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Gerold Foidl

Standhalten

Texte aus dem Nachlaß und Verstreute Prosa

Herausgegeben und mit einem Nachwort
von Dorothea Macheiner

HAYMON

www.haymonverlag.at

e-mail: skarabaeus@studienverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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ISBN 978-3-7099-3610-8

Covergestaltung und Satz: STUDIENVerlag, Bernhard Klammer

Das Geständnis

Ich war nie ein angenehmer Mensch.

„Du bist ein unbelehrbarer Verweigeret“, sagte mein Bruder Georg, wenn er mir seine Ratschläge nicht aufzuzwingen vermochte. Was nützt es schon, mir mit diesen Erinnerungen Mut zu machen. Wir leben in keiner Zeit, die Charakter honoriert. Es führt ins Grübeln, in die Verbitterung und endet in der Anonymität einsamen Sterbens. Meine Gedanken kreisen gefährlich um ein verpfuschtes Leben. Tagträumerisch habe ich die Gegenwart verlassen. Schließlich ist mein Bruder ermordet worden –

Das Quietschen der Türe; Dr. Zankapfel kommt. Gewohnheitsmäßig verharrt er an der Zellentür. Er mustert mich mit seinem Anwaltsblick; jahrzehntelange Routine, sein gleichgültiger Gesichtsausdruck, versucht er mit einem Blick meine Tagesverfassung in sein Besuchsprogramm einzubeziehen. Ausgekochter Fuchs. Bieler, der stutzerhafte junge Wärter, erzählte mir von seinem Ruf als Starverteidiger. Mich interessierte es nicht sonderlich; ich mag Zankapfel nicht, hab ihn mir nicht ausgesucht. Aber das Gesetz verlangt es. In Zukunft werde ich nur mehr von den Gesetzen bestimmt werden. Mich kümmert es nicht, es geht mich nichts an – ich verweigere mich.

Das langsame Aufziehen seiner Augenbrauen verleiht ihm einen Ausdruck kalkulierender Besorgtheit. Trotz seines angeblich legendären Rufes muß er erfolgshungrig sein, daß er meine Verteidigung übernommen hat. Er räuspert sich, widmet kurze Zeit dem Aufsetzen einer Denkermiene, gleichzeitig kramt er aus seinem schwarzen Dokumentenkoffer einen Stoß Papiere hervor. Ich beobachte ihn ausdruckslos von der Pritsche her. Obwohl ich wenig für ihn übrig habe, bewundere ich seine Fertigkeit, mit Pausen und sparsamen, gezielten Gebärden selbst bei banalsten Dingen den Eindruck ungeheurer Bedeutung zu erzeugen. Wenn einer nicht genau hinsieht, hält er es für die Aura der Seriosität. Dr. Zankapfel nimmt von meinem Mißtrauen bei seinen unregelmäßigen Besuchen keinerlei Notiz. Er scheint über derlei Belanglosigkeiten erhaben. Dann sein händereibendes, kaum hörbares Kichern ... Es berührt mich unangenehm, erfüllt mich mit eigenartigem Unbehagen, stört meine Gedanken; ich wüßte gern, ob er sich dieser Wirkung bewußt ist.

„Also, mein lieber Dreisser, ich habe gute Nachrichten – teilweise: –“, sagt er durch das Gespreiz seiner Finger. Ich stelle ihn mir beim Plädoyer vor. Eiskalt alle Register der Überzeugungs- und Beeindruckungskunst ziehend. Einer, dessen Bekenntnis zur Menschlichkeit bei gewonnenen oder spektakulären Prozessen nichts verloren hat –

