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Gerold Foidl

Scheinbare Nähe

Herausgegeben und mit einem Nachwort
von Dorothea Macheiner

HAYMON

 

 

 

 

 

Geständnis und Lüge ist das gleiche.

Um gestehen zu können, lügt man.

Das was man ist, kann man nicht

ausdrücken, denn dieses ist man eben;

mitteilen kann man nur das, was man

nicht ist, also die Lüge.

Erst im Chor mag eine gewisse

Wahrheit

liegen.

Franz Kafka, Fragmente

Es gibt kein Schicksal,

das durch Verachtung

nicht überwunden

werden

kann.

Albert Camus, Mythos von Sisyphos

 

 

 

Ich hoffte, er begreife mich. Es war ein öder Nachmittag und dauerte viel zu lange bis zum Abend, wo für mich der Tag beginnt. Mir kam der Einfall zu dem Gespräch erst nach einiger Zeit. Unachtsam sah ich mich in dem Studentenlokal um, ohne den wenigen Gästen sonderlich Aufmerksamkeit zu widmen. Junge Mädchen, Arbeitslose, ein kanadischer Tramper und ein älterer Mann, der in seinem Anzug fehl am Platze wirkte, saßen gelangweilt herum. Am Thekenende ein Bärtiger, den ich flüchtig kannte. Er stierte vor sich hin, verriet aber keinerlei Anteilnahme an dem, was um ihn vorging. Er hatte ein Glas Weißbier vor sich stehen. Wie einen Meißel umklammerte er das Glas, dessen Rand er sich beim Trinken mit kaum unterdrückter Wut zwischen die Lippen stieß. Meine Aufmerksamkeit galt vorerst seinen Bewegungen, seinem Äußeren. Diese Art des kalten Beobachtens empfand ich als angenehm; wie einen Zustand intensiven Dabeiseins, ohne auch nur irgendwem gegenüber Verantwortung auf mich zu laden. Abrupt setzte er das Glas ab. Das Bier schluckte er nicht, er preßte es hinunter. Er ließ den Kopf nach vorn fallen. Sein unzufriedener Gesichtsausdruck kehrte dabei wieder. Unter dem Bartrand wurde am Hals ein größeres Ekzem sichtbar. Aufgeschorfte Haut, gerötet wie von einer Verbrennung; mit weißen Rändern, die an Ausfluß erinnerten. Peinlicherweise auch an meine Mutter und mein gestörtes Verhältnis zu der Toten. Leute mit Hautausschlägen mochte ich nicht. Ihr Anblick bereitete mir Gewissensbisse. Meine Mutter lag vor Jahren mit einem Ekzem, das den gesamten Körper überzog, zu Hause. Sie roch stark und unangenehm und glich einem Klumpen Eiter. Wäre ich ein guter Sohn gewesen, hätte ich mit ihr Mitleid empfinden müssen. Ich aber konnte mich nicht dazu zwingen. Durch ihr Aussehen war sie mir fremd geworden. Sie störte mich. Wenn es sich irgendwie machen ließ, mied ich das kleine Zimmer, in dem die bandagierte Gestalt wie eine zu Grabe getragene Aussätzige lag. Im Sommer roch es besonders unangenehm, weil man wegen der Fliegen das Fenster nicht öffnen konnte. Sie war schuldlos dazu gekommen. Trotzdem hatte ihr verunstaltetes Aussehen sie mir so entfremdet, daß ich ihr gegenüber Ekel empfand. Ihrem Blick sah ich an, daß sie es wußte. Das Ekzem des Bärtigen war abgetrocknet, machte den Eindruck einer sauberen Behandlung. Weshalb ich dachte, man könne mit ihm reden, da mich nicht zu sehr davor ekelte. Es gelang mir, ihn zu überraschen. Er nahm meine Worte nicht gleich ernst, wurde erst mit Verzögerung betroffen. Er wollte wissen, was mich zu dieser Entscheidung bewogen habe. Schließlich sei es doch gewiß nicht einfach, mit einem Schlag alles zu verwerfen, was bisher einem Leben Sinn gegeben habe. Die Art, wie er das sagte – es verriet eine ganze Menge über ihn, ließ mich für ihn Sympathie empfinden. Wäre er nur ein oberflächlicher Mensch gewesen, hätte er das nicht so sagen können. Leute, die einem nur Recht geben wollten, begriffen keinesfalls, was es für einen Schriftsteller bedeutete, wenn er an einem in nichts außergewöhnlichen Nachmittag zu einem ihm nur flüchtig Bekannten sagte: „Ich habe mich endgültig entschieden: Ich gebe das Schreiben auf – für immer!“

