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Lisa Lercher

Mörderisch gute ­Gelegenheiten

Kriminalroman

Heimkehr

Die Vergangenheit holt einen immer ein – egal, wie sehr man sich dagegen sträubt. Irgendwann kommt der Moment, in dem es nur noch eine Richtung gibt. Plötzlich ist man bereit, sich zu fügen, ist erleichtert, weil man endlich eine Entscheidung getroffen hat – die einzig Richtige.

Nach beinahe einem Jahrzehnt habe ich meine Zelte hier abgebrochen. An ein Leben in der Stadt hätte ich mich nie gewöhnt. Dass meine große Liebe ein Irrtum gewesen ist und ich meinen Job verloren habe, hat meinen Blick für das Wesentliche geschärft. Das Kind unter meinem Herzen wird seinen Platz kennen und in unserer Tradition aufwachsen. Endlich komme auch ich zur Ruhe.

Meine Mami erwartet mich an der Türschwelle. Stille Freude spiegelt sich in ihrer Miene, als ich sie umarme. Sie erscheint mir kleiner, schmaler, als ich sie in Erinnerung habe. Ihr Rücken ist gebeugt, die vielen Runzeln in ihrem lieben Gesicht sind Zeugnis eines entbehrungsreichen Lebens.

Ich gehe durchs Haus, schaue mich um – wenig hat sich verändert. Ich atme den vertrauten Duft der schweren Möbel ein, fahre mit dem Finger über die Kerben in der Tischplatte und spüre lang vermisste Geborgenheit.

Später steige ich die steile Stiege zum Dachboden hinauf. Das Bett in meinem alten Zimmer ist bezogen. Das kleine Fenster steht offen. Der Tannenkogel bewacht wie immer unsere Idylle.

Mami hat mit den Vorbereitungen begonnen. Für mich gibt es vorerst wenig zu tun. Ich gehe viel spazieren, atme die würzige Almluft und erzähle meinem ungeborenen Kind Geschichten aus unbeschwerten Tagen.

An einem feuchtnebeligen Herbsttag ist es dann soweit. Ich setze mich an den Küchentisch und schaue Mami beim Zerreiben der Kräuter im Mörser zu. „Weißt du es noch?“, fragt sie leise. Ich nicke. Erst stockend, dann zunehmend flüssig zähle ich alles auf. Ab und zu ergänzt sie ein Detail. Aber insgesamt ist sie zufrieden und stolz auf mich. Das sehe ich ihr deutlich an.

Mami ist zusehends schwächer geworden. An manchen Tagen braucht sie meine Hilfe bei den Ritualen. Abends sitze ich oft lange an ihrem Bett und halte ihre Hand. Als dieses Strahlen von ihr ausgeht weiß ich, dass sie ihr Ziel bald erreicht hat. Meine Trauer schiebe ich zur Seite, sie hat neben ihrer gelösten Zufriedenheit keinen Platz.

Mami stirbt in einer stürmischen Novembernacht. Der Wind rüttelt an den Dachschindeln. Graupelschauer peitschen mir ins Gesicht, als ich nach draußen gehe und meinen Schmerz mit den Elementen wüten lasse.

Ich werfe einen letzten liebevollen Blick auf meine Mami, ehe ich ihren ausgezehrten Körper in eine Mischung aus Salz und Nitrit bette. Dazwischen lege ich wohlriechende Kräuter und Gewürze, so wie sie es mir beigebracht hat. Den Deckel der Truhe schmücke ich mit Kiefernzapfen und Reisig. Unsere magische Wurzel wacht über Mamis Verwandlung.

Den Ofen heize ich rechtzeitig ein. Die Räucherkammer ist neben der Scheune. Die dicken Buchenscheiter glosen. Mamis gepökelter Leib schaukelt im Luftzug, als ich die Tür von außen verriegle. Ausgedörrt hatte ihr Körper ausgesehen und leicht rötlich vom Pökelprozess. Durch das Selchen würde sie nun schwarz werden – so wie meine Geschwister, die in ihren hölzernen Truhen auf das Fest warten.