„Was ich Ihnen also sagen wollte“, Pause, setzt er mit gedämpfter Stimme fort, „ich habe in den Kreisen, wo Sie früher verkehrten, mich etwas umgehört. Unsere Sache steht gut. Ich erkläre es Ihnen: Wir plädieren auf Unzurechnungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat. Ich habe bereits mit Professor Geißreiter gesprochen ... Sobald ich das mit dem Staatsanwalt geregelt habe, verlegen wir Sie in die Psychiatrie ... Wir holen uns dort die Gutachten für Ihre Un... zeitweise Unzurechenbarkeit. Ich hoffe, Sie verstehen, worauf ich hinaus will. Freispruch dürfen wir beim vorliegenden Tatbestand natürlich keinen ins Kalkül ziehen, das versteht sich. Wir gehen von der Annahme einer Einweisung in eine Anstalt für abnorme Rechtsbrecher aus. Sie verbringen dort vielleicht drei, vier Jahre und ich setze für Sie dann gewiß eine Amnestie durch.“

Ist er wahnsinnig? Wie glatt, selbstverständlich und routiniert er das sagt, als handle es sich um eine Verpackungsanleitung für Tomaten. Habe ich wirklich geglaubt, der hätte ein Interesse, meine Angelegenheit menschlich zu vertreten? Ich habe aus den Enttäuschungen meines Lebens nichts gelernt. Wie Dinosaurier nehmen sich heutzutage Menschen aus, die noch an ihren Standpunkten festhalten. Wir sind ein lächerliches Volk, ein Minderheitenklüngel, den niemand ernst nimmt – mein Verteidiger macht mir Angst mit seiner Unbedenklichkeit, die über meinen Kopf hinweg entscheidet, als wäre ich ein Blatt Papier.

„Sie scheinen meine Dienste nicht recht zu würdigen? Übrigens, der Untersuchungsrichter ist sehr über Sie verärgert. Er beklagte sich bei mir wegen Ihrer mangelhaften Bereitschaft bei der Klärung dieses besonderen Mordfalles.“

Es scheint mir unerträglich. Ich weiß nicht, warum ich es schlucke. Was lasse ich mir noch gefallen?

Er hat sich hier in meiner Zelle breitgemacht, beherrscht sie praktisch. Ich liege, er steht. Er sieht auf mich herab. „Mein werter, lieber, verehrter, guter oder bester Dreisser“ nennt er mich. Eine Verbeugung im Nachhinein vor dem Bankdirektor, Landtagsabgeordneten, Inhaber einer Wohnbaufirma ist es. Georg war für die nächsten Wahlen als Spitzenkandidat für den Landeshauptmann im Gespräch –

Der Verteidiger versucht mich zur Ablegung eines Geständnisses zu bewegen ... Er spricht von den mildernden Umständen. Seine Verstellungsgabe ist unvorstellbar. Er erweckt immer den Anschein, das Recht zu vertreten. Ungreifbar. Ein unwiderlegbarer Gralshüter des Rechts, scheinbar bestechend ... Ich brauche Zeit zum Überlegen –

Mein Bruder hatte dieselbe Art, Menschen zu übertölpeln –

Die Einsamkeit hier im Gefängnis ist anders wie die im letzten Frühjahr. Merkwürdig, daß mich das Fehlen der Freiheit nicht wahnsinnig macht.

„Gehen Sie“, sage ich zum Verteidiger, „ich will Sie nicht mehr sehen.“

„Sie müssen sich beruhigen, Dreisser. Ich verstehe Sie, glauben Sie mir das. Aber Sie müssen sich darüber klar sein, alles spricht dafür, daß Sie Ihren Bruder – ich kannte ihn selbst sehr gut – heimtückisch erdrosselt haben.“ Seine Art unverbindlicher Sachlichkeit bringt Aggressionen zum Kochen, daß man vor seinen Gedanken zurückschreckt, was man mit ihm machen möchte. Zankapfel bleibt von all dem unbeeindruckt. Seine Orientierungspunkte sind Termine. Sein Engagement ist Selbstbefriedigung durch die Auslegung der Gesetze. Es heißt, Männer wie Zankapfel seien für die Gerechtigkeit unentbehrlich; mir haben solche zu viel genommen, um noch an sie glauben zu können.

Endlich geht er; es ist still. Der Schatten der Gitterstäbe legt sich lange über die Zellenwand.

