühl um die Ohren. Wenig später hemmte der nunmehr ansteigende Weg die rasche Fahrt. Polt trat kräftig in die Pedale, und nachdem er die kleine Erhebung überwunden hatte, ließ er das Fahrrad gemächlich weiterrollen. Ein paar hundert Meter vor der Burgheimer Kellergasse bremste er. An der rechten Wegseite ragte eine nahezu senkrechte Lößwand gut vier Meter hoch. Oben war ein Stück Wiese zu sehen, und dahinter standen Rebstöcke. In der Wiese saß regungslos ein Mann. Polt legte das Fahrrad ins Gras. Mit langsamen Schritten stieg er auf einem schmalen Fußweg nach oben. Der Mann saß ein wenig verloren zwischen wuchernden Halmen und Stauden, schaute ins Leere und summte eine Melodie. Simon Polt war in einiger Entfernung stehengeblieben, um ihn nicht zu erschrecken. Die Melodie war ihm vertraut, und sie erinnerte ihn fatal an Karel Gotts Ölsardinen­belcanto. Den Mann in der Wiese kannte er noch besser. Er hieß Willi, niemand wußte seinen Familiennamen. Es war schwer zu sagen, wie alt er war, wohl weit über fünfzig. Willi gehörte zum Leben im Dorf, ohne dabei irgendeine Rolle zu spielen. Die Unkrautwiese über dem Tal war sein Lieblingsplatz.

Als im Weingarten ein Rebhuhn aufflog, schreckte Willi hoch, schaute sich um, erblickte Simon Polt, lief auf ihn zu und umarmte ihn.

„Hallo, mein Freund!“ Polt schob ihn sachte von sich. „Wunderschön heute, wie?“

Willis altes Kindergesicht strahlte. Dann redete er hastig darauf los, und kein Wort war zu verstehen.

„Du mußt nicht alles auf einmal sagen.“ Polt faßte Willi an den Schultern. „Schön langsam, verstehst du? Eins nach dem anderen.“

Willi nickte und nahm sich zusammen. „So viele Blumen, und Käfer, und Bienen!“

Polt schaute sich um. Zwischen den Rebstöcken und dem Lößabsturz blieb Raum für ein Stück grüner Anarchie. Karin Walter, die junge Dorflehrerin, würde ihm einmal erklären müssen, was hier so alles wucherte und blühte. Das Geräusch eines sich nähernden Traktors unterbrach seine angenehmen Gedanken. Karl Gapmayr, einer der tüchtigsten Bauern im Dorf, hielt am Wiesenrand an und stellte den Motor ab. „Grüß Gott, Herr Inspektor. Was bringt denn Sie hierher? Hat der Willi was angestellt?“

„Der und was anstellen! Wir haben miteinander geredet, in alter Freundschaft.“

„In alter Freundschaft? Ja dann!“

„Stören wir bei der Arbeit?“

„Ach wo. Das Stück Wiese kümmert mich nicht. Etwas anderes: Warum haben Sie Ihren schlauen Freund eigentlich nie zur Gendarmerie geholt?“

„Weil er zu gutmütig ist. Und zu arglos. Haben Sie was gegen ihn?“

„Wo werd ich. Schönen Tag noch.“

Willi hatte sich während des Gespräches ein paar Schritte entfernt. Polt trat neben ihn und genoß den Blick über die Rebenhügel zu ihren Füßen. Dann näherte er sich vorsichtig dem Lößabsturz. „Geht ganz schön tief hinunter da. Willi, sag einmal, paßt du auch wirklich auf? Gehst du nie zu nahe an die Kante?“

Willi schüttelte eifrig den Kopf. „Nein, nie.“

„Wirklich vorsichtig sein, ja? Versprichst du es mir?“

Willi nickte ernsthaft.