Der Tisch ist gedeckt, meine kleinen Brüder liegen in ihren Weidenkörbchen. Mami platziere ich ans Tischende, dort wo sie auch zu Lebzeiten immer gesessen ist. Ihr zur Seite thront meine Großmutter. Meine beiden Onkel lasse ich in ihren Behältern. Der Zahn der Zeit hat ihnen schon ziemlich zugesetzt. Mein jüngster Bruder schwimmt in Spiritus. Als Frühgeburt ist er für die Verwandlung in eine Mumie noch zu klein gewesen.

Dass Mamis Transformation mit der Karwoche abgeschlossen ist, nehme ich als Zeichen – denn Ostern gilt auch bei den Christen als Fest der Auferstehung.

Das Kind unter meinem Herzen hüpft vor Freude, als ich die alten Gesänge anstimme. Ich erhoffe mir eine Tochter, damit sie die Familientradition fortführt. Doch auch ein Sohn ist mir willkommen. Meine kleinen Brüder würden sich über einen neuen Spielgefährten bestimmt freuen.

Siegergeschichte des Evolver-Literaturwettbewerbs 2012 erstmals gedruckt veröffentlicht in: Harte Bandagen. Die Mumien-Anthologie. p.machinery Michael Haitel, Murnau 2015.

Mörderisch gute Gelegenheit

Karl Riedmüller hatte seine Frau über die Weihnachtsfeiertage nach Lübeck eingeladen. Schon lange hatte sich Else ein Wiedersehen mit ihrer langjährigen Freundin Wiebke gewünscht, die vor Jahren hierher gezogen war. Karl hätte zwar lieber einen Schiurlaub in einem Tiroler Nobelhotel verbracht, aber er sah ein, dass es notwendig war, dieses Opfer zu bringen. Wie Else hinter seine Affäre mit der Chefsekretärin eines Geschäftspartners gekommen war, war ihm immer noch ein Rätsel. Elses Drohung, sich nun endgültig von ihm zu trennen, hatte ihn jedoch aufgeschreckt. Das Geld, das ihm Nora, seine erste Frau, hinterlassen hatte, ging allmählich zur Neige und an Elses Vermögen kam er nur, wenn sie vor ihm das Zeitliche segnete. Auch wenn Else ständig über irgendwelche Beschwerden klagte und zu deren Linderung diverse Esoterik-Seminare besuchte, war Karl überzeugt, dass ihre Leiden mehrheitlich eingebildet waren. Dass sie vor ihm sterben würde, erschien ihm deshalb unwahrscheinlich, eine Scheidung kam für ihn sowieso nicht infrage. Wie sollte er ohne ihre Unterstützung seinen aufwändigen Lebensstil, die wechselnden Geliebten und den Lamborghini finanzieren? Die Einladung in die Hansestadt sollte Ausdruck seiner Reue sein und es beruhigte ihn, dass Else sie angenommen hatte. Eine allerletzte Chance werde er bekommen, hatte sie gesagt und er glaubte ihr, als sie hinzufügte, diesmal sei es ihr bitter ernst.

Wiebke empfing das Ehepaar in ihrer Wohnung im Herzen der Stadt. Karl war angenehm überrascht. Er kannte Wiebke nur von alten Fotos, die ihm seine Frau gezeigt hatte. Die gepflegte Rothaarige musste Ende Vierzig sein, sah jedoch deutlich jünger aus. Der Erfolg als Bestsellerautorin von Regionalkrimis, deren Handlung überwiegend in Hamburg angesiedelt war, tat ihr offenbar gut. Die geschmackvoll eingerichtete Wohnung deutete darauf hin, dass Wiebke sich auch finanziell keine Sorgen machen musste. Dass sie nach mehreren Anläufen inzwischen die Suche nach einem passenden Partner aufgegeben hatte, wusste Karl von seiner Frau.

Nachdem sich das Ehepaar frisch gemacht hatte, freute Karl sich auf einen kräftigen Mokka. Wiebke überraschte das Paar mit Ostfriesentee. Karl zog die Nase kraus, als Wiebke ihn belehrte, er dürfe die Kluntjes nicht aufrühren und der Schuss Sahne gehöre einfach dazu. Er verkniff sich einen bösen Kommentar über bitteren Tee, der mit jedem Schluck klebriger wurde und dennoch als Kulturgut galt. Else hingegen schien das Gebräu zu mögen und knabberte an einem Butterkeks. Er tätschelte ihre Hand, achtete darauf, dass auch Wiebke die Zuneigungsbekundung wahrnahm. Sie sollte sehen, dass er einen bemühten Ehemann abgab.