Er wußte genau, daß ich ihn nicht zu sehen wünschte. „Was willst du?“ fragte ich abweisend an der Tür. Mit dem Selbstvertrauen des Politikers betrat er meine Behausung. Ein kleines Wohnschlafzimmer mit eigenem Eingang in einer Nebenstraße. Seine Bewegungen hatten etwas Bestimmtes. Er musterte den Raum wie ein Mann, der ständig damit beschäftigt ist, blitzschnell Urteile zu fällen, über Dinge zu befinden. „Du wohnst ziemlich armselig da“, sagte er in der Art, als habe er bereits alles weitere geplant. Ich setzte mich wieder an den Tisch und machte mich über das bescheidene Nachtmahl her. Die Befangenheit, die mich in seiner Anwesenheit regelmäßig befiel, hinderte mich an einer entschiedenen Reaktion. Ich bot ihm keinen Sessel an. Unruhig ging er durch das Zimmer; ein nervöser Erfolgstyp ... Er sprach vor sich hin: „Ich war gerade in der Gegend, du weißt ja, wie das ist – es wäre eigentlich Zeit, daß du deinen Bruder Artur wieder einmal besuchst, dachte ich mir da.“ Er war noch nie hier. Weiß der Teufel, wer ihm meine Adresse verraten hat. „So ungefähr habe ich mir das vorgestellt. Es muß etwas für dich geschehen, ich habe diesbezüglich konkrete Vorstellungen.“

Was will er? Kann er mich nicht endlich einmal mein Leben führen lassen, wie ich es will. Nie konnte ich das. Immer mischte er sich ein. Er ist ein machthungriges Schwein. Was braucht er mir noch zu beweisen, daß er der Ältere ist. Der schon als Junge genau wußte, wie man Erfolg hat. Der es aus armseligen Verhältnissen zum Bankdirektor brachte. Eine reiche Frau heiratete er. Aus dem Kapital machte er die Firma, die den größten Teil der öffentlichen Wohnbauten errichtet. Er redet von seiner Familie, die mich nichts angeht, vom Geschäft und von der Politik. Ich schweige. Er versteht es ausgezeichnet, für alles Interesse vorzutäuschen. Seine spinnendürren Finger zeigen auf die Wand, wo meine alten Eishockeyschlittschuhe hängen. Er lacht grell. „Kannst dich nicht trennen von den Dingern. Na ja, nette Erinnerung. Lachst sicher manchmal, wenn du dich daran erinnerst, was du für Hirngespinste gehabt hast. Als Beruf Eishockeyspieler, bei einem dieser Profiklubs. Brutale Sache, weiß ich, hab’s neulich grade im Fernsehen gesehen. Also was machen wir jetzt mit dir?“

Er machte es immer so. Ohne sich um mich zu kümmern, traf er in Gedanken bereits mich allein betreffende Entscheidungen. Wenn ich ihm deshalb Vorwürfe machte, zeigte er sich beleidigt. Er bezeichnete es als Bruderliebe. Mir wurde dabei die Luft zum Atmen zu knapp.

„Was suchst du nun wirklich bei mir? Ich bin nicht neugierig auf deine angebliche Fürsorglichkeit. Geh zum Teufel, du und die ganze Bagage, mit der du verpackelt bist. Laß mich in Ruh’, du Profitgeier. Ich bin müde. Mir paßt es nicht, daß um diese Zeit ungefragt einer bei mir hereinplatzt – ob du mein Bruder bist oder nicht, das ist mir schnuppe. Ich bin müde, verstehst du?“

Sein breites Wahlkampflächeln schien mich in die Ecke zu schieben. Verständnisvoll nickte er. Hunderttausendemal erprobt, zur zweiten Natur geworden. Er überging meine Ausfälligkeiten. „Aus diesem Grund komme ich ja vorbei. Ich mußte mit dir einmal darüber sprechen. Es ist doch eine Schande, daß du als Hilfsarbeiter an einer Werkbank schuftest. Artur, du wirst mir rechtgeben, da muß sich etwas ändern. Wenn Vater das erfährt; er ist schon alt und nicht bei bester Gesundheit ... Der würde sich zu Tode kränken.“

