Cover

Tatjana Kruse

Schampus, Küsschen, Räuberjagd

Ein rabenschwarzer Pauline-Miller-Krimi

Für Benedict Cumberbatch, der mich von meiner Flugangst heilte*

Steckbriefe der handelnden Personen

Pauline Miller:

keck, kurvig und ein kleines bisschen durchgeknallt

Beruf: Opernsängerin

Hobby: Verbrechen

Große Lieben ihres Lebens: Radames (definitiv), ­Arnaldur (ziemlich definitiv), Papa Miller (klar)

Radames Miller:

geborener Ray of the Ridgebridge, reinrassiger ­Boston Terrier aus … nun ja … Boston

Frauchen: die Operndiva Pauline Miller

Besondere Kennzeichen: Narkoleptiker

Marie-Luise „Bröcki“ Bröckinger:

auch „der menschliche Rammbock“ genannt, weil sie grundsätzlich immer mit dem Kopf durch die Wand geht, auch wenn sie noch gar nicht weiß, was sie im Nebenzimmer will

Beruf: Künstleragentin

Körpergröße: 128,5 cm

Verliebt in: Laurenz Pittertatscher, Kriminalkommissar (195 cm)

Yves-Francois DuBois:

kurz „Yves“

Countertenor (also einer, der wie ein Kastrat singt, aber keiner ist) und Mann für alle Fälle

Talent: Frauenflüstern

Achillesferse: kann nicht mit Geld

Arnaldur Atlason:

Isländer, Mann, Dirigent (in dieser Reihenfolge)

Besondere Kennzeichen: Vollbart, gletscherblaue Augen, lispelt

Verliebt in: Pauline Miller

Auch dabei: zwei Juwelendiebe, eine Witwe, ein Perserkater sowie ein Stalker und dessen Mutter

Steckbrief des Schauplatzes

Bayreuth: schnuffige Festspiel- und Universitätsstadt im bayrischen Regierungsbezirk Oberfranken mit ca. 70.000 Einwohnern, dem zum UNESCO-Welterbe gehörenden Opernhaus „auf dem grünen Hügel“ und dem Kfz-Kennzeichen BT.

Der Literat Jean Paul (1763–1825) sagte einmal in einer Liebeserklärung an die Stadt: „Du liebes Bayreuth, auf einem so schön gearbeiteten, so grün angestrichenen Präsentierteller von Gegend dargeboten – man möchte sich einbohren in dich, um nimmermehr heraus zu können.“ Ein Mann, ein Wort: Er ist in Bayreuth gestorben …

Plakat.jpg

Miau!

Wenn Männer zu sehr lieben …

Zärtlich gleiten seine Fingerspitzen über sie.

Er bekommt eine Gänsehaut. Die kleinen, dunklen Härchen auf seinem Arm gehen in Habt-Acht-Stellung, sein Atem wird schwerer, sein Puls rast.

Der Blick, der durch die Sehschlitze einer schwarzen Skimaske fällt, wird weich.

Das ist der Moment, auf den er so lange gewartet hat. Oft ist man nach ewig langer Warterei enttäuscht, weil es doch nicht so beglückend ausfällt, wie man gedacht hat. Aber nicht er, nicht hier und nicht jetzt. Er schwebt im siebten Himmel.

Genau so hat er es sich vorgestellt. Die kühle Eleganz einer spröden Schönen, die nun ganz ihm gehört. Im Licht seines Handy-Displays leuchtet sie auf, wirkt noch glänzender angesichts der sie umgebenden Dunkelheit.

Alles in ihm erbebt.

Er lauscht.

Die Schlafzimmer der Stadtvilla liegen auf der anderen Seite des Flurs, doch trotz der Entfernung ist das gleichmäßige Schnarchen der Hausherrin zu hören.

Mit fast religiöser Andacht streckt er den Arm aus und nimmt die Diamantkette behutsam in die behandschuhte Rechte.

Dabei tritt er automatisch einen Schritt nach vorn. Sein – für einen Mann schmaler – Fuß landet auf etwas Weichem.

Etwas Weichem, das lebt.

Und im nächsten Moment laut aufjault.

Vor Schreck lässt der Vermummte die Diamantkette fallen wie eine heiße Kartoffel und taumelt nach hinten. Selbst wenn er sich mit der Lokalität vertraut gemacht hätte, als er sich vor exakt dreieinhalb Minuten durch die Dachluke in den Flur abseilte, anstatt sich sofort in das angrenzende riesige, begehbare Ankleidezimmer zu schleichen, in dem die Kette bis gerade eben am Hals einer Schaumgummibüste auf einem Podest ruhte (wie es ihm die von ihm unter Alkohol gesetzte und heftig bezirzte Putzfrau hilfreicherweise erzählt hatte), hätte er den gleich darauf eintretenden Worst Case nicht verhindern können.

Weil er ganz automatisch den Fuß, der auf die weiche, lebende Masse getreten ist, vor Schreck nach oben reißt, wobei sein Oberkörper in eine Schräglage gerät, ziehen ihn physikalische Kräfte unausweichlich nach hinten. Auf ein Hindernis zu.

Er prallt mit dem Rücken auf etwas Metallisches, Großes. Verzweifelt rudert er mit den Armen, um seinen Oberkörper wieder nach vorn zu reißen, aber es ist zu spät.

Die Ritterrüstung hinter ihm gerät in eine ganz eigene Schwingung, die darin kulminiert, dass der Helm laut scheppernd zu Boden kracht und – nicht minder laut – in den Flur rollt.

Die Augen in den Sehschlitzen werden groß. Der Vermummte erstarrt.