„Dann ist es gut. Hab’s schön hier. Und bis bald wieder einmal.“

„Warte!“ Willi rannte los und pflückte eilig alle Frühlingsblumen, die er finden konnte. „Für dich!“ sagte er und streckte Polt lächelnd den kleinen Strauß entgegen. Der nahm ihn, bedankte sich und schaute Willi in die Augen. „Du bist ein Guter.“ Als er bei seinem Fahrrad angelangt war, winkte er Willi zu und freute sich auf die mühelose Fahrt durch die abfallende Kellergasse. Doch schon nach den ersten paar Preßhäusern hörte er eine Stimme, tief und volltönend wie Orgelklang.

„Halt, Herr Inspektor, stehenbleiben, sonst passiert was!“

Polt bremste hastig. „Was soll denn passieren?“

Die kleine, magere Gestalt von Sepp Räuschl versperrte ihm breitbeinig den Weg. „Was Schreckliches. Wir könnten nicht trinken, wir zwei.“

„Nicht auszudenken.“ Polt stieg ab und lehnte sein Fahrrad vorsichtig ans Preßhaus, um die dünne Kalkschicht über der Mauer aus Lehm, Steinen und Stroh nicht zu verletzen.

„Nur herein!“

Drinnen war es deutlich kühler. Räuschl wies mit einer Kopfbewegung auf die kleine hölzerne Weinpresse: „Kennen Sie so etwas überhaupt, Herr Inspektor? Eine Kastenpresse, die Leute sagen auch Nahwinkerlpresse dazu. Davon gibt es nicht mehr viele. War eher was für kleine Weinbauern, nichts, worauf man stolz sein müßte. Ohne Preßstein braucht man ganz schön viel Kraft, nur der da hat einem geholfen.“ Er wies auf eine senkrecht stehende, drehbare Holzstange. „Das ist der Faulenzer. An die Hebelstange der Presse ist ein Strick gebunden worden, und das andere Ende war um den Faulenzer gewickelt. Gar nicht so dumm gewesen, unsere Alten. Aber heute arbeitet kein Mensch mehr so. Weil alles schnell gehen muß.“

„Ja, leider.“ Polt zeigte verlegen seine Blumen her. „Kann ich die irgendwo ins Wasser stellen?“

Räuschl holte ein Weinglas hervor, auf dem „Gruß aus Maria Taferl“ geschrieben stand. „Paßt wunderbar. Wer schenkt Ihnen übrigens Blumen, Herr Inspektor, wenn die Frage erlaubt ist, noch dazu so schäbige?“

„Der Willi.“

„So. Der.“

Sepp Räuschl nahm zwei Kostgläser, spülte sie aus und öffnete vorsichtig die Kellertür. „Nirgends anstreifen, Herr Inspektor, es ist alles naß hier um diese Jahreszeit.“

Es gab nur drei Stufen, dann folgten die Männer einer schrägen Wegfläche tieferwärts. Der Keller war mit Ziegeln gewölbt, zwei abgewinkelte Gänge umfaßten ein Rechteck, und der dritte Gang verlief als Diagonale dazwischen. Dazu gab es noch eine in den Löß gegrabene Höhle, in der Erdäpfel lagerten. Polt kannte Sepp Räuschl als Kellernachbar des Höllenbauern. Hier war er aber noch nie gewesen.

„Klein ist er halt, der Keller. Doch für die paar Trauben, die ich ernte, reicht er.“ Sepp Räuschl kletterte mit dem Tupfer, dem Weinheber, in der Hand eine kleine Eisenleiter hoch. „Der ist nächste Woche zum Filtrieren dran. Ein Grüner. Ich möchte wissen, was Sie dazu sagen.“ Räuschl ließ den Wein in die Gläser laufen, kostete gleich einmal, und in seinem faltigen Gesicht war ein verschwörerisches Lächeln. „Na?“

Polt nahm einen kräftigen Schluck. „Sie verstehen mehr vom Wein als ich. Aber wenn Sie mich schon fragen. Der Grüne Veltliner da ist eigentlich waffenscheinpflichtig.“

„Und warum?“ Sepp Räuschls Lächeln vertiefte sich.