Ich mußte meine Stimme zuerst hören, um der in wochenlanger Untätigkeit gereiften Entschlossenheit zu trauen. Wie vielen Leuten würde ich in den nächsten Tagen dasselbe erzählen müssen, um sie dazu zu bringen, diesen Entschluß so zur Kenntnis zu nehmen, daß sie in ihrem Verhalten mir gegenüber die erwarteten Konsequenzen zogen. Damit ich nicht länger Angst vor dem Gefrage der Leute haben mußte. Wann mein nächster Roman fertig werde. Ob in der Zwischenzeit von mir schon wieder etwas herausgekommen sei. Woran ich gerade schreibe. Eklig war es, ungefragt von der Öffentlichkeit einvernommen zu werden. Sie drängten mich in die Position eines Sträflings, dem man verspricht, daß er sich freiarbeiten kann. Natürlich waren es nicht die Verleger, die mich bedrängten. Ich besaß weder entsprechenden Ruhm noch Marktwert, um als Lohnabhängiger, der sich freier Schriftsteller nennen durfte, von Forderungen nach einem Buch pro Jahr bedroht zu werden. Auch Kritiker oder öffentliche Institutionen setzten mich durch übersteigertes Interesse nicht unter Zugzwang. Es waren nur die wenigen Leute, denen ich – mehr durch meinen Anblick als ihr Wissen um mein bisheriges literarisches Werk, was bei einem Buch und den paar Geschichten einer unverschämten Übertreibung gleichkommt – unterschiedlich bekannt war. Es bereitete mir Freude zu wiederholen, daß ich, so weit ich das absehen könne, nie wieder schreiben werde. Es erleichtere mich ungemein. Nun würde ich endlich dazu kommen, nichts anderes als nur ich selbst zu sein. Ein riesiger Ballast schien mit der Fortführung meiner Selbstversicherungen von mir abzufallen. Indem ich mir die Freiheit nahm, mich meiner Zukunft zu verweigern, einen Teil Vergangenheit zu stornieren, ohne deren Existenz in Frage zu stellen. Das verduzte Gesicht des Bärtigen gab mir Auftrieb. Sein Zuspruch, alle Schriftsteller würden von solchen Krisen heimgesucht, entsprach ungewollt meinen Erwartungen. Bot es mir doch die gewünschte Gelegenheit zum Widerspruch. Ich wußte, was ich wollte. Meinen Entschluß würde ich in einem brillanten Akt logischer Begründungsfähigkeit als unumstößlich und so für mich nicht mehr anzweifelhaft darstellen. Um das nötige Selbstvertrauen zu bekommen, mir in der kommenden Zeit meines Nicht-mehr-Künstler-Seins meiner selbst gewiß zu sein. Der Bärtige erwies sich als sehr brauchbarer Gesprächspartner. Er hatte eine angenehme Art, auf meine Argumente nicht unkritisch und doch bereitwillig einzugehen. Ob ich mir schon überlegt habe, was ich in Zukunft anfangen wolle. Von irgend etwas werde ich ja schließlich leben müssen. Finanziell hätte ich vorgesorgt, sagte ich. Diesbezüglich bringe mich das Nichtstun nicht in Verlegenheit. Ich würde mir etwas suchen, das mir Freude mache. Um ehrlich zu sein, ich könne ihm ruhig anvertrauen, daß ich das Schreiben schon seit längerer Zeit nur mehr aus Zugzwang betrieben habe. Aus Verlegenheit, weil ich nichts anderes zu tun wußte. Innerlich sei der Ofen schon lange aus gewesen. Nein, über Nacht sei das natürlich nicht gekommen. Er verstehe das alles, aber die Entwicklung müsse sich doch zurück verfolgen lassen. Natürlich nicht bis zu einem exakten Termin. Er verstehe schon, wie das vor sich gegangen sei. Aber ich müsse doch etwas dagegen tun oder auch nicht. Er könne sich gut vorstellen, daß man durch irgendwelche Umstände unaufhaltbar die Beziehung zur Kunst verliere. Bei ihm sei das Gegenteil der Fall. Deswegen