Sein Brustkorb schnürt sich zu und verunmöglicht ihm das Atmen. Er lauscht wieder.

Das Schnarchen hat aufgehört!

Jetzt erst fällt ihm auf, dass das Display seines Handys noch leuchtet. Rasch schaltet er es aus.

Absolutes Nachtschwarz senkt sich über ihn. Seine Ohren unter der Skimaske horchen so angestrengt in die Dunkelheit, dass sie förmlich anzuschwellen scheinen.

Aus dem Schlafzimmer von Hannelore Böhringer, der Witwe Böhringer, wie man sie nennt, weil sie quasi berufsmäßige Witwe ist und jeden Satz mit „Mein Mann, der Josef, hat ja immer gesagt …“ beginnt, also aus dem Schlafzimmer der Witwe Böhringer hört man ein Schnorcheln. Dann setzt wieder gleichmäßiges Schnarchen ein.

Noch nie hat er sich so erleichtert gefühlt.

Das war knapp!

Der Vermummte atmet tief durch.

Er lässt sich auf alle Viere nieder und tastet den Boden ab. Ohne die Kette geht er hier nicht weg! Sie muss hier irgendwo liegen. Mit beiden Händen klopft er fast zärtlich auf dem Teppich herum. Und da …

… muss er niesen.

Es ist kein normales Erkältungsniesen, auch kein „Huch, ich habe das Frühstücksei zu stark gepfeffert“-Niesen. Es kommt aus der Tiefe seines Wesens, ein Niesen wie ein gewaltsamer Akt. Kein Wunder, sein Körper wehrt sich gegen etwas, gegen das er hochgradig allergisch ist.

Das, worauf er da eben getreten ist, war kein Heinzelmännchen, welches nächtens die Haute-Couture-Modelle der Besitzerin enger näht, sondern ganz offensichtlich eine Katze.

Scheiße, denkt er und spürt, wie sich seine Atemwege allmählich verengen. Aber es nützt ja nichts. Er kann jetzt nicht weg. Nicht ohne die Diamantkette! Er hält den Atem an.

Da kommt seine Hand im Einmalhandschuh auf der Kette zu liegen.

Heureka!

Die Luft immer noch anhaltend, verzieht er den Mund zu einem triumphierenden Grinsen.

Das hätte er mal lieber bleiben lassen sollen. Wenn der Mensch triumphiert, ärgern sich die Götter und bauen stante pede eine Stolperschwelle in den Weg zum Glück.

In diesem Moment versenken sich deshalb scharfe Krallen tief in den Unterarm des Vermummten.

Vor Schmerz reißt er den Mund auf, und in den weit geöffneten Mund dringt die leicht muffig nach Mottenpulver und Moschus-Parfüm duftende Luft … sowie einige Katzenhaare.

Er muss erneut niesen, schnappt nach Luft, spürt, dass nicht genug Sauerstoff durch seine verengten Atemwege in seine Lunge gelangt, und röchelt panisch.

Im Schlafzimmer geht das Licht an.

Immer noch röchelnd packt er die Diamantkette, rappelt sich auf und taumelt – abwechselnd niesend und hustend – zu dem Seil mit den diversen Knoten, an denen er sich zur Dachluke hochangelt.

Unklar ist, ob die Katze – eigentlich ein Kater, aber für eine genaue anatomische Begutachtung hat er in diesem Moment natürlich nicht die nötige Muße – mit einem Schäferhund groß geworden ist und das Bewachen gelernt hat oder ob in dem Tier einfach die Rachsucht geweckt wurde, weil es unsanft aus beglückenden Mäuseträumen getreten wurde, jedenfalls läuft es dem Vermummten hinterher und verkrallt sich in seine rechte Wade.

Während er am Seil hängt, schüttelt er sein Bein, damit es zu Boden fällt. Aber einen Kater schüttelt man nicht so einfach ab.

„Mein kleiner Liebling?“, ruft eine weibliche Stimme aus dem Schlafzimmer.

Jetzt kommt es auf jede Sekunde an!

Mit dem linken Bein schabt er sich das Tier von der rechten Wade. Laut miauend kommt es unten auf.

Er hievt sich aus der Luke. Auf dem Dach angekommen, zieht er sich die Skimaske vom Kopf und atmet erst einmal kräftig durch – Gott sei Dank, es geht wieder.

Dann rollt er das Seil ein und sprintet geräuschlos über den schmalen Sims, der das Dach mit dem Nachbarhaus verbindet.

Nichts wie weg von hier, bevor ihn das Frauchen des ‚kleinen Lieblings‘ erwischt.

Ein Schatten gleitet über die Dächer von Bayreuth. Cineasten erinnert das jetzt zu Recht an den Film Über den Dächern von Nizza, den Hitchcock-Film, in dem Cary Grant einen Juwelendieb namens John Robie, genannt Die Katze, spielt. Frei nach dem Film heißt es nun also auch in Bayreuth: John Robie, die Katze, hat wieder zugeschlagen!

Ja, er war jetzt die Reinkarnation von John Robie, der Katze. Was natürlich nicht einer besonderen Komik entbehrte, wo er doch Katzenallergiker war …

Die Nacht hat viele Augen …

… und kein Mensch ist eine Insel

Vier Augen sehen dem Vermummten – besser gesagt: dem frisch Unvermummten – dabei zu, wie er das Gerüst am Nachbarhaus herunterklettert.