„Weil er fromme Männer auf gottlose Gedanken bringt, tugendsame Frauen auf unkeusche Ideen und ehrbare Gendarmen auf dunkle Abwege.“

„So ist es recht.“ Der Weinbauer schenkte ungefragt nach. „Aber es hört sich bald alles auf.“

„Was alles?“

„Das Zusammenleben in den Kellern und im Dorf. Die Nachbarn reden nichts mehr miteinander, die Wirte sperren zu und die Wiener kaufen sich unsere Häuser.“

„Kommt wenigstens Geld ins Land.“

„Ja, für Blödheiten. Noch ein Glas?“

„Nicht beleidigt sein, Herr Räuschl, aber lieber nicht. Ich habe heute Nachtdienst.“

„Muß ich also aufpassen, beim Nachhausefahren?“

„Am besten wär’s, Sie gingen zu Fuß.“

Geruhsam stiegen die beiden nach oben. Polt nahm die Blumen aus dem Weinglas, kniff ein wenig die Augen zu, als er ins Sonnenlicht vor dem Preßhaus trat, und blieb dann erschrocken stehen.

Sepp Räuschl drehte den großen Schlüssel im Schloß und wandte sich dem Gendarmen zu. „Was ist denn los?“

„Wir haben einen Fußgänger mehr“, murmelte Polt und zeigte auf sein Fahrrad. Die Reifen waren zerstochen, die Felgen grotesk verdreht, und unter dem Bügel des Gepäckträgers klemmte ein toter Hase, der offensichtlich unter die Räder eines Autos gekommen war.

Künstlerpech

Simon Polt kam pünktlich um fünf in die Dienststelle und berichtete von seinem Mißgeschick.

„Vielleicht sollte man dir künftig einen Gendarmen mitgeben, der auf dich aufpaßt.“ Inspektor Holzer grinste.

„Womöglich auch noch dich. Dann wären wir nämlich noch jetzt im Räuschlkeller, nicht wahr?“

Holzer enthielt sich einer Antwort. „Was hast du übrigens mit dem toten Hasen gemacht?“

„Verbotenerweise beerdigt, gleich hinter dem Preßhaus. Sepp Räuschl war der einzige Trauergast.“

„Und dein Fahrrad?“

„Steht schon beim Röhrig Walter. Der taugt mehr als mancher Mechaniker.“

Ernst Holzer trank einen Schluck Kaffee. „Wirst du Anzeige erstatten?“

„Den Papierkram erspare ich mir lieber. Irgendwann werde ich schon draufkommen, was los war. Was mich aber an der Sache stört, ist die kalte Bosheit, die dahintersteckt. Das war mehr als ein blöder Streich.“

Holzer seufzte. „Es geht eben immer gewalttätiger zu, auch bei uns auf dem Land.“

„Ich weiß nicht recht. Früher ist viel mehr verschwiegen oder vertuscht worden.“

„Aber die Gendarmen haben wenigstens Bescheid gewußt in der Gegend. Heute kommen und gehen die Fremden, wie sie wollen. In Brunndorf haben sie jetzt sogar einen Preußen.“

Polt lächelte versonnen. „Der mit seinem pazifistischen Jagdhund. Kann das Schießen nicht leiden, weißt du? Der Dieter Moltke ist aber schwer in Ordnung. Er hat ein Preßhaus in Brunndorf gekauft und wirklich ordentlich hergerichtet, da könnte sich mancher Einheimische ein Beispiel daran nehmen. Und mit den Leuten im Dorf kommt er erstaunlich gut zurecht. Einmal hat ihn übrigens der Josef Schachinger in den Keller gelockt, mit den übelsten Absichten, natürlich. Ich war zufällig schon unten. Nach einer Weile, der Schachinger holte gerade die nächste Flasche von seinem verteufelt schweren Roten, hat der Moltke leise zu mir gesagt: ‚Der Mann ist ein Mörder, aber heute lege ich ihm das Handwerk. Halten Sie sich da raus.‘ Von da an habe ich nur noch vorsichtig genippt und zugeschaut. Ein paar Stunden hat’s gedauert. Der Schachinger kann trinken, aber irgendwann hat er verzweifelt versucht, noch einmal zum Glas zu greifen, und dann ist er nach einem entgeisterten Blick auf seinen Gast eingeschlafen. ‚Tja, mein Guter‘, hat der Moltke gesagt und ist ruhig und sicher aufgestanden. Vor dem Preßhaus habe ich dann schwer seine Hand auf der Schulter gespürt. ‚Tschüs, Herr Inspektor. Das war übrigens reichlich knapp.‘ Und weg war er.“