das Interesse. Das hatte noch gefehlt: Ein weiterer Künstler, womöglich sogar ein Schriftsteller. Weit entfernt hörte ich ihn reden, während ich in Musik versank. Paco de Lucia spielte mexikanische Volkslieder. Cielito lindo. Este pájaro azul. Adelita. Mehr als ein halbes Jahr ist das jetzt her. Damals gab es den Riß. Über die Enttäuschung bin ich bis jetzt nicht drüber weg, wenn ich an die Kälte denke, mit der mich Europa nach meiner Rückkehr abwies. Der Bärtige erstaunte mich, als ich ihm von meinen mexikanischen Erlebnissen erzählte, durch sein überraschendes Maß an Einfühlungsvermögen. Wie notwendig hätte ich bei meiner Rückkehr einen solchen Menschen gebraucht. Selbst Heino und Simon, mit denen ich so eng befreundet gewesen war, betrachteten mich als Spinner, den die Euphorie nicht aus den Klauen läßt, wenn ich behauptete, ich besitze keine europäische Mentalität. Der Bärtige hingegen kannte den unstillbaren Hunger, der Leute zeitlebens herumstreifen läßt, unruhige Seefahrer auf den Meeren ihrer Träume, verängstigte Schiffbrüchige an den Gestaden der Wirklichkeit. Davon erzählte er in langen Sätzen, mit gequälter Stimme. Als suche er die sich rascher entfernende Hoffnung nicht aus dem Gesichtsfeld zu verlieren. Obwohl jünger als ich, war er doch schon wesentlich verbitterter. Seine Möglichkeiten, sich zu verändern, waren beschnitten. Ihm blieb seit seiner Heirat, inzwischen hatten sie bereits ein Kind, nur mehr ein kleiner Freiheitsspielraum, meinte er. Sein Leben gehe schrittweise auf allen Gebieten in die Brüche. Geld verdiene er genug mit einem Stadtcampingplatz, aber Zeit habe er keine mehr. Auch kaum noch Interessen. Sie könnten sich leisten, was sie wollten. Trotzdem sei er noch nie so unglücklich wie jetzt gewesen. Er mache im Herbst wieder an der Pädak weiter. Er werde genau das erreichen, was man von ihm erwarte: Daß er ein guter Lehrer und ein anständiger Mensch werde. Er war ein sanfter Mensch mit einem freundlichen, scheuen Lächeln. Jetzt fällt mir wieder ein, daß ich zu ihm sagte: „Mir ist, als ob ich mich auf den Tod vorbereitete. Ich habe nichts mehr zu erwarten, da ich schon über vierzig bin. In dem Alter hat man ohnehin schon zu lang gelebt.“ Nachträglich spürte ich zwar Beklommenheit. Warum nur machte ich das. Wie unüberlegt, mit wie wenig Rücksicht auf die seelische Verfassung anderer Leute. Der Eindruck mußte entstehen, ich sei gefühlskalt. Es stimmte ja. Ich dachte so. Es war meine ehrliche Meinung. Für mich gab ich nichts mehr, ohne dabei mich deprimiert zu fühlen. Es bestand, so wie ich das jetzt empfand, keinerlei Hoffnung, daß sich bei mir noch etwas zum Besseren wenden könne. Mir drängte sich der Eindruck auf, ich sei leergebrannt, ohne Freude, unfähig zu leben, mit einem letzten Funken Hoffnung. Ich könnte auch von einer letzten Möglichkeit zur Flucht sprechen: zurück nach Mexiko. Ohne mich zu entschuldigen, ließ ich erkennen, daß ich so etwas wie vorhin nicht mehr zu sagen gedenke. Er hoffe es, sagte er, da er sonst nicht mehr mit mir sprechen könne. Er dürfe sich nicht vorstellen, ich habe dies ernst gemeint. Während ich meinem Unmut über den Literaturbetrieb und seine immer stärker überhand nehmenden Entartungserscheinungen, die den Autor in die Rolle des Lohnabhängigen verbannten, Luft machte, sagte er sehr leise: „Das einzige, was mir noch etwas bedeutet, ist, einen Gedichtband herauszubringen!“ Überrascht sah ich ihn an und schwieg.