Zwei der Augen gehören einem langhaarigen Kater aus Kleinasien, einem sogenannten Perserkater. Obwohl vom vielen Verwöhnfüttern und -streicheln übergewichtig und untrainiert, hat er es durch die Dachluke geschafft und verfolgt den Dieb. Der Kater erreicht genau in dem Moment das obere Ende des Gerüsts, als der Dieb – einen Stock tiefer – den Fuß auf die Leiter setzt, die ins Erdgeschoss führt. Sein kleines Felidenhirn gibt einen Befehl aus: „Attacke!“ Mit ­einem ninjaschreiartigen Fauchen springt der Kater in die Tiefe und landet auf der Schulter des Diebes.

Der quietscht in Panik laut auf und verliert den Halt.

Während der Dieb zweieinhalb Meter in die Tiefe stürzt, springt der Perserkater rechtzeitig ab. Problemlos und absolut unversehrt landet er auf allen vier Pfoten auf dem Pflaster der Gasse. Wie man es von einem Kater ja auch nicht anders erwarten würde.

Was man von dem Dieb nicht sagen kann.

Die Mundwinkel, die zu den beiden anderen Beobachteraugen gehören, verziehen sich amüsiert nach oben.

Und als der Dieb leise fluchend und humpelnd, aber zügig, weil jetzt im Haus der Witwe Böhringer lautes Geschrei erklingt und überall Lichter angehen, von dannen zieht, huscht ihm lautlos ein Schatten hinterher.

Es ist nicht der Schatten des Perserkaters …

Bayreuth, ahnungslos

Champagner in Strömen – aber kein Glück ist ungetrübt

In den Adern echter Operndivas fließt kein Blut, sondern Champagner.

„Herr Ober …“ Ich winke mit der leeren Champagnerflöte dem jungen Kellner zu, der auf einem übergroßen Tablett Nachschubflöten balanciert.

„Du hast schon genug getrunken!“

Eine kleine Hand krallt sich in Höhe meines Hinterns in den Tüll meines Ballkleides und zerrt energisch daran.

Die Hand gehört Marie-Luise ‚Bröcki‘ Bröckinger, meiner kleinwüchsigen Agentin-Schrägstrich-Freundin. Was ihr an Körpergröße fehlt, macht sie durch Willenskraft wett. Ich bin die kapriziöse Künstlerin, sie ist die pragmatische Vernunftsperson. Als Team sind wir nach außen hin unschlagbar, aber innen gibt es jede Menge Reibungsfläche.

Aus Hüfthöhe zischelt sie mir zu: „Du weißt, der erste Eindruck zählt! Willst du dich hier als Schnapsnase einführen? Ausgerechnet hier?“

„Champagnernase, wenn schon. Und ich brauche das jetzt!“

Hier – das ist der grüne Hügel von Bayreuth. Genauer gesagt, das Steigenberger Festspielrestaurant.

Weil die Sommernacht lau ist, stehen wir beim Schampusnippen, Häppchenmümmeln und Plaudern alle auf der Terrasse: Sänger und Sängerinnen, Festspielleitung, Mitglieder des Freundeskreises, handverlesene Gäste.

Ich kann durchaus ein paar Minuten dauerlächeln und mich von meiner besten Seite zeigen, aber nicht für mehrere Stunden. Irgendwann schwächelt meine Gesichtsmuskulatur. Nur prickelnder Alkohol kann sie dann wieder in Lächelstellung festzurren.

„Danke, Frau Miller möchte nur ihr Glas abgeben“, sagt Bröcki zum Kellner und zerrt erneut am Tüll.

„Lass das!“, schimpfe ich.

Das Kleid hat mir Karl Lagerfeld auf den Leib geschneidert. Und zwar buchstäblich! Ein Leib, der – als Karli seine professionelle Hand anlegte – noch etwas schmaler war als jetzt, weswegen die Nähte Schwerstarbeit leisten müssen, um nicht zu platzen. Es besteht die ganz konkrete Möglichkeit, dass ich aus dem Kleid herausplatze. Das wäre doch mal ein unvergesslicher erster Eindruck! Aber den möchte ich, wenn’s geht, vermeiden …

Der Kellner nimmt mir das Glas ab und geht weiter.

Ich schmolle.

An meinem linken Ohr schnarcht es.

Radames, mein heißgeliebter Boston Terrier, liegt wie ein Hermelinkragen über meiner Schulter.

Wer ihn kennt, weiß, Radames ist Narkoleptiker, was bedeutet, dass er jedes Mal, wenn er sich sehr freut – oder aufgeregt ist oder sich erschrickt – abrupt einschläft. Allerdings liegt er gerade nicht in narkoleptischem Koma-Schlaf auf meiner Schulter, sondern ruht seinen kleinen Terrierkörper in ganz normalem Erschöpfungsschlaf aus. Während ich heute Nachmittag in einem der Probenräume des Festspielhauses die erste Sitzprobe absolvierte, preschte er an der Leine – an deren anderem Ende mein Chauffeur-Schrägstrich-Freund Yves hing – wild begeistert durch den Hofgarten, wie man mir zugetragen hat. Radames muss sich jetzt einfach regenerieren.

Und um beide Hände frei zu haben, drapierte ich ihn wie ein Accessoire über meine Schulter. Es hat durchaus Vorteile, wenn man einen handtaschenkompatiblen Schoßhund hat und keinen Bernhardiner oder irischen Wolfshund sein Eigen nennt.

„Ach, Frau Miller, darf ich sagen, welche Freude es mir und meiner Frau ist, dass Sie uns dieses Jahr bei den Wagner-Festspielen die Ehre geben?“

Ein Wagnerianer.