Jetzt war’s heraus. Diese falsche Kanaille. Peinlich war es ihm. Er sorgte sich um sein makelloses Image als Politiker. So lange er nichts weiter als ein Gemeinderat und Prokurist in der Genossenschaftsbank in Malten war, konnte es ihm gleichgültig sein, was sein verrückter Bruder Artur trieb. Es berührte seine Lebensinteressen in keiner Weise. Er hatte ja maßgeblich dazu beigetragen, daß ich von dort weggehen mußte. Jetzt saß er im Landtag und in den Zeitungen wurde er des öfteren als ‚der kommende Mann‘ bezeichnet. Dynamisch, entschlossen, ideenreich. So sah er mit vorgerecktem Kinn und gewinnendem Lächeln von den Wahlkampfplakaten. Mit Postwurfsendungen wurde er mir sogar frei Haus geliefert. Auf Anschlagtafeln zu Parteiveranstaltungen stand fettgedruckt sein Name. Wenn ich abends in ein Wirtshaus oder Café ging, wurde er bei Diskussionen häufig erwähnt. Das Regionalprogramm drehte ich gar nicht mehr auf. Zu oft war er dort mit Statements vertreten, gab bundespolitische Kommentare. Bilder von Spatenstichen, Grundsteinlegungen, Betriebsbesichtigungen tauchten in regelmäßigen Abständen in den Tageszeitungen auf. Ich entkam ihm nicht. Überall verfolgte er mich. Seit meiner Kindheit konnte ich vor ihm keine Ruhe finden. Vor diesem verhaßten Vertreter der scheinheiligen Überlegenheit. Mein Schweigen brachte ihn ins Stocken. Betreten zog sich sein wohlgenährtes Gesicht schnaufend zusammen. Schnuppernd, verwirrt vom plötzlichen Verlust der Fährte; nachtragerisch, weil sein Schablonenreden, das mit dem betreffenden Mensch überhaupt nichts zu tun hatte, bei mir nicht verfing. Ich ließ meine Augen angewidert auf ihm ruhen ... Er war mittelgroß, trieb viel Sport, deshalb die gute Figur, der kurze Haarschnitt ließ den kleinen Kopf gedrungener, machtbewußter erscheinen; in seinem Ballonmantel sah er sehr smart aus; ein Rest von Jugend in seinen Bewegungen –

„Wer hat dir das wegen der Werkstätte gesagt?“

Er meinte, in seiner Position habe man natürlich seine Beziehungen und zahlreiche Freunde, die einen auf dem laufenden hielten. Er habe viel Kontakt mit Leuten aus allen möglichen Schichten, da erfahre man natürlich allerhand; schließlich sei er ja nicht nur Abgeordneter, sondern auch Mitglied der Landesregierung, aber das wisse ich ohnehin. Ich wußte nichts –

Mit keinem Wort erwähnte er die Angelegenheit mit dem Theaterstück. Ich war damals entsetzlich beisammen. Aus Einsamkeit und Verzweiflung schrieb ich es. Um all den in mir dahinfaulenden Vergangenheitsmüll aus mir hinauszuschlacken. Irgendwie erwähnte ich es einmal im Gespräch. An dem Tisch saß gerade der mir unbekannte Intendant des Landestheaters. „Wir sind immer an guten, aktuellen Stoffen interessiert“, sagte der. „Wissen Sie, sozialkritisch hat man in letzter Zeit ja sehr abgenutzt. Aber das erscheint mir ein anderes Thema.“ – Ich hörte zu, nickte, blieb skeptisch. „Sie haben Zukunft“, sagte der Intendant, nachdem er den Text gelesen hatte. Ohne selbst etwas dazu zu tun, kam es zur Aufführung ... Korrektur: Es sollte dazu kommen!