So einfach, wie ich das angenommen hatte, konnte ich das Gespräch mit dem Bärtigen nicht aus meinem Gedächtnis verdrängen. Vielleicht rührte meine Betroffenheit daher, daß ich die tristen Aussichten meines Lebens auf ihn übertrug. Er war jung, hatte mehr Fantasie als ich, trotzdem stand ihm seine Frau im Weg; überhaupt seine Familie. Die hinderten ihn, noch einmal frei sein zu können. Nicht um sich zu verändern, sondern, genau wie ich es vorhatte, um zu flüchten.

Nichts ist in unserem Leben so beschaffen, daß es nur die Seite ausweist, die wir gern sehen. Überall gibt es den berühmten Haken. Kaum fühlt man sich eine Weile sorglos und denkt, es könne einem gar nichts passieren, liegt man bereits auf der Nase. Umsonst wurde ich nicht so mißtrauisch. Wer sich so wenig wie ich auf Kompromisse einzulassen bereit war, mußte vorsichtig sein. Der Bärtige hatte Angst, er könne das letzte Stück Achtung vor sich selbst verlieren. Welche Rivalität drückte sich doch in seiner Verbitterung aus, wenn er von seinem Sohn und seiner Frau erzählte.

„Ich sehe es ja ein. Meine Frau fordert es und sie hat damit auch ganz recht. Der Herr Prinz soll es einmal gut haben. Dem Herrn Prinzen soll es an nichts mangeln. Und natürlich hat sie recht, wenn sie nicht versteht, daß ich daneben auch noch einige Bedürfnisse habe. Ohne die ich langsam absterbe, vielleicht schon tot bin. Was ich jetzt mache, taugt nichts. Ich arbeite, zum Reden kommen wir kaum noch, dann gehe ich da her, betrink mich jedesmal und komm in einem Zustand nach Hause, wo mit mir nichts mehr anzufangen ist. So geht es weiter. Mein ganzes Leben ist verplant. Mir bleibt nichts mehr. Nichts.“

Was ich darauf sagen konnte, eignete sich nicht als Trost. Mehr als Abwehr, um mich vor dem Übergreifen der Verbitterung zu schützen. Man mußte es von der Warte aus betrachten, daß wir alle unseren Preis zahlten.