Man erkennt den echten Wagnerianer am fortgeschrittenen Lebensalter, den – für so alte Männer – einen Tick zu langen Haaren, den Bequemschuhen in Dunkelbraun zum teuren, aber nicht maßgeschneiderten schwarzen Anzug. Manche der Herren tragen auch ein Beret oder statt einer Fliege ein lässig gebundenes Seidentuch wie Lord Byron.

Da es auf Mitternacht zugeht und wir hier schon seit über fünf Stunden feiern, zolle ich dem Durchhaltevermögen des greisen Opernliebhabers Respekt. Und der Tatsache, dass ich ohne sein Interesse – und das der anderen Hardcore-Wagnerliebhaber – nicht hier sein könnte.

Ich knipse folglich mein Lächeln an, während ich ihm die Hand reiche, die er nicht schüttelt, sondern zum Mund führt. Er haucht einen Kuss in die Luft über der Hand. Das ist noch gute alte Schule! Mein Lächeln wird einen Tick echter.

„Das dürfen Sie mir gern sagen, vielen Dank. Wenn Sie wüssten, wie sehr ich mich freue, hier singen zu dürfen!“ Das ist nicht gelogen, sondern kommt ganz tief aus meinem Herzen. Den Sopranistinnen von meiner Statur hat Richard Wagner seine Frauenrollen ja quasi auf den Leib komponiert.

„Schlemmermacher“, sagt der Wagnerianer mit leichter Verbeugung. „Darf ich Ihnen meine liebe Gattin vorstellen?“

Seine liebe Gattin ist mindestens so alt wie er, möglicherweise sogar etwas älter, was mich irgendwie freut. Wagnerianer behalten signifikant oft das Originalmodell und tauschen es nicht midlifecrisisbedingt durch halb so alte Zweitfrauen aus.

„Sehr angenehm.“ Ich lächele ihr zu.

Ihre Lippen bleiben allerdings zu einem Strich zusammengepresst. Hager, kinnlange, graue Haare, beiges Sackkleid, mehrreihige Perlenkette. In ihrer Ehe ist eindeutig er die Frohnatur.

Bestimmt gehören die beiden zum Freundeskreis und sind somit Mäzene des Festivals. Wie ich hörte, gibt es über fünftausend dieser wackeren Förderer. Ich habe das Gefühl, an diesem Abend jeden Einzelnen kennen gelernt zu haben. Was natürlich Quatsch ist, so viele Menschen sind gar nicht da. Nicht Tausende, aber gefühlt Hunderte ergehen sich in und um das Steigenberger.

„Sie haben ja gar nichts mehr zu trinken“, merkt der Wagnerianer fast schon entsetzt an. „Darf ich so frei sein, Ihnen ein Glas Champagner zu holen?“

Ich mag diesen Mann!

Mein Blick wandert nach unten zu meiner Hüfte, aber Bröcki ist offenbar schon weitergewandert. Gute Agentin, die sie ist, nützt sie solche Veranstaltungen immer, um Kontakte zu knüpfen beziehungsweise zu zementieren. Diese Chance muss wiederum ich nützen.

„Sehr, sehr gern, vielen Dank.“ Ich schenke Herrn Schlemmermacher mein bezauberndstes Lächeln.

Wird er ein wenig rot? Ja, er wird ein wenig rot.

Das bekommt allerdings auch seine liebe Gattin, die Schlemmermacherin, mit.

Während wir beide seinem entschwindenden Rücken nachschauen, kann ich förmlich spüren, wie es neben mir zunehmend kälter wird. Fast schon arktisch.

Eigentlich ja süß, dass eine Seniorin denkt, ich wolle mir ihren geriatrischen Ehemann angeln. Das zeigt doch, dass man auch mit geschätzt über achtzig noch ein schlagendes Herz in der Brust hat, dass man liebt und fühlt und fürchtet.

Andererseits ist es auch eine Frechheit. Ich und ein Greis, der locker mein Großvater sein könnte? Pö!

Ich streichele das Hinterteil meines Radames, weil mich das erdet. Er schnorchelt im Schlaf und zuckt mit den Hinterläufen.

Gerade will ich der Seniorin erklären, dass ich nicht auf Beutejagd bin, Betonung auf: nicht!, sondern vielmehr seit kurzem die glückliche Gefährtin eines unglaublich gut aussehenden isländischen Dirigenten bin, aber sie kommt mir zuvor.

„Was ich mich in letzter Zeit oft frage …“ Sie schaut mich aus wässrig-blauen Augen eisig an. „Wie kann man Musik machen, wenn die Welt gerade so im Argen liegt? Wenn Millionen Menschen in Angst leben – Angst vor politischer Instabilität und sogar vor Krieg?“

Das kommt wie ein Vorwurf rüber und ist definitiv auch so gemeint.

Weil ich mein ganzes Leben der Oper gewidmet habe, überkommt mich jetzt das Gefühl, als hätte mir die Alte den Boden unter den Füßen weggerissen. Musik ist für mich wie Atmen – ohne geht es nicht. Aber macht mich das eventuell zur französischen Königin Marie Antoinette, die – als man sie darauf hinwies, dass viele ihrer Untertanen nicht genug Geld hätten, um Brot zu kaufen – der Legende nach rief: Dann sollen sie eben Kuchen essen!? Bin ich ein elitäres Geschöpf, das unter der Guillotine landen sollte?