Es war ein Stück in kleiner Besetzung. Die Situation bei uns zu Hause, als Mutter davonlief und Vater kurz vor der Bestellung zum Leiter des Paßamtes stand; Georg Aussichten auf die Prokura zu haben glaubte. Ich wußte nicht, ob das Stück gut oder schlecht war; es zu schreiben war eine Notwendigkeit gewesen –

Die Plakate waren gedruckt, die Proben gingen zu Ende, Schauspieler, die mir bis dort unbekannt waren, fieberten der Premiere entgegen, die Kulturredakteure bauschten in den Zeitungen alles auf. Ohne mein Wollen war ich Nachwuchsdramatiker geworden. Dann kam die einstweilige Verfügung –

Mein Bruder wollte in den Landtag –

Das Stück wurde nie gespielt, aber jeder kannte es –

Mich hatte es aus der Bahn geschleudert –

Ich schrieb nie mehr etwas. Danach trat ich in diese Werkstätte ein: aus Resignation. Ein Betrieb für Behinderte. Deshalb war er gekommen. Er wollte mich von dort wegholen. Niemand sollte ihm seinen mißratenen, an allem gescheiterten Bruder vorhalten. Er fürchtete um seine weitere Karriere. Er würde damit gewiß nicht Landeshauptmann werden. Plötzlich gewann meine Existenz für ihn wieder Bedeutung. Zuneigung nannte er diese Form von Überwachung. Diese Umbenennung von Dingen war überhaupt seit jeher seine große Stärke. Wenn er jemanden bedrängte, seinen Lebensspielraum einengte oder sich anschickte ihm zu drohen, konnte er mit dem liebenswürdigsten Lächeln sagen: „Wir können allerhand für Sie machen. Schließlich kennen wir uns ja schon endlos lang ... Was ich so nebenbei bemerken wollte, Sie müssen natürlich...“ So ging das weiter. Während er einem auffordernd zuzwinkerte, riß er ihm ungerührt das Herz heraus.

Im Nachruf hieß es: Mit Georg Dreisser – damals fahndete die Polizei noch nach dem Mörder – verliert das Land einen Mann von tiefster Menschlichkeit; er war ein hervorragender Repräsentant der Armen und Schwachen. Stets hatte er ein offenes Ohr für die Nöte und Sorgen der einfachen Leute. Mit ihm verliert das Land eine seiner ausgezeichnetsten Persönlichkeiten –

„Du kündigst und kommst zu mir; ich brauche ohnehin jemanden, dem ich vertrauen kann, um mich zu entlasten. Du wirst in der Wohnbaufirma den Kontakt mit den Architekten und Baumeistern besorgen. Ich lasse dich da einschulen. Meine Sekretärin wird dir dann einige Adressen geben. Du kannst dir die Wohnungen anschauen. Aus diesem Loch hier mußt du weg. Du verkommst ja ganz. Wenn du erst wieder Freude an der Arbeit und eine richtige Wohnung hast, mache ich aus dir einen ganz anderen Menschen. Solltest du dich bewähren, dann könnte ich dich natürlich auch mit interessanten Leuten bekannt machen. Du siehst, Vorteile über Vorteile. Du mußt nur zugreifen; wer hat schon die Gelegenheit.“

Er war sehr angetan von seiner Rede. Es störte ihn nicht im mindesten, daß ich ihn mit aller Verachtung, derer ich fähig war, mit meinen Blicken erstach. Die Gedankenwohnbauten seiner Wirklichkeits-fixiertheit verliehen ihm diese Unbekümmertheit, an der er sich begeisterte. Ich dachte, ihm würde nicht einmal Impotenz etwas anhaben können, so lange er sich an seiner Tüchtigkeit derart zu begeilen vermochte. Er hatte Geld, ein Haus, eine Stadtwohnung, ein Motorboot, zwei Autos (den Dienstwagen nicht mitgerechnet), Kinder, eine Frau, mehrere Aufsichtsratsposten, eine expandierende Firma und einen Namen, nicht zu vergessen seine Zukunft... Mir erschien er wie eine Schubraupe –

Ich brauche lange, bis ich in Fahrt komme. Das Lachen wie der Zorn liegt nicht in meiner Reichweite. Die Provokation trifft mich nicht gleich, dann aber voll. Ich hatte mein einfaches Abendessen verzehrt, ging ganz dicht an ihn heran: – Komme!