Karl erkundigte sich nach Wiebkes Romanen, erfuhr, dass sie immer schon phantasiebegabt gewesen war. Er lieh sich eines der Bücher und zog sich unter dem Vorwand, dass die Freundinnen einander bestimmt viel zu erzählen hätten, ins Gästezimmer zurück. Dort legte er das Buch aufs Bett. Er würde es später lesen. Vielleicht bot es ja Inspiration? Er brauchte dringend einen Plan. Er stellte sich ans Fenster und starrte in den düsteren Innenhof. Das Kopfsteinpflaster glänzte feucht. Hatte es geregnet? Sein Leben als Witwer würde in jedem Fall sonnig sein. Er war immer noch gut in Form. Sein Haar war voll, die angegrauten Schläfen verliehen ihm Seriosität. Er war sozusagen ein Mann in den besten Jahren. Vielleicht würde Wiebke ihm über den tragischen Verlust hinweghelfen? Zumindest für eine begrenzte Zeit. Ein Urlaub an der sommerlichen Ostsee wäre ganz nach seinem Geschmack. Er zog seinen Ehering vom Finger, steckte ihn in die Hosentasche und betrachtete seine Hand. Karl zuckte zusammen, als Else plötzlich im Zimmer stand. Sie hole nur ihre Allergietabletten, ließ sie ihn wissen. Wiebkes Kater sei zwar schon seit Anfang der Woche bei Freunden untergebracht, auch habe man die Wohnung gründlich geputzt, trotzdem tränten ihr die Augen und sie habe ein kratziges Gefühl im Hals. Karl sah ihr zu, als sie im Waschbeutel nach dem Medikament kramte.

Für den nächsten Tag war ein Stadtspaziergang vereinbart. Wiebke wollte ihren Gästen einige Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Sie begannen beim Wahrzeichen Lübecks, dem Holstentor, das in sumpfiges Gebiet gebaut worden war. So wie in Pisa hatten sich einst auch diese Türme geneigt, doch der Mangel war längst behoben und der mächtige rote Ziegelbau beeindruckte Else sehr. Sie überquerten die Trave auf der Holstenbrücke, um die Salzspeicher aus vergangenen Jahrhunderten zu besichtigen. Karl fror, auch war er nicht recht bei der Sache. Er sah Wiebke reden, erfasste jedoch den Sinn ihrer Worte nicht. Else ging ihm auf die Nerven. Ständig stellte sie Fragen, zupfte ihn am Ärmel, um ihn auf dieses oder jenes Detail hinzuweisen und riss ihn dabei jedes Mal aus seinen Gedanken. Er gab sich Mühe, seine Mimik zu beherrschen, während er sich vorstellte, seine Frau mit einem Kissen zu ersticken, sobald sie schlief. Er könnte ihr auch ein Messer ins Herz rammen oder sie betäuben und ihr die Pulsadern aufschneiden. Keiner seiner Einfälle erschien im letztlich brauchbar. Wichtig war, dass er selbst unverdächtig blieb. Soviel hatte er aus der Vergangenheit gelernt. Bei Nora hatte alles anstandslos geklappt. Die kleine Manipulation am Motorblock war den Kriminalisten entgangen, der Fall längst zu den Akten gelegt.

Mit Else hatte er alt werden wollen. Er hatte sie wirklich geliebt. Wenn sie nur nicht so kleinlich gegenüber seinen Eskapaden wäre, oder zumindest Auto führe. Das würde die Sache bedeutend einfacher machen. Auch wenn die heutigen Fahrzeuge technisch viel komplizierter waren. Karl war schließlich vom Fach.

Man war vor der Marienkirche angelangt, einer gotischen Backsteinkirche, Vorbild für andere Gotteshäuser in den Ostseestädten. Im Kirchhof lockte ein Weihnachtsmarkt der besonderen Art. Etwas Vergleichbares hatte Wien nicht zu bieten. Sogar Karl vergaß für einige Minuten auf seine Sorgen und sah dem bunten Treiben der Silberschmiede und Zinngießer in ihren historischen Gewändern zu. Er betrachtete ihre Werkzeuge. Es musste nach Selbstmord aussehen. Aber war das glaubwürdig? Else bleckte die Zähne. Lachte sie ihn aus?