„Nicht schlecht.“ Ernst Holzer erhob sich. „Von elf bis vier Uhr früh müssen wir zur Verkehrskontrolle hinaus. Die Alten kommen aus dem Keller, die Jungen aus der Disco. Das kann ja was werden.“

Simon Polt nickte düster. Dann schrillte das Telefon.

„Postenkommando Burgheim.“ Polt drückte einen Knopf und ließ Holzer mithören. Martin Stelzer, der Wirt von Brunndorf, war am Apparat. „Der Breitwieser, der alte Herr vom Gutshof, hat einen Unfall gehabt. Am Ortsende, gegen Burgheim zu. Den Riebl Rudi hat es schwer erwischt. Dr. Eichhorn ist draußen bei ihm. Wollen Sie mit dem Herrn Breitwieser sprechen? Er steht neben mir. Ziemlich fertig ist er.“

Polt warf Holzer einen kurzen Blick zu. „Er soll auf uns warten. Wir sind in ein paar Minuten da.“

Horst Breitwiesers Auto war ein schwarzer Opel Olympia aus den 30er Jahren. Am Straßenrand, vor dem rechten Kotflügel, lag ein zweisitziges Puch-Moped. Polt trat zum Gemeindearzt, der sich über eine leblose Gestalt beugte, die mit blauen Arbeitshosen und einem karierten Hemd bekleidet war. Dr. Eichhorn blickte zum Gendarmen auf, sagte „Grüß Gott“, und seine kleinen, dicken Hände machten eine resignierende Bewegung. Aus den geöffneten Fenstern der umliegenden Häuser schauten Gesichter.

Christian Wolfinger, jagdgrün gekleidet wie immer, trat aus dem Hoftor und wollte mit dem Gendarmen reden. „Später, bitte“, sagte Polt und wandte sich seinem Kollegen zu. „Fang du schon einmal hier mit der Arbeit an, ich kümmere mich um Herrn Breitwieser.“ Im Wirtshaus nickte er Martin Stelzer zu und setzte sich zu dem einzigen Gast, einem schlanken, weißhaarigen Mann, der den Kopf in beide Hände gelegt hatte. Jetzt schaute er auf, griff zu einer dickrandigen Brille. „Guten Tag, Herr Inspektor. Ich bin Horst Breitwieser. Sie wissen ja, was geschehen ist. Der Mann, da draußen …“, er warf einen unsicheren Blick zum Fenster, „… tot?“

Simon Polt nickte wortlos.

Der alte Herr schwieg lange und schaute ins Leere. Dann gab er sich einen Ruck. „Ich habe versucht, Erste Hilfe zu leisten, obwohl ich sah, daß alles vergeblich sein würde. Ich trage Schuld an diesem Unfall, Herr Inspektor, weil ich getrunken habe.“

„Nur immer mit der Ruhe, eins nach dem anderen, Herr Breitwieser. Was ist aus Ihrer Sicht geschehen?“

„Ich war im Burgheimer Kirchenwirt und habe zwei Viertel getrunken, mehr als gewöhnlich und mehr, als mir guttut. Dann wollte ich nach Hause. In Brunndorf sah ich einen Mopedfahrer vor mir, der fast in der Straßenmitte unterwegs war. Mein warnendes Hupen muß ihn erschreckt haben. Jedenfalls verriß er das Fahrzeug. Ich bremste zu spät, und er prallte gegen mein Auto … So rasch tötet man einen Menschen. Ich bin ein alter Narr, Inspektor, der nichts mehr auf der Straße zu suchen hat. Aber ich redete mir doch tatsächlich ein, ich sei noch immer ein recht passabler Autofahrer.“