„Wenn ich nach Hause komme, ist die Wohnung leer. Es gibt da keinen Menschen, mit dem ich reden könnte. Dabei ist belanglos, ob ich, mehr als nach etwas anderem, das dringende Bedürfnis danach habe. Damit muß ich zurecht kommen. Meine Ungebundenheit als Lediger ist nur so lange etwas wert, als ich mich von meinen Stimmungen nicht unterkriegen lasse. Deprimiert kann ich sein, aber es muß vergehen. Ich muß mir dessen sicher sein, daß alles vergeht. Fieber, jede Art von Krankheit und Betrübnis. Sonst kann die kleinste Nebensächlichkeit, eine Erkältung etwa, tödlich werden, wenn man allein lebt.“ Ich gab ihm recht, daß Einsamkeit auch äußerst positiv sein könne, und es klang schon wieder vermessen, als ich sagte, ich hätte eben damit zu leben gelernt. Als bereite es mir keinerlei Probleme. Als sei ich jene in mich geschlossene Persönlichkeit, als die ich mich gern sah. Die soviel Wert auf den Eindruck der Gelassenheit legte. Der Bärtige entschuldigte sich mehrmals dafür, daß er noch viel zu lernen habe und noch nicht so weit sei. Vielleicht entwickle er sich nie dahin. Überlegen kam ich mir dabei nicht vor. Genug Dinge gab es, die mir zusetzten. Situationen, in denen ich keinen anderen Ausweg fand, als meine vier Wände hastig zu verlassen und zu flüchten. Einmal ins Cafe, das nächste Mal in Richtung Mexiko. Dabei wußte ich so genau, daß Eiterbeulen von einem Ort zum andern zu transportieren die Probleme nicht löst. Wie sehr gaukelt ein Urlaub in Griechenland vor, das Leben könne anders sein. Man ist zutiefst davon überzeugt, bis man zwei Stunden später auf dem heimatlichen Flughafen ankommt und nichts mehr so ist. Wo ist der Zauber geblieben, fragt man sich dabei verzagt. Wohin verflüchtigte sich die Leichtigkeit, das Gefühl sich selbst so sehr zu mögen, daß ein unwiderstehlicher Drang einen in die Nähe anderer Menschen trieb. Ein nicht merkbarer Ruck im Äonenablauf und die soeben noch vorhandene Freude ist getilgt. So denke ich, der Freudlose. Der scheinbar nicht existieren kann, ohne sich des Unglücks ständig bewußt zu sein. Vielleicht stimmt wirklich, was ich vor vielen Jahren sagte: Daß ich mich vor dem Glück fürchte, daß ich Angst davor habe. Es mir unerträglich ist, weil es keine Steigerung zuläßt. Dauernd müßte ich daran denken, daß es vorbei geht und danach ein Abgrund auf mich zukommen könnte. So war ich früher nicht. Seit drei Jahren habe ich meine Sicherheit verloren. Auch das hängt mit der Schriftstellerei zusammen. Mit dem hart erkämpften Erfolg, dem bislang einzigen. Seit dieser Zeit versuche ich vergeblich ein neues Buch zu schreiben. Es hat nur wenig damit zu tun, daß Schriftsteller, weil ihr erstes Buch meistens autobiographische Züge trägt, sich häufig so schwer tun, um den Sprung in die Fiktion zu schaffen. Das zweite Buch müßte ich vor mir vertreten können. Dazu müßte es aber besser als das erste sein. Beträchtlich besser. Mir ist zu sehr inzwischen klar geworden, was Qualität ist, wieviel ich von mir fordern müßte und was ich nicht erbringen kann. Ich hätte nicht monatelang lesen sollen; es hat mich ganz konfus gemacht. Mein Kopf glich zeitweise einem Bienenschwarm, in dem die Unterscheidungsfähigkeit zwischen Drohnen und Arbeiterinnen verloren gegangen ist. Ich experimentiere seit Jahren mit Texten, die selten über einige Seiten Umfang hinaus gelangen. Mißlingt mir etwas, bin ich tief bedrückt und kann tagelang nicht arbeiten. Ständig bin ich mit dem unzufrieden, was ich leiste; passe das Konzept immer wieder meinen augenblicklichen Erlebnissen an und zerreiße so, was auch nur den Anschein einer Struktur zeigen könnte. Meine Zerrissenheit überträgt sich auf das, was ich schreibe, nicht als Kunstwerk. Auch nicht als Ausdruck seelischer Zerworfenheit, mit sich nicht ins Reine gelangen zu können, sondern als willkürlicher Umgang mit Sprache und Form. Wäre ich wirklich ein Literat, müßte ich mich deshalb verachten. So sehr mich dies auch beschäftigen mag, den Leuten, die mir manchmal zuzuhören gewillt sind, ist das gleichgültig. Es muß ihnen im Grund egal sein, was solch ein Schreiberling leidet. Sie können es sich nicht vorstellen. Genauso wenig wie ich eine Vorstellung vom Leben habe, das die anderen führen. Wir leben in zwei getrennten Welten, können uns nicht wirklich verstehen. Nur bin ich derjenige, der auf die anderen mehr angewiesen ist als sie auf mich. Das sollte mir einmal klar werden. Ich wollte, ich könnte anders denken. Nicht so, als würde ich sie für ein Buch schreiben. Nichts ist dabei unmittelbar, alles kontrolliert und – was mich dabei so deprimiert – trotzdem bringe ich nur Erbärmliches hervor. Wenn Kafka von sich solches behauptete, ist das etwas anderes. Für ihn war die Einschätzung seiner Fähigkeiten genauso ein unbarmherziger Kampf, dauernd gegen die Vernichtung der eigenen Existenz anschreiben zu müssen. Wie oft vereinnahmte ihn dabei die Niedergeschlagenheit dermaßen, daß er sich selbst für alle künftigen Zeiten, die zu erleben er noch befürchtete, als unrettbar verloren darstellte. Im Auf und Ab seiner extrem verlaufenen Zustände findet man viele solcher Augenblicke festgehalten, in denen er mit geradezu bodenloser Verzweiflung sich verbindet, daß mich beim Lesen seiner Tagebucheintragungen jedesmal Beklommenheit erfaßte. Trotz allem zählt es wenig. Derselbe Kafka konnte nachts um zwei in ein Quartheft schreiben:

Wenn ich wahllos einen Satz hinschreibe, zum Beispiel „Er schaute aus dem Fenster“, so ist er schon vollkommen. Allein so etwas zu denken, fehlt mir nicht der Mut sondern die Berechtigung, eine solch unerhörte Behauptung aufzustellen. Alles Schreiben ist nichts als stetes Hinarbeiten auf eine Verbesserung. Dabei gibt es keine Vollkommenheit. In unserem Zeitalter steht alles in Zweifel. Sich selbst zu vertrauen, bedeutet nicht unbedingt, daß man eine Sache beherrscht. Wie oft steht hinter solcher Sicherheit nichts anderes als sich für den guten Glauben einen Bonus auszustellen. Der hinterher nur allzu oft Bestandteil einer Fehlkalkulation wird.

Ich will nicht mehr schreiben. Sicher bin ich mir trotz aller vermeintlichen Gelassenheit nicht, die mich momentan empfinden läßt, als stehe mir ungeheuer viel Zeit zur Verfügung und als brauche ich mich um meinen Zweifel im Augenblick nicht zu kümmern. Es ist ein riskantes Unterfangen auf Langzeit, das ich fast schon eingegangen bin. Nicht mehr jugendlich, entledigt auch der nichtsdenkenden Unbeschwertheit, die einem Kind eignet im Vergleich zur Selbstverständlichkeit, die ich so beschwöre, um anderen begreifbar zu machen, daß ich wirklich nicht weiß, wer ich bin. Ich habe keine Klarheit über meinen Wert, wie ich wirke, was andere von mir halten, was sie glauben, worauf ich aus sei, ob sie mich für lächerlich oder ungemein beeindruckend halten. Tatsache ist, daß ich mir die Position verliehen habe, von der ich behauptete, ich nähme sie unerschütterlich ein. Die Fundamente sind in Bewegung geraten. Vielleicht umschreibe ich so wortaufwendig meine Verweigerung gegenüber dem Prinzip Leben? Um diese Zeit war der hintere Teil des Cafes noch nicht geöffnet. Einer der Kellner, der mich zwar nicht zu mögen scheint, mir aber Respekt entgegen bringt, ließ mich durch und drehte das Licht an. Das Lokal begann sich zu füllen. Die vielen Leute vorn draußen ängstigten mich. Wenn mir inmitten der anderen auch nicht mehr als eine Anpöbelei zustoßen konnte; ich vermied sie lieber. Ich besaß keine Kraft, mein früherer Schwung war verloren gegangen, die Zeiten vorüber, wo ich es genossen hatte, wenn mich jemand angriff. Wie wenig Diskussionen und sonstige Auseinandersetzungen etwas waren, was mich zu befriedigen vermochte, als Training war es mir willkommen. Wie sollte ich das anderen Leuten klar machen? Meine Beziehungen zur Umwelt sah ich aus der totalen Sicht einer Organisation, die zwangsläufig irgendwann einen Machtkampf herbeiführt. Das würde wohl auch der Bärtige nicht verstehen. Er hatte sich seinen Eltern immer untergeordnet. Ihm war nur die Trauer über das verpaßte Rebellentum bekannt. In seiner Vorstellung war er immer so gewesen. Für mich wußte ich aber, daß ich früher anders war. Deshalb gab es keine Entschuldigung für mein endgültiges, unwiderrufliches Scheitern. Oder sollte wider Erwarten noch einmal etwas vor mir liegen? Als ich mit dem Schreiben begann, war mir gleichgültig, ob jemand an mich glaubte. Ich verließ mich allein auf meine Hartnäckigkeit, die zu genügen versprach. Es gab damals keinen Grund daran zu zweifeln, wenn ich sagte: „Wie ich jetzt bin, kann ich mir nichts vorstellen, das im Stande wäre, mich aus dem Gleichgewicht zu heben. Ich würde nur eines nicht verkraften: Sollte ich einmal nicht mehr schreiben können, würde es für mich bedeuten, daß ich tot bin.“