Da tönt eine Stimme: „Oder muss man vielleicht gerade deshalb Musik machen? Um die Menschlichkeit gegen den Wahnsinn der Welt zu behaupten? Sind Sänger und Musiker nicht womöglich die Sachwalter des Guten und Schönen?“

Wenn Bröcki unverhofft wie aus dem Nichts auftaucht und losbellt, reicht das, um eine ahnungslose Greisin zusammenzucken zu lassen. Die Alte fasst sich an den Hals mit der dreireihigen Perlenkette – Süßwasserperlen, wie ich hinzufügen möchte – und presst pikiert die Lippen zusammen. Sie gehört noch zu der Generation, die Kleinwüchsige für bemitleidenswerte, benachteiligte Geschöpfe hält, denen man als wohlerzogener Mensch nicht Kontra geben darf. Folglich verkneift sie sich eine Retourkutsche.

Ich schaue dankbar zu Bröcki hinunter, die mir – wieder einmal – das Leben gerettet hat. Sie ist und bleibt die beste Agentin der Welt.

Schlemmermacher kommt mit einer halbvollen Champagnerflöte zurück. Entweder leidet er an Greisenzittern oder er wurde im Getümmel der Wogen mehrmals angerempelt und hat deshalb die Hälfte verschüttet. Egal, ich bin für jeden Schluck dankbar. Meine Rechte fährt gierig aus. Begierig, aber nicht schnell genug.

„Danke, sehr freundlich.“ Bröcki nimmt ihm das Glas ab. „Wenn Sie uns jetzt entschuldigen würden?“

Mit ihrer freien Hand packt sie mich am Tüll und zieht mich in Richtung Rasen.

Man muss Bröcki einfach bewundern: Jeder andere hätte blumig erklärt, warum er entschuldigt werden möchte – beispielsweise um mit den Angehörigen der Familie Wagner zu reden, die hier auch irgendwo sind, oder um sich die Nase zu pudern. Nicht so Bröcki. Sie marschiert einfach davon.

„Du bist meine Retterin – und jetzt her mit dem Glas!“

Es ist ein Vorurteil zu glauben, nur weil jemand kleinwüchsig sei, könne man ihn oder sie auch wie ein Baby behandeln. Gerade was Bröcki angeht, sollte man angesichts der geringen Höhe nicht an Kleinkind denken, sondern an einen Pitbull.

Der Pitbull schaut mich nur mitleidig an, hebt die halbvolle Champagnerflöte an die Lippen und leert sie auf einen Zug.

Ich seufze.

Und füge mich in mein unalkoholisiertes Schicksal.

Vorläufig.

Mein Blick schweift über die leicht abschüssige Grünfläche hinter dem Restaurant.

Die meisten meiner Mitsänger und -sängerinnen für Tristan und Isolde sind schon eingetroffen. Nur Brangäne, Melot und ein Hirt fehlen noch. Aber keiner von denen, die schon da sind, hat seinen Agenten dabei. Nicht zum ersten Mal denke ich, dass es womöglich besser wäre, keine Arbeits- und Lebensgemeinschaft mit meiner Agentin zu haben.

Vor allem die männlichen Kollegen lassen gern den ‚einsamen Wolf‘ heraushängen.

Biff McGillicuddy aus Texas macht gerade weiter unten ein Selfie mit der Büste von Wagner. Biff gilt als die neue Stimme von Texas und sieht aus wie James Dean. Wenn ich mit meinem Isländer nicht so glücklich wäre, würde ich jetzt bestimmt mit diesem Texaner flirten. Quark, wem mache ich was vor? Ich habe ja Bröcki dabei, gewissermaßen meinen lebenden Keuschheitsgürtel.

Wie in dem berühmten Foto von Picasso am Strand, auf dem er einen Sonnenschirm über seine damalige Lebensgefährtin hält, während im Hintergrund ein junger Mann in Badehose breit lächelt, sind wir am letzten Wochenende in Bayreuth eingezogen. Nur dass es keinen Sand und kein Meer gab, dafür die Pflastersteine vor dem Hotel Silberne Traube. Und dass es regnete. Ich war Picasso, der einen Schirm über Bröcki hielt, damit sie nicht nass wurde. Hinter uns Yves, nicht in Badehose, dafür in taubenblauer Chauffeuruniform.

Es war ein filmreifer Auftritt.

Kein Wunder, komme ich mir an guten Tagen großartig vor, sehe mich in den Fußstapfen von Maria Callas – als Diva, die immer mit Entourage reist und ausnahmslos in den besten Häusern residiert.

An schlechten Tagen trübt kein rosaroter Schleier die Realität. Dann weiß ich, dass Bröcki es verpennt hat, sich rechtzeitig um eine Unterkunft für die Proben- und Aufführungszeit zu kümmern, und wir deshalb für teuer Geld im einzigen Hotel übernachten müssen, das kurzfristig noch Zimmer frei hatte. Wunderbare Zimmer, aber eben hochpreisig. Und das geht alles von meiner Gage ab, das zahlt nicht die Festspielleitung.

An solchen Tagen weiß ich auch, dass es ein Fehler war, Yves – den verkrachten Countertenor, großen Frauenflüsterer vor dem Herrn und Faulpelz par excellence – nach seiner Auszeit im Trappistenkloster erneut als ‚Chauffeur‘ zu engagieren, nur weil ich mit ihm befreundet bin und fürchte, er würde sonst mangels Engagements elend verhungern. Er rührt keinen Finger. Im Gegenteil, er verursacht Mehrarbeit.