„Wie schnell sind Sie gefahren?“

„Langsam. Aber exakt kann ich es nicht sagen. Der Tachometer funktioniert schon lange nicht mehr.“

„Haben Sie den Mopedfahrer gekannt?“

„Nur vom Sehen. Meine Frau und ich führen auf dem Gutshof ein abgeschiedenes Leben. Mit den Leuten in Brunndorf und Burgheim habe ich wenig Kontakt. Was geschieht jetzt mit mir?“

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Lageskizze Burgheim-Brunndorf mit Kellergassen und Runhof

„Nicht viel. Um einen Alkotest kommen wir natürlich nicht herum. Ich brauche Ihre Daten und die Autopapiere. Und dann bitte ich Sie vorerst nur noch, Ihre Aussage zu unterschreiben. Der Gerichtsmediziner wird wohl das Unfallopfer sehen wollen, und Ihr Auto bleibt hier, für die erkennungsdienstliche Untersuchung. Wie fühlen Sie sich denn? Soll ich Sie nach Hause bringen?“

„Danke, nein. Ich bin ein passionierter Spaziergänger und lege zu Fuß weite Strecken zurück. Und über seelische Probleme hilft man sich in meiner Generation mit Disziplin hinweg.“

„Wie Sie meinen. Sie wohnen im Runhof, nicht wahr?“

„Ja, dicht an der Grenze nach drüben. Sie brauchen nur dem Güterweg von Brunndorf aus nach Norden zu folgen.“

„Und Sie halten sich die nächste Zeit für mich zur Verfügung?“

„Was sollte ich sonst tun? Ich bin am Runhof gestrandet. Meine Ziele liegen alle hinter mir.“

Eine gute Stunde später saßen Polt und Holzer einander wieder in der Dienststelle gegenüber.

„Armer Teufel!“ sagte Polt.

Holzer schaute irritiert von seiner Schreibarbeit hoch. „Du meinst doch nicht den Riebl?“

„Nein, nicht wirklich. Natürlich den alten Herrn. Du weißt genausogut wie ich, was da gelaufen ist, in den letzten Jahren.“

„Und ob. Rudi Riebl, der Unfallprofi. Es war immer das gleiche Muster. Er spionierte einen Betrunkenen aus, der in sein Auto stieg, und schmiß sich ihm ein paar Minuten später geschickt vor die Räder. Mehr als blaue Flecken oder Prellungen hat sich der raffinierte Kerl nie geholt, da gehe ich jede Wette ein. Aber im Eintreiben von überhöhtem Schmerzensgeld war er Weltmeister.“

„Genau.“ Polt nickte. „Und damit erschöpft sich unser offizieller Wissensstand. Daß er auch als Erpresser recht erfolgreich war, pfeifen allerdings die Spatzen von den Dächern. Noch bevor die Polizei eintraf, hat er vermutlich dem Autofahrer klargemacht, daß er mit sich reden lassen könnte. Dann steckte er einen schönen Batzen Bestechungsgeld ein. Vor der Polizei gab er aber trotzdem nicht zu, den Unfall mitverursacht zu haben. Kein Lenker wagte etwas zu sagen, und der Riebl hat doppelt kassiert.“

Unwirsch zog Holzer einen Bogen Papier aus der Schreibmaschine. „Keine Zierde für die Menschheit, der Riebl. Auch wenn er diesmal Pech gehabt hat.“

„Aber für den Herrn Breitwieser wird’s eng. Der einzige Zeuge, den wir bislang haben, ist Christian Wolfinger. Und der hat nichts gesehen, was den Unglückslenker entlasten könnte.“

Holzer griff nach der Zigarettenschachtel. „Aber der Riebl Rudi hatte vielleicht auch getrunken.“

„Wir werden’s erfahren. Der Gerichtsmediziner nimmt ihn sich in der Aufbahrungshalle von Brunndorf vor, unser Herr Dienststellenleiter ist dabei.“

„Wo er doch keine Obduktionen mag.“ Holzer paffte.