Neun Bier und drei Anisschnäpse hatte er getrunken, als er mehrmals betonte, er müsse nun unwiderruflich nach Hause. Seine Frau werde sonst ernstlich böse. In diesem Fall sei sie auch ganz im Recht. Seine Sorgen beschäftigten mich weiter. Plötzlich betrafen mich die Angelegenheiten eines Menschen, den ich Stunden zuvor als nicht weiter bemerkenswert eingestuft hatte, und ich, aus dem einfachen Grund einer Mitwisserschaft heraus, mich mitbeteiligt an seinem weiteren Los fühlte. So etwas entsprach sonst in keiner Weise meiner Art. Es störte den Rhythmus Alleinlebender, sobald sie sich mit den Sorgen anderer zu intensiv beschäftigten.

Er ging nach Hause, vielleicht nahm er ein Taxi, so betrunken wie er war, oder er fuhr mit dem Rad. Hatte er nicht gesagt, es mache ihm abends Spaß mit dem Rad zu fahren? Wahrscheinlich wohnten sie in der Nähe des Campingplatzes. Wie kam ich nur auf die fixe Idee, daß sie in einem komfortablen Wohnmobil wohnten. Seine Frau war allein. Wahrscheinlich hat sie gebügelt. Das Prinzenkind, wie er seinen Sohn mit bitterer Zuneigung bezeichnete, schlief wohl schon. Natürlich wußte die Frau, daß er ins Cafe ging, um sich zu betrinken. So praktisch sie auch war – jedenfalls hatte er das von ihr behauptet – verstand sie wohl trotzdem schwer, warum er das jeden Tag tat. Er kam nach Hause. Sie saß am Küchentisch und las ein Buch. Was er als einen Ausdruck des Verletztseins wertete, war von ihr als Zeichen des Verdrusses gemeint. Schon wieder kam er in einem Zustand nach Hause, daß sie sich nicht mehr darüber aussprechen konnten, was dringend einer Klärung bedurft hätte. Würde er nicht endlich verstehen, daß sie nichts mehr wollte als ihm zu helfen. Er konnte doch nicht vergessen haben, wie verliebt sie gewesen waren. Sie waren glücklich gewesen, von nun an alles gemeinsam zu erleben, zusammen bewältigen zu können. Wie oft hatten sie darüber gesprochen, daß sich ihnen nun die Gelegenheit bot zu beweisen, daß man auch anders leben könne, als es einem die Eltern vorgemacht hatten. Aber wahrscheinlich hatte er jetzt Gewissensbisse. Er wollte wohl genauso schon seit langem zu den zwischen ihnen anstehenden Problemen etwas Gültiges, Entscheidendes sagen. Doch jetzt kam er sich kläglich vor und es war nicht der richtige Zeitpunkt dafür und so sagten sie beide nichts. Schweigend setzten sie sich an den Tisch und bewiesen die Gemeinsamkeit ihres Denkens und Empfindens damit, daß sie gleichzeitig sagten: „Es ist spät geworden.“

„Ja“, sagten beide darauf.