Auch jetzt ist er nicht da, um mir dabei zu helfen, trotz des menschlichen Pitbulls neben mir an Champagner zu kommen. Yves hat uns in dem fetten Audi, den ich für die Bayreuth-Zeit gemietet habe, noch vom Hotel zum grünen Hügel gefahren, uns ein fröhliches „Ich parke nur schnell den Wagen“ zugerufen – und ward nicht mehr gesehen. Er ist bestimmt irgendwo in der Nähe, daran zweifele ich nicht. Aber so wie ich Yves kenne, vernascht er gerade eine Kellnerin auf der Herrentoilette oder die Hilfsköchin neben den Mülleimern hinter dem Restaurant.

Die laue Sommerluft dörrt meinen Hals aus.

„Ich will noch mehr Champagner!“, bocke ich wie ein Kleinkind.

„Nichts da.“ Bröcki verhandelt nicht. Bröcki entscheidet.

„Sei nicht albern“, sage ich zu ihr. „Ich hatte erst ein Glas!“

„Du hattest schon drei. Und so kurz vor dem wichtigsten Auftritt deiner bisherigen Karriere solltest du ohnehin keinen Alkohol trinken.“

Jedes neue Engagement bezeichnet sie grundsätzlich als wichtigstes meiner bisherigen Karriere, das zieht bei mir nicht mehr.

Dennoch hat sie nicht ganz unrecht. Wer Alkohol trinkt, scheidet vermehrt Wasser aus. Man kennt ja das Phänomen des ‚Nachdursts‘ am Morgen nach Alkoholkonsum. Durch den Verlust von Wasser und die ätzende Wirkung von Alkohol werden die Schleimhäute gereizt und können anschwellen. Wenn dann noch stimmliche Anstrengung wie Gesang dazukommt, hat das einen Verlust von Geschmeidigkeit der Stimmlippenschleimhaut über dem Stimmbandmuskel zur Folge. Die Stimmgebung leidet. Fatal für eine Opernsängerin.

Aber drei lächerliche Flöten Champagner? Das kann man doch nicht als Alkoholkonsum bezeichnen, mehr so als Konsümerchen.

„Vergiss es, du kriegst heute nichts mehr!“ Bröcki weiß immer, was ich denke. Folglich guckt sie jetzt streng.

Ich schmolle. Weil Schmollen aber keine Vollzeitbeschäftigung ist, lasse ich meinen Blick wieder über das Grün schweifen. Es ist schon spät, mithin dunkel, und die Farben des Rasens und der Blumen kommen nicht mehr so herrlich zur Geltung wie bei Sonnenschein. Aber die Atmosphäre ist großartig. An diesem historischen Ort, unter dem Sternenhimmel – ein Genuss.

Mit einem Glas Champagner in der Hand könnte ich es noch mehr genießen.

Ich schaue mich nach einem Kellner um, sehe aber keinen. Auch keinen Fan, der sich glücklich schätzen würde, mir ein Glas anzureichen. Obwohl ich schwören könnte, dass ich beobachtet werde …

Etwas hügelabwärts erkenne ich Carlos Meister, den argentinischen Tenor, der den Tristan singt. Ein begnadeter Sänger mit deutschen Wurzeln, aber etwas zu klein geraten und mit den typischen O-Beinen eines Gauchos. Er unterhält sich angeregt mit Kwang Yu, der den Kurwenal singt. Für einen Koreaner ist Kwang Yu ungewöhnlich massig, mit einem Schopf schwarzer Haare und ausgeprägten Grübchen in den Wangen.

Ich muss an den Mann in meinem Leben denken, Arnaldur Atlason – Isländer, Dirigent, Prachtkerl. Der in diesem Moment nicht an meiner Seite ist, weil er in London dirigiert und ich in Bayreuth singe. Unser Kontakt beschränkt sich momentan aufs Skypen. Geht mein Auge deswegen auf Wanderschaft? Um mir Appetit zu holen? Gegessen wird natürlich um Mitternacht am Laptop. Arni, mein Schatz, selbstverständlich bleibe ich dir treu!

„Du denkst doch schon wieder an deinen Arnaldur!“, lästert Bröcki. „Wie sonst lässt sich dieser glasige Silberblick erklären?“

„Ich bin eben Romantikerin. Was kann ich dafür, dass unsere Liebe noch heiß brennt, anders als bei dir und deinem Pittitatschi?“ Ich streichele wieder das Hundehinterteil auf meiner Schulter.

Bröcki kann man mit spitzen Bemerkungen nicht verletzen. Sie hat sich im Laufe ihres Lebens schon genug an Sticheleien anhören müssen und sich einen Panzer zugelegt, den ein so lässig hingeworfener Seitenhieb nicht mal an der Oberfläche ankratzen kann.

Laurenz Pittertatscher ist der Salzburger Kommissar, mit dem Bröcki seit kurzem verlobt ist. Er ist ungefähr dreimal so groß wie sie und erträgt ihre Alpha-Wölfinnen-Persönlichkeit mit Engelsgeduld. Aber auch die beiden sehen sich meistens online und nur selten live und in Farbe. Was Bröcki im Gegensatz zu mir locker wegsteckt. Das unterscheidet die pragmatische Agentin von der sehnsuchtsvollen Sopranistin.

„Bei Pitti und mir lodert die Flamme ungebrochen, keine Sorge.“ Bröcki funkelt mich streng an. Was ich hier draußen, abseits der Lampen und mitten in der Nacht, nicht wirklich gut sehen kann, aber dafür spüren. Ihre Blicke lassen die Luft vibrieren.

„Dann ist ja gut.“

„Da schau an … Ist das da drüben der Direktor des Schleswig-Holstein Musik Festivals? Den muss ich mir krallen. Kann ich dich hier allein lassen, ohne dass du Unsinn machst?“ Bröcki nimmt Witterung auf.