„Wer wird denn so empfindlich sein.“ Simon Polt stand auf und öffnete das Fenster weit, weil ihn der Zigarettenrauch störte.

Der todte Hengst

Nach dem Sonnenuntergang war es kühl geworden. Es gab kaum Menschen auf der Straße, nur ab und zu verdrängte ein Auto die Stille. Polts Dienststelle war in einem jener großen Häuser aus dem späten 19. Jahrhundert untergebracht, die bewiesen, daß Burgheim einmal bessere Zeiten gesehen hatte. Doch schon mit dem Ende der Monarchie war das Städtchen in eine sehr stille Ecke des klein gewordenen Staates geraten, und nach dem Zweiten Weltkrieg sorgte die tote Grenze für lähmende Lethargie. Der Burgheimer Wein, einst weithin gerühmt, besonders der Blaue Portugieser, hatte seinen Ruf verspielt, und alle Versuche, Industriebetriebe anzusiedeln, waren gescheitert. Doch seit einiger Zeit ging es ein wenig aufwärts in Burgheim und in den Dörfern des Wiesbachtales. Neu belebtes Brauchtum lockte Besucher in die Kellergassen und weckte das Interesse am Wein, der überdies zu erfreulich moderaten Preisen zu haben war.

Natürlich hatte auch die nunmehr offene Grenze Veränderungen gebracht, die letztlich für alle von Vorteil sein würden, davon war Polt überzeugt. Doch vorerst gab es auch Probleme, die ihm unter anderem eine Menge neuer Kollegen einbrachten, Gendarmen für die Grenzsicherung. Erst ein paar Wochen war es her, da hatten sich im Turnsaal der Burgheimer Hauptschule über dreißig Rumänen gedrängt, erschöpfte, enttäuschte Menschen, darunter Mütter mit Kleinkindern. Wieder einmal war ein Schleppertransport aufgegriffen worden. Die Flüchtlinge bekamen zu essen und zu trinken, wurden freundlich mit dem Nötigsten versorgt, und dann entledigte man sich ihrer mit höflichem Nachdruck. Abschiebung, wie das Gesetz es befahl. Polt seufzte re­signierend. Dann hörte er einen Traktor näherkommen. Karl Gapmayr lenkte ihn. Er bremste scharf, stieg vom Fahrersitz und ging mit energischen Schritten auf Polt zu, der noch immer am offenen Fenster stand.

„Ich habe eine Meldung zu machen, Herr Inspektor.“

„Warum kommen Sie nicht herein?“

„Vielleicht ist es eilig. Aber wahrscheinlich nicht, wie ich befürchte.“

„Reden Sie schon, was ist denn los?“

„Ich habe bis vor kurzem gearbeitet, oben, in meiner Riede todter Hengst, wo wir miteinander geredet haben heute nachmittag. Abschließend schaue ich mich immer noch ein wenig um. Und da sehe ich den Willi wie tot unter dem Lößabsturz liegen. Ich weiß nicht, was mit ihm ist, aber es schaut nicht gut aus. Ich wollte so rasch wie möglich zu Ihnen. Tut mir leid für Sie, Inspektor. Sie dürften ihn ja gemocht haben, irgendwie.“

„Ruf den Arzt, schnell“, rief Polt über die Schulter dem Ernst Holzer zu, dann schwang er sich aus dem Fenster und rannte zum Streifenwagen.

Gapmayr schaute ihm nach. Weil sich keiner um ihn kümmerte, stieg er auf seinen Traktor und startete. Die Gendarmen wußten ja, wo er zu finden war.

Simon Polt gab es in diesen Minuten zweimal. Einen Polt, der erstarrt und hilflos zuschaute, und einen anderen, der handelte. Er sah sich die Autotür öffnen und den Schlüssel ohne zu zittern im Startschloß drehen. Dann fuhr er los, konzentriert, exakt und in einem Höllentempo. Die Kellergasse war menschenleer. Am Ziel angekommen, war Simon Polt allein.