Karl sehnte sich nach einer Zigarette und einer Melange. Ein großer Espresso würde es auch tun. Von einer Brücke könnte sie fallen. Bei tiefen Temperaturen starb man an Atemlähmung. Wie lange müsste sie dazu im Wasser treiben?

Endlich war auch Wiebke kalt geworden. Sie schlug einen Besuch im Schabbelhaus vor, einer Gaststätte, die mit Mobiliar aus Museumsbeständen eingerichtet war. Karl fühlte sich wie in einem Salon des Schlosses Schönbrunn und löffelte zufrieden seine Kartoffelsuppe.

Man war übereingekommen, den Heiligen Abend gemütlich in Wiebkes Wohnung zu verbringen. Karl hatte sich erboten, den kleinen Weihnachtsbaum zu schmücken. Die Frauen bereiteten in der Küche das Abendessen vor. Nachdem Karl sämtliche Kugeln, Sterne und Kerzen auf der kleinen Tanne verteilt hatte, setze er sich mit einer Zeitung auf die weiße Designercouch am Fenster. Er hatte sich gerade in die Lektüre eines Artikels über die Eskalation von Gewaltdelikten im Advent vertieft, als Wiebke das Wohnzimmer betrat. Ob er so freundlich sein könne, den Wein zu holen?, fragte sie. Allein der Gedanke, nach Einbruch der Dunkelheit in den Keller hinunter zu müssen, erfülle sie nämlich mit einem gewissen Unbehagen. Er ließ sich nicht lange bitten und zeigte Verständnis. Das liege wohl an ihrem Beruf, sagte er und fügte scherzend hinzu, dass sie ihre Leichen dort hoffentlich gut versteckt habe.

Karl nahm den Aufzug, der Keller war versperrt. Er schloss die schwere Metalltür auf, modriger Geruch schlug ihm entgegen. Vorsichtig tastete er sich die steinernen Stufen hinab. Das Licht war schwach. Eine Taschenlampe wäre hilfreich gewesen. Der alte Erdkeller wurde offenbar nicht von allen Bewohnern des Hauses genutzt. Zwei Abteile standen leer, bei einem dritten fehlte die Tür. Es war mit Sperrmüll voll geräumt und Karl erschrak heftig, als eine fette Ratte den Gang hinunter huschte. Kein Wunder, dass Wiebke nicht gerne hierher kam. Ob Else sich hier wohl fühlen würde? Er könnte sie mit Blumenerde bedecken, einen richtigen Grabhügel aufschichten. Auf diese Weise würde auch der Verwesungsgestank hintan gehalten. Die leeren Kellerabteile boten sich gerade zu an. Doch dazu musste sie erst einmal tot sein und irgendwie in den Keller verbracht werden. Dass Wiebke einverstanden wäre, wenn er hierfür ihren handgeknüpften Kelim benützte, bezweifelte Karl. Vermutlich hätte sie auch Einwände gegen seine mörderischen Absichten. Er zerrte am Vorhängeschloss, mit dem Wiebkes Kellerabteil gesichert war. Das Weinregal stand an der Wand. Es dauerte eine Weile, bis er die verlangte Weinsorte gefunden hatte. Sein Blick fiel auf den Holztisch neben dem Regal. Er erstarrte mitten in der Bewegung. Das war Fügung, ein Zeichen, ein Geschenk des Himmels, ein Wink des Schicksals, je nachdem, wie man es nennen wollte. Er strich über die Decke, mit der der Korb ausgelegt war. Er betrachtete die feinen weißen Katzenhaare auf seinen Fingerkuppen. Dann nahm er die Bürste aus dem Korb und begutachtete sie im Schein des gelblichen Kellerlichts.