Ich bin athletischer gebaut, als er es war, und drückte ihn mit einem Ruck auf den billigen Sessel. Er war verwirrt. „Wir werden reden“, sagte ich. Ich ruderte wie ein Ertrinkender durch meine Hirnkanäle, flatterte erregt durch meine Gedächtnislücken, und haschte wuterfüllt nach Worten, um mein Empfinden ausdrücken zu können. Alles zu sagen. Nicht wie meist. Wenn er fort war, fiel mir erst ein, was ich ihm sagen wollte. Dann wünschte ich ihn mir oftmals zurück, um ihn endlich kleinzumachen. Er war schlagfertiger. Was gab es zu sagen? – Abhängigkeit!

Es tat mir gut, ihn so von oben zu sehen. Angst in seinen Augen, so lange mein Ausdruck drohend blieb. Sein Blick wurde sofort stumpf, nach Vergeltung brütend, als ich mich von ihm entfernte. Wenn ich allein war, fielen mir all die Reden ein, die ich ihm halten wollte. In seiner Anwesenheit machte ich immer den Eindruck eines Unbeholfenen. Vielleicht bildete ich es mir nur ein. Er hatte auf meine Erziehung größeren Einfluß als die Eltern. Zuhause hielt mich Vater dauernd an, mir an ihm ein Beispiel zu nehmen, ihm nachzueifern. Er genoß das Gefühl wiedergewonnener Macht –

Als wäre ich ein Primitiver, sah er auf die tiefe Narbe, die sich quer über meine Stirn zieht. Eine schräg aufspringende violette Furche ... Mir ist bei einem Spiel einer mit dem Schlittschuh mit voller Wucht ins Gesicht gefahren.

Ich fühlte mich trotz allem als Unterlegener. Was ich auch zu ihm sagte, er wußte darauf eine Antwort. Ich wurde mit jedem Wort ausfälliger; ein genüßliches Mundwölben zeigte seine Zufriedenheit. Ich wollte ihn hinauswerfen und dabehalten, um ihn fertigzumachen –

Welch unsinniges Wort, sobald ich es verwende. Ich kann es nicht und weiß das sehr gut. Ich möchte es manchmal fertig bringen, aber ich wäre ein Dilettant in Skrupellosigkeit und Kälte. Mein Bruder unterstellte mir zwar häufig Brutalität –

Ich war beim Eishockey Verteidiger. Habe mich immer verteidigt –

Ich kämpfte von Kindheit an gegen den Seelenmörder Kain, der es so ausgezeichnet verstand, sich als Abel zu verstellen: Das wäre es gewesen, was sie von mir hören wollen. Sie brauchen ein Motiv. Der Staatsanwalt läßt den Untersuchungsrichter die Rackerei machen. Er läßt es auf keinen Indizienprozeß ankommen. Dr. Zankapfel würde sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, den Prozeß als Farce darzustellen. Vertrauen, das fordern beide von mir. Wie soll ich ihnen vertrauen, wo sie gegenteilige Interessen vertreten – oder täusche ich mich? Ich streckte mich auf der Pritsche aus, verfiel in Halbschlaf; der Bruder war bei mir zu Besuch.