Unter dem Lößabsturz wuchsen Büsche, davor wucherte hohes Gras. Polt konnte erst nicht sehen, wo Willi lag. Ein paar Schritte weiter glaubte er eine Mulde im Gras zu erkennen. Er lief darauf zu, blieb stehen und kniete nieder. Willi lag auf dem Rücken. Sein Gesicht schaute zu Polt hoch und hatte einen merkwürdig glücklichen Ausdruck. Die Kleidung war zerrissen, die Haut zerkratzt und aufgeschürft. Polt fühlte nach dem Puls, versuchte Atem zu spüren und senkte dann seinen Kopf. Er berührte Willis Stirn mit den Fingerspitzen, machte eine kleine streichelnde Bewegung und drehte sich um, als er hinter sich Geräusche hörte. „Dr. Eichhorn! Danke, daß Sie so rasch gekommen sind, aber es ist wohl alles zu spät.“ Dann erhob er sich und trat einen Schritt zurück, um Platz für den Arzt zu machen.

Wenig später schaute Dr. Eichhorn hoch. „Ein tödlicher Sturz, nach allem, was ich feststellen kann. Im Fallen dürfte der arme Kerl auch noch an Vorsprüngen an der Wand aufgeprallt sein. Übrigens nehme ich an, daß mein Kollege vom Gericht noch in Brunndorf obduziert. Da ginge es in einem, auch gleich den Willi genauer anzuschauen. Gibt es aus Ihrer Sicht irgendwelche Hinweise auf Fremdverschulden, Inspektor?“

„Nein. Ja, doch, vielleicht.“

„Was also?“

„Willi hat mir heute versprochen, nie zu dicht an den Absturz heranzugehen. Und seine Versprechen hat er immer gehalten, eisern.“

„Und wenn ihn etwas erschreckt hat? Solche Menschen neigen zu Panikreaktionen, wissen Sie?“

Polt schwieg.

Dr. Eichhorn holte ein klobiges Mobiltelefon aus der Arzttasche. „Soll ich?“

„Ja, natürlich, bitte.“

Der Arzt wählte, und nach ein paar Worten übergab er das Gerät dem Gendarmen. „Dr. Wanasek ist dran.“

Polt berichtete, und der Jurist hörte sich die Ausführungen des Inspektors geduldig an. Dann meinte er: „Ein bedauerlicher Unfall eines geistig Behinderten. Ich wüßte nicht, was es da viel zu untersuchen gäbe. Aber was soll’s. Kommen Sie bitte zu uns. Mit dem Herrn Riebl sind wir fertig, und Ihr Dienststellenleiter ist schon gegangen. Einen Gendarmen brauchen wir aber bei der Obduktion.“

„Ja“, sagte Polt.

Dr. Eichhorn schaute ihn zweifelnd an. „Schaffen Sie das wirklich? Sie waren mit dem Willi doch recht gut, nicht wahr?“

„Ja, war ich. Ich rufe jetzt die Bestattung an.“

Knapp eine Viertelstunde warteten die zwei Männer. Die Dämmerung war dichter geworden, und der rotbraune Löß wirkte fast schwarz. Dr. Eichhorn ging ungeduldig den Wegrand entlang. Polt war neben Willi stehengeblieben, ihn fröstelte.

Dann kam der Leichenwagen. Der Gendarm und Dr. Eichhorn folgten ihm mit ihren Fahrzeugen zum Friedhof von Brunndorf. In der kleinen Aufbahrungshalle machte sich der Gerichtsmediziner an die Arbeit. Eine blasse Sekretärin führte tapfer Protokoll.

Polt ließ keinen Blick von Willi, der nackt auf dem Tisch lag.

„Eigentlich hatte ich mir den Abend anders vorgestellt, irgendwie unterhaltsamer“, sagte der Gerichtsmediziner, während er routiniert seine Arbeit tat.