Schon seit Kindertagen war Karl nicht mehr so nervös an Heilig Abend gewesen wie in diesem Jahr. Er hätte sich gerne betrunken, um die innere Unruhe endlich los zu werden. Aber er durfte die Kontrolle nicht verlieren. Noch lag es in seiner Macht, das drohende Unheil abzuwenden. Doch durfte ein Mann in seiner Lage eine solche Chance vertun? Er stocherte im Heringssalat, ein gebackener Karpfen wäre ihm lieber gewesen. Aber im Grunde hatte er gar keinen Appetit. Der würde vermutlich erst kommen, wenn alles vorüber war. Wenn es doch schon soweit wäre! Er füllte den Damen Rheinriesling nach. Wenigstens sie sollten angeheitert sein. Das würde die Sache erleichtern. Er erhob sein Glas und prostete den Frauen zu. Friedvolle Weihnachten, wünschte ihm Else und sah ihm dabei bedeutungsvoll in die Augen.

Nachdem die Geschenke ausgepackt waren – das Ehepaar hatte für Wiebke Augartenporzellan von der Manufaktur im heimatlichen Wien mitgebracht – saßen sie noch eine Weile beieinander. Else nippte an einem Cognac, der Heringssalat war ungewohnte Kost gewesen. Karl gähnte mehrmals demonstrativ, bis Else schließlich anmerkte, dass dieser Tag auch für sie anstrengend gewesen sei. Wahrscheinlich trage der Klimawechsel zu ihrer Müdigkeit bei und wenn es Wiebke nichts ausmache, würden Karl und sie alsbald schlafen gehen.

Karl ließ Else den Vortritt. Es dauerte eine Weile, bis sie ihre abendliche Routine im Badezimmer beendet hatte. Sie trug ein weißes Negligee, das beim Halsausschnitt und am Saum mit Spitze eingefasst war. Ihr Gesicht glänzte von der Fettcreme, die sie abends für gewöhnlich auftrug. Die dunklen Haare umrahmten ihr schmales Gesicht. Else schlug die Bettdecke zurück und kuschelte sich in das Kissen.

Karl schloss die Badezimmertür hinter sich. Er drehte den Schlüssel im Schloss um und setzte sich auf den Rand der Wanne. Wie lange würde es dauern? Er drehte den Wasserhahn auf, gerne hätte er jetzt laute Rockmusik gehört. Das Warten erschien ihm endlos. Schließlich hörte er Schritte, Stimmen, dann wurde heftig an die Badezimmertür geklopft. Er tat, als würde er nichts hören. Jemand rüttelte an der Klinke, hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür, rief seinen Namen. Es war Wiebkes helle Stimme. Einen Moment, rief er und gab sich Mühe, dem heftigen Drängen, das er durch die Tür hindurch spürte, nicht sofort nachzugeben. Betont langsam zupfte er seinen Hemdkragen zu Recht, dann schloss er endlich auf. Wiebke war vollkommen aufgelöst. Sie schrie ihn hysterisch an. Else lag nackt auf dem Bett. Auf ihrem Oberkörper zeigten sich rote Flecken, ihr Gesicht war angeschwollen, sie rang nach Luft. Wo diese verdammten Tabletten seien? Er tat erschrocken, griff sich an die Stirn, als würde er angestrengt nachdenken und lief schließlich zurück ins Badezimmer, um den Kulturbeutel seiner Frau zu holen. Natürlich waren Elses Allergietabletten nicht darin zu finden. Dafür hatte er gesorgt. Wiebke warf einen besorgten Blick auf die Freundin. Sie drängte Karl, ihr zu helfen, Else in die Badewanne zu legen. Es war gar nicht so einfach, die nahezu bewusstlose Frau dorthin zu verfrachten. Karl schnaufte, derartige körperliche Anstrengung war er nicht gewohnt. Er dachte an den Kelim, in dem er die Leiche seiner Frau hatte transportieren wollen und musste wider Willen grinsen. Das hätte sicher nicht funktioniert.

Wiebke wies Karl an, Else mit warmem Wasser abzuduschen, damit die Katzenhaare, die den allergischen Schock ausgelöst hatten, von ihrem Körper gespült würden. Dann lief sie eilig aus dem Badezimmer, ohne eine weitere Erklärung abzugeben. Karl betrachtete seine Frau, die so friedlich im Wasser lag. Sie war über die Jahre voller geworden, hatte aber immer noch eine gute Figur. Die roten Flecken hatten sich nun bis zu den Oberschenkeln ausgebreitet. Else schien kaum mehr zu atmen. Er hielt den Wasserstrahl an ihre Unterschenkel und Füße. Sollten die Katzenhaare ruhig noch eine Zeit lang ihre Wirkung tun. Er könnte ihr auch mit dem Steakmesser einen Luftröhrenschnitt verpassen, überlegte er. War nicht unterlassene Hilfeleistung ein schwerwiegenderes Delikt als ein missglückter Rettungsversuch?