„Warum hast du Angst vor mir?“ sagte er. „Du bildest dir ein, ich wollte eine Möglichkeit haben, auf dich Druck auszuüben. Du unterstellst mir ein Interesse, dich in ein Abhängigkeitsverhältnis zu ziehen. Was sollte ich für ein Interesse an derartigen Machenschaften haben. Artur, du mußt endlich Schluß mit deinen verrückten Gedanken machen. Du fühlst dich dauernd verfolgt. Du bist überempfindlich. Ich habe dir oft genug gesagt, das ist Luxus. Ich will dir helfen, das ist alles.“

Er sagte es mit solcher Selbstverständlichkeit, daß ich mein Mißtrauen bestätigt sah. Er wollte mich kaufen. Sobald ich meine jetzige Drecksarbeit aufgab und in seine Firma eintrat, ginge ein uralter Traum von ihm in Erfüllung. Dann hätte er mich unter Kontrolle. Er würde mich zu Kompromissen zwingen. Ich würde mitschuldig an seinen dunklen Wohnbaumachenschaften, die in viel zu auffälliger Weise korrekt und in jeder Weise legal wirkten. Vor allem müßte ich gänzlich verstummen. Sollte ich dann meine Meinung äußern, so würde er mir Konsequenzen androhen; bei Unbelehrbarkeit meinerseits würde er sie ziehen. Er konnte nichts gebrauchen, das seine Ziele gefährdete. Er fürchtete mich in meiner Unberechenbarkeit und Verrücktheit. Erstmals wurde mir das klar.

„Ich will nicht dein Angestellter sein. Ich will frei sein.“ Er sagte, das kenne er von mir. Ich hätte immer so geredet. Jedes zweite Wort, das ich in den Mund nähme, sei Freiheit. Ich brauchte einen Menschen, der sich um mich kümmerte. Dieses sich Alleinüberlassensein sei Gift. Die meisten gingen daran zu Grunde. Er sei der Mensch, der sich um mich sorge, meinte er. Ich sprach kaum, sah ihn die meiste Zeit nur aus unbewegten, abweisenden Augen an. Er hielt es für Zustimmung. „Wir sind uns also einig. Komm bei mir im Büro vorbei. Wenn ich nicht da bin, frage nach Fräulein Keringer. Es freut mich, daß ich dir einen Gefallen tun konnte. Es war gut, daß wir so vernünftig miteinander reden konnten!“

In mir glühte es, sobald er weg war. Alle Wut tobte in mir. Ich hatte ihn wieder einmal mit dem Gefühl ziehen lassen, mich seinen Vorschlägen gebeugt zu haben. Nichts hatte ich von meiner Empörung erwähnt, die mich bereits während unserer ganzen Unterredung zu sprengen drohte. Ich förderte sein Bewußtsein noch, mein Wohltäter zu sein. Wir kannten beide die Absichten. Was nützte es, wenn ich das nicht zu erkennen gab. Früher war ich anders, sagte ich mir. Wenn ich an unsere Auseinandersetzungen denke. Da habe ich ihm nichts geschenkt. Aber wenn ich nachdachte, kam ich darauf, daß es früher nicht anders gewesen war. Eigentlich haßte ich ihn der Dinge wegen, derer ich nicht fähig war. Ich haßte ihn wegen meinem Mangel an Durchsetzungsvermögen ... Egoistisch waren wir beide auf verschiedene Art... Außerdem war er erfolgreich. Er konnte mir weh tun: als Verkörperung einer Lebenseinstellung, daß man mit Anständigkeit und Zurückhaltung nichts erreicht. Es stimmte nur bedingt. Was er mir voraus hatte, waren Ziele. Ich war überzeugt davon, daß er mir die Fähigkeit, Ziele zu haben, zerstört hatte. Ich betrachtete ihn als Totengräber an meinem verlorenen Lebenssinn. Er hatte meine Anlage zum Resignieren unterstützt. Er hinterließ mich deprimiert.