„Ja doch!“ Ich gucke beleidigt, aber in mir keimt stille Freude auf.

„Und kein Alkohol mehr! Verstanden?“ Bröcki stapft davon, um mir den Weg für mögliche neue Engagements zu ebnen. Gute Frau!

Natürlich sehe ich mich sofort nach einem Kellner um.

„Phantastisch, nicht wahr? Dieses Ambiente, der Hauch der Geschichte, der uns hier umgibt. Man bekommt Gänsehaut!“

Die Frau, die sich plötzlich und unerwartet neben mir materialisiert und ihren Enthusiasmus herauszwitschert, ist sehr jung und sehr schön und sehr grazil.

„Hier in Bayreuth durchläuft es mich immer … wie soll ich sagen? Ich finde keine Worte. Aber es ist tief, ganz tief! Wagner … der ist so unglaublich … sinnlich … die Blechbläser, der wuchtige Gesang … das haut einen jedes Mal aufs Neue um, findest du nicht auch?“, flötet sie und breitet die Arme aus, als wolle sie die ganze Welt an ihre flache Brust reißen.

Ich stehe wie erstarrt.

Radames spürt mein Entsetzen, wacht auf und strampelt mit den Beinchen, bis ich ihn von meiner Schulter nehme, auf meine Hüfte setze und mit dem linken Arm festhalte. Er sieht, mit wem ich spreche, und fängt – solidarisch mit meiner inneren Pein – an zu kläffen.

Die frisch materialisierte Frau ist keine Frau, sondern eine Person.

Eine Person, die ich leider Gottes nur zu gut kenne. Und die ich von Herzen hasse.

Es ist meine Erzfeindin – das Hermännchen!

Bayreuth, dumpf ahnend

Von intriganten Hermännern und fliegenden Gabeln

Auch Menschen verursachen Nebenwirkungen. Manche Herzklopfen, andere Kopfschmerzen und einige Brechreiz. Das Hermännchen gehört für mich zur dritten Kategorie. In ihrer Gegenwart fühle ich mich immer so, als würden fleischfressende Bakterien langsam und genüsslich meine Eingeweide schnabulieren.

„Pauline!“, ruft sie.

„Dingens!“, rufe ich. Nicht, weil ich mir keine Namen merken kann, sondern weil ich ein böses Mädchen bin.

Wir hauchen beide Küsse in die Luft. Weil unsere Abneigung auf Gegenseitigkeit beruht, sind es eigentlich nicht einmal gehauchte Luftküsse. Wir formen beide nur einen Entenschnabel und bewegen unsere Köpfe einmal kurz nach links und rechts.

„Herr Ober!“ In wilder Panik winke ich einen Kellner herbei. Wenn ich mit der Linken nicht meinen immer noch kläffenden Radames festhalten müsste, würde ich zwei Gläser von seinem Tablett nehmen. Nötig wär’s. So sage ich nur: „Einen Moment!“, kippe den Champagner in einem kräftigen Zug, stelle die Flöte zurück aufs Tablett und nehme die nächste.

Weil schon die ersten Gäste genervt zu meinem außer Rand und Band geratenen Terrier schauen, setze ich ihn ab. Prompt verstummt er und schnüffelt an den winzigen, goldenen Riemchensandalen des Hermännchens. Was für eine Schuhgröße hat die Frau? 32? Ich habe 41 1/2 und komme mir – wie eigentlich immer in ihrer Gegenwart – wie der Turm zu Babel neben einem Puppenhaus vor.

„Du hier?“, flöte ich, angestrengt höflich. Heimlich hege ich die Hoffnung, mein Radames könnte, sobald er seine olfaktorische Neugier befriedigt hat, das Beinchen heben und ihre goldenen Sandalen vollstrullern. „Bist du die Begleitung von einem der Anwesenden?“

Sie lacht perlend. „Aber nein, ich singe hier.“

Bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht, fleht es in mir, weil in mir eine dunkle Ahnung aufsteigt, worauf das hinausläuft.

„Wir singen wieder in derselben Oper, wie letztes Jahr in Bregenz. Nur dass es dieses Mal Tristan und Isolde ist, nicht Turandot. Ich singe die Brangäne. Hast du das etwa nicht gewusst?“ Silke von Hermann klimpert mit den falschen Wimpern.

Nein, habe ich nicht. „In der Besetzungsliste stand ‚bei Drucklegung noch offen‘.“ Ein Erklärungsversuch. Offen gestanden hätte wohl jede andere bei der Festspielleitung angefragt, wer für die Rolle im Gespräch ist. Mir ist es aber normalerweise egal, wer neben mir auf der Bühne steht. Für mich zählt nur, welche Bühne es ist und dass ich eine gute Partie singen kann. Das rächt sich jetzt.

„Du weißt, dass eigentlich ich für die Rolle der Isolde vorgesehen war? Meine gesangliche Bandbreite hätte das auch hergegeben.“ Silke von Hermann, diese falsche Schlange. „Aber ich war zeitgleich noch für Verona angefragt und habe mich erst in letzter Sekunde entschieden, deswegen haben sie dann wohl dich genommen. Um auf Nummer sicher zu gehen.“ Sie lacht. „Hoffentlich denkst du jetzt nicht, ich will damit prahlen, wie gefragt ich bin …“

Doch, genau das denke ich.

Während die Hautevolee die neue Saison feiert und es im Steigenberger perlt und glitzert und smalltalkt, intrigiert es also auch. Und zwar mir direkt ins Gesicht.