Wiebke unterbrach seine Überlegungen. Sie war in Begleitung gekommen. Mein Nachbar, sagte sie und dass dieser Arzt sei, fügte sie hinzu. Der Mann untersuchte Else und zog eine Spritze auf. Es werde ihr gleich besser gehen, versprach er. Karl seufzte und sah sich nach dem Negligee um. Er konnte es nirgends entdecken. Der Arzt bat ihn, mit anzufassen. Else musste zu Bett gebracht werden. Sie brauchte nun dringend Ruhe.

Im Gegensatz zu Else hatte Karl die halbe Nacht wach gelegen und über den Vorfall nachgegrübelt. Wäre Wiebke seiner Frau nicht zu Hilfe geeilt, hätte die Geschichte vermutlich in seinem Sinn geendet. Er war ein richtiger Pechvogel. So eine gute Gelegenheit würde sich so bald nicht wieder bieten. Ob Else Verdacht geschöpft hatte? Er war sich nicht sicher.

Wiebke bestand darauf, dass Else das Frühstück im Bett einnahm. Der Arzt hatte versprochen, gegen Mittag nochmals vorbei zu kommen. Wiebke kümmerte sich rührend um die Freundin. Karl erschien sie ihm gegenüber reserviert. Er fühlte sich unbehaglich in ihrer Gegenwart, zog deshalb Schuhe und Mantel an, um ein wenig durch die Stadt zu spazieren. Das sollte ihn auf andere Gedanken bringen. An einem Kiosk kaufte er Marzipan der Firma Niederegger. Das gleichnamige Café in der Fußgängerzone war leider geschlossen, so wie die meisten Läden an diesem Festtag.

Als Karl in die Wohnung zurückkehrte, hatte Else sich ein Vollbad eingelassen. Zarter Lavendelduft strömte ihm entgegen, als er das Badezimmer betrat. Es gehe ihr gut und sie wolle unbedingt zum Gospel-Konzert in den Dom. Wiebke habe sich so um die Karten bemüht, es wäre schade, wenn sie verfielen, erklärte sie ihm. Sie forderte ihn auf, sich umzuziehen, außerdem habe er eine Rasur nötig und beeilen solle er sich, weil man schon spät dran sei. Er fügte sich und schlüpfte aus dem Hemd. Else saß noch in der Wanne und spülte Shampoo aus ihrem Haar. Er seifte sich das Kinn ein. Else drehte das Wasser ab, stand auf und griff nach dem Handtuch, mit dem sie ihr Haar abrubbelte. Karl entfernte die Bartstoppel mit einem Einwegrasierer. Er hörte das Gurgeln des Wassers, als Else den Stöpsel herauszog. Er solle ihr den Fön geben, bat sie ihn. Else stand immer noch in der Wanne, das Wasser reichte ihr bis an die Waden. Karl hielt ihr das Gerät hin und schob den Stecker in die Dose. Else schaltete den Haartrockner auf die höchste Stufe, das Badewasser ging immer noch bis über ihre Knöchel. Karl setzte seine Rasur fort.

Später konnte er sich nicht mehr erinnern, was er zuerst wahrgenommen hatte – Elses spitzen Schrei, den dumpfen Aufprall ihres Körpers oder den lauten Knall, den der Kurzschluss verursacht hatte. Er verharrte wie versteinert im dunklen Badezimmer, unfähig sich zu rühren, nur seine Hände zitterten.

Wenig später öffnete sich die Tür. Wiebke rief nach Else. Karl wollte antworten, doch er brachte nur ein Krächzen zustande. Der Lichtkegel einer Taschenlampe tastete sich von der Wand über sein Gesicht bis hin zur Wanne. Else lag darin, den Kopf seltsam verdreht, den Fön auf ihrem Bauch, die Augen blicklos. Karl machte einen Schritt auf Wiebke zu. Er streckte die Hand aus. Sie schrie auf, ließ dabei die Taschenlampe fallen. Dann hörte er, wie Wiebke sich am Schloss zu schaffen machte und ehe er begriffen hatte, wie ihm geschah, war er eingesperrt.