„Ich auch.“

Polts Stimme ließ den Arzt irritiert aufblicken. „Ich wollte Sie nicht kränken, Inspektor. Kennen Sie den Mann da womöglich näher?“

„Ja.“

„Dann tut es mir ehrlich leid für Sie. Aber glauben Sie mir, wenn unsereins keine wohltuende Distanz zum Gegenstand unserer Untersuchungen hätte, wär’s schlichtweg nicht auszuhalten.“

„Ich verstehe.“

Nach einer halben Stunde war alles erledigt. „Ah, tut das gut!“ Der Arzt schlüpfte aus seiner Arbeitskleidung. „Fürs erste kann ich die Feststellungen meines Kollegen bestätigen. Sie bekommen aber noch einen genauen Befund.“

Polt fuhr langsam nach Brunndorf und kam gegen neun Uhr abends in die Dienststelle. Ernst Holzer begrüßte ihn. „Du sollst dich gleich bei unserem Herrn und Meister melden“, fügte er hinzu.

Dienststellenleiter Harald Mank faßte Polt freundlich ins Auge. „Hast du es hinter dich gebracht? Schlimm gewesen?“

„Mir macht derzeit nichts etwas aus.“

„Das wird sich ändern.“

„Weiß ich.“

„Also gut. Jetzt berichte einmal, wie das mit dem Willi gelaufen ist, ja?“

Polt erzählte alles, vom Zusammentreffen am vergangenen Nachmittag an.

Harald Mank lehnte sich seufzend zurück. „Also, ich rechne damit, daß keine weiteren Untersuchungen angeordnet werden. Ein klassischer Unfall, an dem du deine privaten Zweifel hast. Aber sag selbst: Wer will so einem Menschen was tun? Ich sehe weit und breit kein Motiv.“

„Ja denkst du, ich?“ Polt schaute ins nachtschwarze Fenster, in dem sich ein häßlicher Leuchtkörper aus den 50er Jahren spiegelte. „Aber es gibt eins.“

„Wie du meinst. Was den Riebl Rudi und diesen Breitwieser angeht, liegt der Fall allerdings anders. Jedem ist klar, was passiert ist. Aber die Ergebnisse der ärztlichen Untersuchung, soweit sie jetzt schon vorliegen, belasten den Breitwieser. Er hat den Riebl ziemlich frontal erwischt. Wenn wir dem alten Herrn helfen wollen, muß noch allerhand ans Licht kommen. Noch etwas, Simon. Irgendwie kommen wir auch ohne dich zurecht. Möchtest du nach Hause gehen?“

„Genau das möchte ich nicht.“

„Ja dann. An die Arbeit, mein Lieber. Und mach’s gut.“

Polt war hellwach, als er sich nach dem Nachtdienst in den frühen Morgenstunden auf den kurzen Weg zum Hof des Höllenbauern machte. Zu Hause angelangt, fiel sein Blick auf das Glas mit Willis Blumenstrauß. Er nahm es und schmiß es mit solcher Kraft gegen die Wand, daß ihm die Scherben um die Ohren flogen. Eine Weile stand er regungslos, dann sammelte er die Blumen auf. „Entschuldigt“, murmelte er. „Was könnt denn ihr dafür.“

Die vom Gutshof

Lange saß Simon Polt am Küchentisch und schaute vor sich hin. Dann legte er den Kopf auf die Unterarme und schlief ein wenig. Als er aufwachte, hörte er ein leises Maunzen vom Bad her. Erst war neben dem Türstock nur ein goldgrünes Auge und ein Ohr zu sehen, dann zeigte sich der restliche Kater und kam zögernd näher.

„Czernohorsky, alter Freund, ich habe ganz auf dich vergessen.“ Polt stand auf und füllte den Futternapf. Als der Kater satt war, sprang er auf die Knie seines Ernährers, ließ sich gewichtig nieder und rülpste, weil er wieder einmal zu hastig gefressen hatte. Polt streichelte ihn gedankenverloren. Dann stand er auf, setzte Czernohorsky auf den Boden und ging ins Bad. Kaum eine halbe Stunde später verließ er das Haus und suchte den Kirchenwirt auf. Franz Greisinger, von Stammgästen kurz Franzgreis genannt, warf ihm einen nachdenk­lichen Blick zu. „Grüß dich, Simon. Alles in Ordnung soweit?“