„Ich konnte es erst gar nicht glauben, als ich hörte, dass du die Isolde singen wirst.“ Silke von Hermann klingt staunend. Treuherzig schaut sie mich von schräg unten an. Ich bin nicht nur breiter als sie, sondern auch größer. Im Grunde bin ich ein Elefant und sie eine Maus. Ich könnte sie lässig zertreten, aber man weiß ja, wie Elefanten auf Mäuse reagieren: verschreckt.

Ich kippe den Rest meines Champagners in einem Schluck. „Ja, ich singe die Isolde. Warum auch nicht?“

„Na, weil das eine hammerharte Partie ist!“

„Nicht, wenn man die Stimme dafür hat.“

„Schon, aber hat man sie?“, fragt das Hermännchen betont unschuldig.

Das ist eine Provokation sondergleichen.

Silke von Hermann ist eine waschechte Komtesse. Für Adelsunkundige: eine unverheiratete Gräfin. Wer allerdings vom guten Stall auf gute Manieren schließt, handelt voreilig. Ihre Familie ist im norddeutschen Flachland beheimatet. Silke ist die einzige Tochter ihrer Eltern: blaublütig, blondhaarig, blauäugig, bulimisch. Das weiß ich alles, weil ich mir bei unserem letzten gemeinsamen Engagement zeitweilig die Garderobe mit ihr teilen musste.

Kurzum, sie ist das genaue Gegenteil von mir.

Schon auf den ersten Blick war sie mir unsympathisch. Ich würde mich ja gern damit trösten, dass sie zum Unrat des Lebens gehört wie Stechfliegen zum Hochsommer, aber das ist mir kein Trost. Nur zusätzliches Ärgernis. Muss es in einer Welt, in der es schon Stechmücken gibt, auch noch eine Silke von Hermann geben?

„Ich bin sehr gut auf die Rolle vorbereitet, keine Sorge“, zischele ich.

„Da bin ich ganz sicher.“ Das Hermännchen nickt. „Und falls es doch Probleme geben sollte, wird es dich sicher trösten, dass ich auch die Partie der Isolde draufhabe. Ich kann jederzeit für dich einspringen. Die Aufführungen sind gesichert.“

Ungeheuerlich! Un-ge-heuer-lich!

Was soll man auf so eine Provokation antworten?

Ich lächele ihr unterkühlt zu, hebe meinen Radames auf und lasse sie einfach stehen.

Mein Weg führt mich zu Bröcki.

Normalerweise halte ich immer Abstand, wenn sie gerade mit Entscheidungsträgern spricht, die mich eventuell engagieren könnten. Ich habe Angst, dass die Staubsaugervertreterin in ihr durchkommt und sie ihrem Gegenüber eine Demonstration anbietet, um die Kauflust anzufachen. Etwa mit den Worten: Pauline, sing mal was a capella, los schon. Koloratur. Bis zum hohen C.

Aber als ich sie in dem Getümmel der Leiber entdecke, ist sie allein. Das Mitternachtsbüfett wurde eben eröffnet und Bröcki hat immer Hunger.

Wie üblich hat meine kleinwüchsige Agentin eine riesige Schultertasche dabei, in der alles steckt, was man als Aus-der-Norm-Gefallene braucht, unter anderem auch ein Klappschemel. Den hat sie jetzt aufgebaut, ist draufgeklettert und begutachtet die dargebotenen Häppchen.

„Das hast du doch gewusst!“, zischele ich ihr zu.

Sie schaut nicht zu mir auf, sie hat nur Augen für die Shrimps. Man hat die Wahl zwischen Shrimps au naturelle und Shrimps in Senfsoße. „Gib mir von beidem“, befiehlt sie.

Ich drapiere Radames wieder über meine Schulter. Prompt schläft er ein. Kläffen macht müde.

„Du hast gewusst, dass dieses blöde Hermännchen mitsingt!“, fauche ich und hantiere vor Zorn so grobmotorisch mit dem Vorlegelöffel, dass mir die Shrimps in den Eiersalat purzeln. Ich mache aus der Not eine Tugend und forme auf Bröckis Teller einen Nachbau des Mount Everest, bestehend aus frisch kreierten Eiersalatshrimps an Senfsoße.

„Ich kann so nicht arbeiten“, nöle ich, ohne zu Bröcki zu schauen.

Auf dem Everest fehlt noch die Krönung: gewissermaßen die Erstbesteiger Edmund Hilary und Tenzing Norgay. Ich schaue mich nach etwas Passendem um und entdecke die Hackbällchen-Cocktailtomaten-Spieße. Während ich zwei davon auf dem Eiersenfshrimpsberg anbringe – und noch einen dritten, nur Hackbällchen ohne Tomate, also quasi Reinhold Messner ohne Sauerstoffgerät –, schimpfe ich in Endlosschleife unablässig weiter.

„Sie wird mir die komplette Saison in Bayreuth vermiesen. Womöglich wirft sie mir sogar Holzknüppel zwischen die Beine. Oder träufelt mir bei den Proben Arsen in die Wasserflasche. Sie hat mir erzählt, dass sie die Isolde auch singen kann. Die will meinen Job und meinen Ruhm einstreichen! Für diese lächerliche Möchtegernsoubrette bin ich doch tagtäglich Salz in der offenen Wunde ihres mangelnden Talents. Der fehlt voll das persönliche Timbre – keinerlei Nuancen, nichts, was Sangeskunst ausmacht. Haben wir das nicht schon in Bregenz erlebt? Sie verbreitet Gerüchte über mich, bändelt mit meinem Arnaldur an, macht durch ihre Inkompetenz kostbare Aufführungsproben zu nervenzermürbenden Zerreißproben …“