Else war tot. Soviel war gewiss. Karl konnte es immer noch nicht fassen. Auch fühlte er keine Erleichterung. Warum hatte Wiebke die Tür versperrt? War es der Schock gewesen? Eine Handlung im Reflex?

Ganz langsam dämmerte ihm der Ernst seiner Lage. Was, wenn Wiebke seinem Bericht vom Unfallhergang keinen Glauben schenkte? Die einzige Zeugin lag reglos sie in der Badewanne und schwieg für immer.

Endlich kam Leben in Karl. Er fand die Klinke, rüttelte daran, hämmerte gegen die Tür und trat sogar dagegen. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn, seine Hände schmerzten, Panik übernahm das Kommando. Karl brauchte dringend einen Plan. Dass die Badezimmertür von außen geöffnet wurde, merkte er erst, als ihn ein Lichtstrahl in die Augen stach.

Die Polizisten waren freundlich, Karl bekam Kaffee und begann mit seiner Schilderung. Der Beamte und seine Kollegin nickten verständnisvoll, Fragen wurden gestellt, Karl entspannte sich zusehends. Er tastete nach seinen Zigaretten, wurde auf das Rauchverbot hingewiesen und gebeten, das eine oder andere Detail genauer auszuführen. Karl wurde nervös. War da Zweifel im Tonfall der Beamtin? Er begann sich zu ärgern. Wollte man ihm etwa die Schuld am Tod seiner Frau in die Schuhe schieben? Bei der dritten Wiederholung wurde er ungehalten.

Wie das Gespräch auf Elses Allergie und Katzenhaare gekommen war, war ihm entgangen. Und woher die Polizei wusste, dass seine Frau eine Scheidung erwogen hatte, konnte er nur vermuten.

Wiebke wurde in den Vernehmungsraum gebracht. Sie legte einen ihrer Romane auf den Tisch. Das Buch kam ihm bekannt vor. Wiebke tippte mit dem Zeigefinger auf das Cover. Genau so, wie sie es in ihrem Krimi beschrieben habe, sagte sie ungehalten. Eine Tierhaarallergie werde dem Opfer in ihrer Geschichte zum Verhängnis. Ohne Zweifel habe sich Karl den Plot für seine eigenen Pläne zunutze gemacht, und als das nicht funktioniert habe, habe er mit dem Fön nachgeholfen.

Nun verlor Karl endgültig die Kontrolle. Er sprang auf und fegte das Buch vom Tisch. Ob sie deppert sei, ihm so was zu unterstellen, außerdem habe er diesen Schund nicht einmal gelesen, brüllte er Wiebke in breitestem Wiener Dialekt an. Wiebke wich erschrocken zurück. Der Polizist legte Karl die Hand auf die Schulter und zwang ihn, sich wieder hinzusetzen.

Gleich darauf erschien eine junge Frau mit einer Plastiktüte, die sie der Beamtin übergab. Die Beamtin zog ein weißes Negligee aus der Tüte und hielt es Karl hin. Ob es ihm bekannt vorkomme?, wollte sie wissen. Karl verbarg das Gesicht in den Händen. Er sei unschuldig, flüsterte er.

Und sie glaube an den Weihnachtsmann, entgegnete Wiebke.

Für einen Moment hatte Karl den Eindruck, als hörte er seine tote Frau schadenfroh kichern.

Jenseits der dunkel glänzenden Fläche wirft die Ruine Hinterhaus ihre Schatten – daneben der 1000-Eimerberg, das eigentliche Wahrzeichen von Spitz. Die Kulisse ist ihr vertraut, so wie das Plätschern der Wellen, die über die Ufersteine huschen. Die Blätter der Espe zittern im Wind. Sie spürt das Pochen ihres Herzens bis in die Schläfen. Ihre Finger sind klamm. Angstschweiß klebt das Kleid an ihren Rücken. Noch wäre es Zeit, den Plan zu überdenken, der Zukunft eine andere Wendung zu geben.