Bieler, der junge Wärter, sagte: „Sie sollen zum Untersuchungsrichter kommen!“

Ich war vom Halbschlaf benommen –

„Setzen Sie sich“, sagte er beiläufig. Sein Schreibtisch war mit Akten vollgestapelt. Ich versuchte verkehrt mitzulesen. Bemüht um ein gleichgültiges Gesicht. Er beachtete mich lange nicht. Das Theater mit den Handschellen scheint er aufgegeben zu haben. Die ersten Tage ließ er mir jedesmal, wenn ich zum Verhör geholt wurde, von Bieler die Handschellen anlegen, vor seinen Augen abnehmen; auf dem Weg in die Zelle wiederholte sich alles wieder. Es trug maßgeblich zu meinem Verweigerungsverhalten bei. Ich hasse Machtdemonstrationen. Ich hasse Macht prinzipiell. Der Mensch geht dabei unter. Im Machtstreben gilt nur noch Sieger und Besiegter. Hinter dem Stärkeren sammelt sich die Masse. Der Sieger ist im Recht. Er bleibt es, bis die Masse von ihm abfällt; nur ist sich diese ihrer Stärke nicht bewußt. Was sollte sie auch führerlos beginnen?

Er machte einen konzentrierten Eindruck. Ich konnte mich nicht entschließen: Spannt er mich auf die Folter oder geht ihm etwas Wichtiges im Kopf um. Ist es eine Verhörmasche? Gehört es zur Taktik? Ich bin ein unbeschriebenes Blatt in Justizangelegenheiten. Ich kann mich nur auf meinen natürlichen Instinkt verlassen. Ich fürchte oft, er ist abgestumpft. Der Untersuchungsrichter – er hieß Kurz – machte als Person einen angenehmen Eindruck auf mich. Ich hätte hinter seinem Aussehen nie einen Juristen vermutet. Aber warum sollten die sich auch von anderen Menschen unterscheiden? Die Aufgabe, die sie zu erledigen haben, empfinden wir als unsympathisch. Unsere Abneigung trifft sie wie den Polizisten, sobald wir ihren Beruf kennen. Beamte mochte ich an sich nicht. Ich dachte dabei nicht an Vater.

„Wie fühlen Sie sich heute? Sie machen einen matten Eindruck. Was wollten Sie gleich sagen?“ Es waren Sätze, die nichts zu bedeuten hatten. Variationen von Verhöreröffnungen. Belanglos, unverfänglich.

„Ich habe mich in den vergangenen Tagen eingehender mit Ihrer Person befaßt. Ich glaube, Sie jetzt besser zu verstehen. Ihr Motiv vor allem. Was haben Sie an diesem besagten Tag – Sie wissen, welchen ich meine – mit Ihrem Bruder gesprochen? Es ging um Geld, wie mir jetzt Beweise vorliegen.“

Er wartete kurz die Wirkung seiner Worte ab. Hellblaue Augen hefteten sich auf mein Gesicht. Er stützte seinen Kopf in die Hand, bereit zum Zuhören. Keine Aufforderung zum Reden, eher eine Einladung. Er wich mit seinem Blick nicht von meinem Gesicht; seine freie Hand verfehlte das Zigarettenpäckchen. Er rauchte Parisienne. Gelegentlich bot er mir eine an. Ich lehnte immer ab; Parisienne sind mir zu stark. Früher hatte er immer an mir vorbeigesehen oder sein Blick kreiste über den Protokollzeilen. Ich muß dieses Augenduell gewinnen, dachte ich. Um jeden Preis. Ich lasse mich zu keinem Geständnis zwingen. Er fuhr sich durch das volle, lockige Haar. Seine Finger schienen es zurechtzurücken. Aber er hatte festes, steifes Haar; ich wußte, daß er nervös geworden war.

„Halten Sie mich für abnormal?“ fragte ich. Er schien erleichtert. Er nahm wohl an, ich würde wieder nur stumm dasitzen und ihn unverwandt ansehen. Die Frage belebte ihn. Er wollte wissen, wie ich auf so etwas komme. Ich erzählte ihm von Dr. Zankapfels Plan. Er wußte nichts davon.

„Waren Sie zum Tatzeitpunkt zurechnungsfähig oder nicht? Das ist eine Frage, die geklärt werden muß. Sie könnten es sich leichter machen. Sie würden mich sonst bedauerlicherweise zwingen, unangenehme Wege der Wahrheitsfindung einzuschlagen. Sie verstehen? Unsere Unterredungen würden den persönlichen Ton verlieren.“